| # taz.de -- Russland und seine Nachbarn: Kontinuität der Manipulation | |
| > Im Westen setzte man viele Jahre auf Dialog mit Putin. Dagegen warnten | |
| > Menschen im Baltikum schon lange vor Russlands Großmachtfantasien. | |
| Bild: Wladimir Putin in KGB-Uniform um 1980 in Sankt Petersburg | |
| „Niemand hat vor, die Ukraine anzugreifen“, sagte der russische | |
| Außenminister Sergej Lawrow am 25. Februar in einer Ansprache. Aber man | |
| müsse den „Genozid des Naziregimes“ in der Ukraine beenden. Beim Zuhören | |
| schüttelt man sich vor Fassungslosigkeit. Man möchte meinen, dass die | |
| alternativen Fakten eine hässliche Ausgeburt der Trump-Regierungszeit | |
| gewesen seien. Hier im Westen [1][schreit man reflexhaft „Huch!“] und | |
| schmeißt mit Ferndiagnosen wie „geistesgestört“, „größenwahnsinnig“… | |
| „narzisstisch“ nur so um sich. | |
| Ist ja auch irgendwie entlastend, wenn man sagen kann: Ein Verrückter, | |
| wird’s leider immer geben, kann man nix machen. Weil man dessen Strategie | |
| und Denken, das System der vertikalen Machtverteilung aber schon längst | |
| hätte kennen können, wird es schlagartig ungemütlicher im eigenen | |
| Hirnkasten. In Wirklichkeit sind Zar Putin und seine Spießgesellen nämlich | |
| einfach nur Einserschüler der alten KGB-Schule – gelernt ist gelernt. Der | |
| kleine Wladimir bewarb sich bereits, so erzählt er es selbst, als | |
| Neuntklässler bei der KGB-Zentrale im damaligen Leningrad, um Agent zu | |
| werden. Und inhalierte nach seinem Jurastudium ab 1975 sämtliche Methoden, | |
| mit denen die Sowjetunion ihren Machtbereich knapp 50 Jahre lang | |
| zusammenhielt. | |
| Für die meisten Menschen in der BRD, die weder familiäre noch | |
| freundschaftliche Beziehungen nach Osteuropa pflegen, hörte die Welt bis | |
| letzte Woche wahrscheinlich kurz hinter Polen auf. Fragt man aber die | |
| Menschen im Baltikum, dann wird man erfahren, dass man dort mit den | |
| russischen Schikanen durchaus vertraut ist – mit der Sprache, den | |
| Drohungen, der Desinformation. „Wir kennen das alles schon lange“, hatte | |
| der lettische Präsident Egils Levits kürzlich gesagt. Und [2][immer wieder | |
| hatten die Balten] vor der Bedrohung durch Putins fiebrige, imperiale | |
| Großmachtfantasien gewarnt. | |
| Hätte ich nicht zufällig zwei Staatsbürgerschaften und würde mich nicht | |
| seit einiger Zeit intensiv mit der Geschichte Lettlands befassen – ich | |
| hätte, so wie wahrscheinlich die meisten Linken hierzulande, erst mal | |
| genauso beschwichtigend reagiert: Frieden kann es nur im Dialog mit | |
| Russland geben. Seid doch nicht so paranoid, die Zeiten der Sowjetunion | |
| sind längst vorbei. In Putins Kopf allerdings sind sie es nie gewesen. | |
| ## Repatriierung des Großvaters | |
| Zwei Tage vor Putins Angriff auf die Ukraine war ich im Politischen Archiv | |
| des Auswärtigen Amtes in Berlin, um dort Dokumente über Repatriierungen, | |
| also die Rückführung von Menschen in ihr Heimatland, in die Sowjetunion | |
| einzusehen. Mein lettischer Großvater, 1944 mit der Nazi-Armee nach | |
| Deutschland gekommen, kehrte 1956 aus dem mutmaßlich etwas goldeneren | |
| Westen einigermaßen freiwillig in die bitterarme Sowjetrepublik Lettland | |
| zurück, um dort fortan in noch nicht vollumfänglich geklärter Rolle für den | |
| KGB tätig zu werden, während meine Großmutter, seine lettische Exgattin, in | |
| Deutschland blieb und als zivile Personalchefin in einem Depot der US-Army | |
| in Hessen über atomare Sprengköpfe wachte. | |
| Ich hatte gehofft, in den Archivdokumenten vielleicht einen Hinweis darauf | |
| zu finden, ob die Repatriierung meines Großvaters in der | |
| kommunistenfressenden BRD der fünfziger Jahre mit ihrer unbedingten | |
| Westbindung vielleicht irgendwo mit nervöser Wachsamkeit bemerkt worden | |
| war. Die Botschaft der Sowjetunion wurde erst nach Adenauers Besuch in | |
| Moskau 1955 eröffnet, und in allerlei diplomatischen Noten ging es | |
| vorrangig um eine Art Geiselaustausch: Deutsche Kriegsgefangene (die | |
| allesamt unbedingt in die BRD zurückkehren wollten) gegen zu repatriierende | |
| Sowjetbürger (von denen der Großteil – allen voran die Balten und die | |
| Ukrainer – ganz und gar nicht scharf auf ein Leben in der Sowjetunion | |
| waren). | |
| ## In die liebenden Arme von Mütterchen Russland | |
| Der Duktus, in dem der sowjetische Botschafter und seine | |
| Delegationsmitglieder ihre Staatsbürger*innen auch gegen deren | |
| erklärten Willen zurückforderten, glich doch frappierend der gemeinsamen | |
| Fiktion, auf die man sich bis heute in russischen Regierungsverlautbarungen | |
| verständigt hat. Und bereits 1955 wurde völlig unbelegt behauptet, dass | |
| „Menschenversuche“ an Sowjetbürger*innen in Deutschland durchgeführt | |
| würden. Von der „drückenden und rechtlosen Lage der verschleppten | |
| Sowjetbürger“ war wiederholt die Rede, denen „in Westdeutschland beständig | |
| Hindernisse in den Weg gelegt würden“, statt endlich bald wieder von | |
| Mütterchen Russland in die liebenden Arme geschlossen zu werden. | |
| Der Regierung der UdSSR seien „zahlreiche Fälle von Bedrohung und | |
| Gewaltanwendung gegenüber heimkehrwilligen Staatsbürgern bekannt“. Ihnen | |
| soll sogar „mit Ermordung gedroht“ worden sein, oder sie wurden „in | |
| Irrenanstalten eingewiesen, nur weil sie ihre Repatriierung beantragt | |
| hatten“. Auch die immer wieder bemühten Hitler-Vergleiche fanden sich schon | |
| damals zuhauf in der sowjetischen Satzbaukiste. | |
| ## Russia Today seine Mudda | |
| Nach dem Archivbesuch las ich sofort die aktuellen Nachrichten auf meinem | |
| Handy. Auch [3][die komplette Rede], die Putin am 21. Februar gehalten | |
| hatte. Und es war so unübersehbar, dass mir drinnen gerade die Vorfahren | |
| der russischen Desinformationsmaschinerie begegnet waren – quasi Russia | |
| Today seine Mudda. Putin begann seine Rede mit einer bewährten rhetorischen | |
| Kapriole aus Sowjetzeiten – dem Beleidigtsein: Auf unsere Vorschläge wurde | |
| bisher nicht eingegangen, wir fordern schon seit Jahren, bisher wurde | |
| Forderung X immer aus unverständlichen Gründen ignoriert. | |
| Fast wortgleich aus Dokumenten von 1956 übernommen. Dann ging er schnell | |
| dazu über, eine massive Bedrohung der russischen Bevölkerung zu skizzieren, | |
| sprach von „unverantwortlichen Politikern im Westen“, von „zynischem Betr… | |
| und Lüge “, von der „Schaffung eines uns feindlich gesinnten | |
| Antirusslands“. Der imperialistische Westen mit der aggressiven Nato, die | |
| dem russischen Volk nichts als Übles wollen. Von den USA, die, „um ihre | |
| Ordnung auf der Welt durchzusetzen, blutige, nicht heilende Wunden, | |
| Eiterbeulen des internationalen Terrorismus und Extremismus“ hinterließen. | |
| ## Schnell in die Falle getappt | |
| Und wenn man daraufhin denkt: Das ist ja in der Sache nicht ganz | |
| grundverkehrt – dann ist man bereits in die Falle getappt und auf dieses | |
| Narrativ eingestiegen. Dann kann im zweiten Schritt auch der abstruseste | |
| Bullshit behauptet werden, bei dem sich der geneigte Informationssuchende | |
| selbst allmählich in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit hinterfragt, denn | |
| wenn etwas mit solcher Überzeugung vorgetragen wird, dann muss da ja | |
| schließlich irgendwas dran sein. Exakt so funktioniert Gaslighting, die | |
| gezielte Täter-Opfer-Umkehr – alles aus der alten KGB-Schule, | |
| Manipulations-Meisterklasse. Und das Irre ist: Je größer und wilder die | |
| Lüge, desto mehr Menschen sind gewillt, sie zu glauben. | |
| Und wenn man nicht von selbst unter dem Dauerfeuer dieser | |
| Parallelrealitäten irgendwann einknickt, hilft ein bisschen Bedrohung | |
| ungemein, die Leute wieder auf Kurs zu bringen. Dabei stören Demokratie und | |
| freie Presse natürlich aufs Empfindlichste, denn das Mantra der Sowjetunion | |
| lautete seit jeher: Kontrolle, gut getarnt als Fürsorglichkeit. „Die | |
| Sowjetregierung erachtet es als ihre Pflicht, zum Schutze aller ihrer | |
| Bürger aufzutreten.“ So stand es in einer der diplomatischen Noten von | |
| 1956, und in genau diesem Geist des vorgeschobenen Paternalismus bezüglich | |
| der dortigen russischen Minderheit ist auch Putins territoriale | |
| Vereinnahmung sowohl der Krim als auch des Donbass zu verstehen. | |
| ## Beständige Desinformation | |
| Und auch ich bin dieser beständigen Desinformation und Verwirrungstaktik | |
| bei meiner Suche nach lettischen KGB-Akten in russischen Archiven immer | |
| wieder persönlich begegnet. „Nein, natürlich verwahren wir hier keine | |
| lettischen KGB-Akten, wie kommen Sie denn darauf? Da muss man Sie falsch | |
| informiert haben!“ Und nach der zehnten Absage von Archiven, bei denen es | |
| einigermaßen gesichert ist, dass dort sehr wohl KGB-Akten lagern, war ich | |
| auch immer mal wieder kurz geneigt, daran zu zweifeln, ob ich wirklich noch | |
| auf der richtigen Fährte bin. | |
| Putin ist also leider kein Irrer, sondern [4][ein Mann des alten | |
| Sowjetsystems, das ihn groß gemacht hat] und dessen Regeln er bis heute | |
| noch meisterhaft beherrscht. Er hat all diesen Wahnsinn nicht erfunden, nur | |
| gelernt und perfektioniert. Das wussten die ehemaligen Sowjetrepubliken | |
| schon seit Jahren. Was leider gerade nichts auch nur ein bisschen besser | |
| macht. | |
| 1 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Russische-Angriffe-auf-die-Ukraine/!5837503 | |
| [2] https://www.deutschlandfunk.de/russland-und-das-baltikum-kriegsszenarien-un… | |
| [3] /Die-Rede-des-russischen-Praesidenten/!5837271 | |
| [4] /20-Jahre-nach-dem-Ende-der-Sowjetunion/!5104698 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Kibermanis | |
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