| # taz.de -- Theaterstück „Der Hannibal-Komplex“: Der infiltrierte Staat | |
| > Das Nö-Theater rollt im Hamburger Polittbüro den Fall des rechtsextremen | |
| > Bundeswehrsoldaten Franco A. auf. Die Grundlage sind Originaltexte. | |
| Bild: Erst kommt die Wüstenuniform, dann die Propaganda: Performerinnen im St�… | |
| Adiletten sind Pflicht. Khakihose auch. Und Socken in Schwarz, in Rot und | |
| in Gelb müssen sein. Die Schauspielerinnen Asta Nechajute, Julia Knorst, | |
| und Anne K. Müller geben den deutschen Militär-Michel des 21. Jahrhunderts | |
| als Gemütsterroristen. | |
| Der verbale Frontverlauf bleibt zunächst allerdings unklar. Zwischen rechts | |
| und Recht liegt nur ein Buchstabe und wer „uns“ und „die“ sind, hängt … | |
| von Standpunkt ab. Bedeutungen geraten ins Trudeln, bis die Ambivalenz kaum | |
| noch zu überschauen ist. Dann rollt das Nö-Theater den Fall des | |
| Bundeswehrsoldaten Franco A. und seiner Beziehungen zum | |
| [1][„Hannibal“-Netzwerk] des früheren KSK-Soldaten André S. auf. | |
| Das [2][Nö-Theater], das jetzt mit seinem Stück „Der Hannibal-Komplex“ im | |
| Hamburger Polittbüro gastiert, gilt in der Kölner Theaterszene als das | |
| derzeit vielleicht politischste Ensemble. Die 2009 gegründete freie Gruppe | |
| setzte gleich mit seiner zweiten Produktion „Der Vorgang Oury Jalloh“ die | |
| inhaltlichen und ästhetischen Koordinaten seiner Theaterarbeit. Die | |
| Produktion verhandelte den [3][Tod des Asylsuchenden Oury Jalloh] 2005 in | |
| einer Zelle der Dessauer Polizei. Anlass für die Auseinandersetzung auf der | |
| Bühne bot ein Urteil des Bundesgerichtshofs im Januar 2010, das den | |
| Freispruch eines Polizeibeamten aufhob. | |
| Seitdem kreisen die Stücke des Nö Theaters beharrlich um Themen wie | |
| Rassismus, Polizeigewalt, Rechtsradikalismus, Militarismus, Proteste gegen | |
| G-7-Gipfel oder die AfD. Ungewöhnlich dabei ist, dass sich das Politische | |
| des Nö-Theaters bis in die Gruppenstruktur selbst verfolgen lässt: Nucleus | |
| der Gruppe waren zwar ursprünglich Felix Hoefner, Asta Nechajute sowie | |
| Janosch Roloff, der häufig für die Textfassungen und die Regie | |
| verantwortlich ist. Inzwischen umfasst die Gruppe etwa zehn | |
| gleichberechtigte Schauspieler:innen, die Produktion und Organisation der | |
| Stücke gemeinsam stemmen – eine basisdemokratische Organisationsform, die | |
| aber mit der inzwischen erreichten Professionalität an ihre Grenzen stößt. | |
| Die strikte Orientierung der Stücke an politischer Aktualität hängt eng mit | |
| dem dokumentarischen Zugriff auf Stoffe zusammen, der den Kern der | |
| [4][„Nö-Ästhetik“] bildet. So hat die Gruppe den Prozess gegen den frühe… | |
| Bundeswehroffizier Franco A. verfolgt, der sich eine Doppelidentität als | |
| syrischer Flüchtling zulegte. Sie haben Interviews mit | |
| Afghanistan-Veteranen, mit A.s Studienkolleg:innen und | |
| Expert:innen geführt, literarische und journalistische Quellen sowie | |
| rechtes Propaganda-Material ausgewertet. Vier Fünftel der „Hannibal“-Texte | |
| sind also Originaltexte. | |
| „Der Hannibal-Komplex“ (Text und Inszenierung: Asim Obodašić) setzt denn | |
| auch mit einem Verhör von Franco A. ein. Julia Knorst mit Offiziersjacke | |
| gibt einen naiv-leutseligen Angeklagten, der die Fragen der mit | |
| Preußenbärten, Strick- und Lederjacke ausstaffierten Polizisten oder | |
| Staatsanwälte locker kontert – oder ins Leere laufen lässt. | |
| In dieser Szene zeigt sich ein weiteres typisches Stilmittel des | |
| Nö-Theaters: Die Ironie, die gelegentlich auch die Farce streift und | |
| inhaltlich als Abwehrzauber des Unglaublichen sowie als Strategie der | |
| Entlarvung funktioniert. Wie die Polizist:innen und | |
| Staatsanwält:innen in der Szene ihre Aufgabe verfehlen, lässt sich kaum | |
| noch mit Naivität, sondern eher mit Vorsatz begründen. Mit dieser | |
| Verbindung von Humor und Recherche gelingt dem Nö-Theater das Kunststück | |
| eines ironisch-dokumentarischen Agit-Prop-Theaters, das an Traditionen | |
| eines Augusto Boal oder des Agit-Prop der 1920er-Jahre anknüpft. | |
| Das Performerinnen-Trio nimmt kurz die Prepper-Szene, also die Menschen, | |
| die sich auf einen Zusammenbruch des Staates vorbereiten, in den Blick und | |
| widmet sich dann André S.s (Tarnname: Hannibal) Netzwerk „Uniter“, das als | |
| Sammelbecken für Polizisten, Elitesoldaten und Personenschützer dient. Asta | |
| Nechajute, Julia Knorst, und Anne K. Müller werfen sich in Wüstenuniformen, | |
| ziehen Stacheldraht über die Bühne und fuchteln kräftig mit Waffen herum. | |
| Dabei zitieren die drei sarkastisch aus einem Werbevideo von Uniter und | |
| legen damit dessen Strategien als rechtes Propagandanetzwerk offen. | |
| Gleichzeitig wird der frauenfeindliche und toxische Maskulinismus der | |
| Rechten gnadenlos durch den Kakao gezogen. | |
| Dabei belässt es das Nö-Theater allerdings nicht, sondern enthüllt die | |
| Verbindungen von Uniter, nicht nur ins Umfeld des Bundeswehrsoldaten Franco | |
| A., zur rechtsradikalen Chatgruppe „Nordkreuz“ oder zum NSU, sondern auch | |
| zur Bundeswehr, dem Bundeskriminalamt, dem Militärischen Abschirmdienst und | |
| dem Verfassungsschutz. So arbeitete einer der Gründer von Uniter für den | |
| Verfassungsschutz. Der Übergang zwischen rechtsterroristischen Gruppen und | |
| staatlichen Strukturen wird fließend – genau darin liegt das | |
| Ungeheuerliche. | |
| Plötzlich gewinnt die zu Beginn der Aufführung zelebrierte Verflüssigung | |
| von Begriffsbedeutungen einen zusätzlichen Sinn. Sie verliert ihre | |
| spielerische Manier und konkretisiert sich im Politischen selbst. | |
| Staatsbeamter und Terrorist können in einer Person zusammenfallen. Die | |
| Camouflage des Bundeswehrsoldaten Franco A. als anerkannter Asylbewerber, | |
| seine Doppelidentität erscheint als Norm. Damit zerfällt zugleich die bis | |
| zum Überdruss breitgetretene These vom Einzeltäter als beschwichtigende | |
| Strategie von Justiz und Politik. Selten fühlte man sich derart | |
| unterhaltsam und intelligent agitiert wie im „Hannibal Komplex“ des | |
| Nö-Theaters. | |
| 28 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Hans-Christoph Zimmermann | |
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