# taz.de -- Einsames Sterben im Krankenhaus: Singend fuhr er in die Klinik | |
> Ein Familienvater wird operiert. Wegen der Pandemie darf seine Familie | |
> nicht zu ihm. Der Mann stirbt – und seine Tochter quälen nun schmerzvolle | |
> Fragen. | |
Bild: Sein Leben lang war der Vater unserer Autorin der starke Mann, der immer … | |
Es ist ein Dienstagabend im Januar, ich spreche gerade mit einem Freund, | |
als meine Mutter bei mir anruft. Ich überlege, ob ich drangehen soll, und | |
entscheide mich dagegen. Ich bin müde und gerade mit mir selbst | |
beschäftigt. Außerdem: Was soll schon sein? | |
Am nächsten Tag ruft mein Bruder an. Er war mal Rettungssanitäter, | |
vermutlich klingt seine Stimme deshalb so ruhig und professionell. Er sagt: | |
„Der Senior ist heute Morgen bewusstlos in seinem Krankenhauszimmer | |
aufgefunden worden.“ Ein Rettungsteam habe ihn reanimieren müssen und ihn | |
vorübergehend in ein künstliches Koma versetzt. Am Nachmittag werde man | |
versuchen, ihn „zurückzuholen“. Während mein Bruder spricht, weine ich los | |
wie ein kleines Kind. „Nein, nein, nein“, höre ich mich immer wieder sagen. | |
Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert. | |
Kurz vor Weihnachten hatte eine Ärztin einen Tumor in der Lunge meines | |
Vaters entdeckt. Das Geschwulst war bösartig, aber ziemlich klein, gut | |
abgekapselt und hatte nicht gestreut. Man entschied, es herauszunehmen. | |
„Aber er hat die OP doch gut überstanden!“, sage ich nach der schrecklichen | |
Nachricht meines Bruders zu meiner Schwester. Und sie sagt einen Satz, der | |
mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht: „Ich darf gar nicht darüber | |
nachdenken, wie alleine er die letzten Tage gewesen ist.“ | |
Denn wegen Corona gilt in dem Krankenhaus, in dem mein Vater operiert | |
wurde, seit Monaten [1][ein Besuchsverbot]. Nach Absprache seien für | |
Angehörige von Schwerkranken und Sterbenden Ausnahmen möglich, lese ich nun | |
– nachträglich – auf der Klinikhomepage. Ob diese Ausnahmeregelung auch | |
schon existiert hat, als mein Vater seinen Klinikaufenthalt vorbereitete, | |
kann ich nicht sagen. Ebenso wenig, ob sie auf ihn zugetroffen hätte. | |
Sicher ist allein dies: Mein Vater ging nicht als Sterbender ins | |
Krankenhaus. Sondern als ein Patient, auf den ein geplanter Eingriff zukam. | |
Hat mein Vater die Ärzte ab einem bestimmten Zeitpunkt gefragt, ob wir ihn | |
vielleicht doch besuchen können? Ist ihm diese Bitte verwehrt worden? Oder | |
hat er sich erst gar nicht nach einer möglichen Ausnahme von der strengen | |
Regel erkundigt? Inzwischen weiß ich: Zu meiner Mutter hat er gesagt, wie | |
furchtbar er es finde, ins Krankenhaus zu müssen und dort nicht besucht | |
werden zu können. | |
## „Kein Grund zur Panik“, war sein Motto | |
Mein Vater war 67, als er starb, und schon lange sehr krank. Für uns, seine | |
Familie, fing es damit an, dass er meiner Mutter eines Tages eine Packung | |
Herztabletten auf den Tisch legte. Die müsse er jetzt nehmen, sagte er. | |
„Kein Grund zur Panik.“ Drei Jahre ist das her. Seitdem ging es mit seiner | |
Gesundheit bergab. | |
Ich erinnere mich noch, wie mein einst so großer und starker Vater nach | |
einem Streit mit mir plötzlich in sich zusammengesunken auf der Terrasse | |
saß und in sein Bierglas starrte. Seine Schultern hingen nach vorne. Es sah | |
so aus, als ob unser Wortgefecht ihm die letzte Kraft aus seinem Körper | |
gezogen hätte. Nie zuvor hatte ich ihn so schwach gesehen. | |
Ich will mir gar nicht ausmalen, wie hilflos er sich gefühlt haben muss, | |
als ihm, der so gerne im Discounter Schnäppchen machte, nun manchmal sogar | |
der Einkaufskorb zu schwer wurde. Dann kam Corona und machte meinen Vater, | |
den Juristen, der doch eigentlich immer alles im Griff hatte, von einem Tag | |
auf den anderen zum Risikofall. Statt seine Mandanten zu treffen und mit | |
ihnen über Scheidungen oder Strafsachen zu sprechen, war er zum | |
Telefonieren, Herumsitzen und Tablettenschlucken verdammt. Das Kortison | |
schwemmte sein Gesicht so sehr auf, dass ich ihn manchmal kaum noch | |
wiedererkannte, und ließ ihn oft so lange schlafen, dass meine Mutter sich | |
jeden Morgen erst einmal bang vergewisserte, ob er noch lebte. | |
Ich erinnere mich auch daran, wie wir an einem Sommertag in einem | |
Biergarten saßen und ein Paar im Alter meiner Eltern hereinspazierte. Sie | |
war so fit wie meine Mutter, er sehr schlecht zu Fuß. Mein Vater sagte, er | |
habe Angst, auch so zu enden. Erst ein paar Tage zuvor war er bei einer | |
Wanderung immer weiter hinter uns zurückgefallen. Ein an seiner | |
körperlichen Verfassung zunehmend verzweifelnder Mann. | |
Ein paar Monate später erlitt er einen Schwächeanfall. Ein Rettungswagen | |
brachte ihn ins Krankenhaus, und die vermeintlichen Herzprobleme erwiesen | |
sich bei näherer Untersuchung als eine Lungenfibrose. Durch die | |
fortschreitende Vernarbung des Gewebes fiel ihm das Atmen schwerer. | |
Ich kenne niemanden, der so viel geraucht hat wie mein Vater. Als er nach | |
25 Jahren endlich damit aufhörte, kaute er ein Kaugummi nach dem anderen. | |
Erst Nikotinkaugummis, später die billigen Pfefferminzkaugummis von Lidl. | |
Bald klebten sie unter jedem Tellerrand, auf Tischplatten, Bierdeckeln, | |
Kopfkissen. In seinem Auto standen immer zwei Dosen, eine mit frischen und | |
eine mit verbrauchten Kaugummis, wie mein Bruder eines Tages entsetzt | |
feststellte, nachdem er sich beinahe eines aus der falschen Dose in den | |
Mund geschoben hätte. | |
Ob das Rauchen der Auslöser für die Fibrose gewesen ist oder etwas anderes, | |
weiß niemand. Fest steht: Mein Vater hat sich während seines Lebens nicht | |
geschont und war meist mehr für andere da als für sich selbst. Das | |
Männerbild seiner Generation steckte ihm in den Knochen: Er war derjenige, | |
der anderen sagte, wo es langging, und er stand einem selbst dann mit Rat | |
und Tat zur Seite, wenn man ihn gar nicht darum gebeten hatte. Als er | |
selber Hilfe brauchte, zog er sich zurück, ließ niemanden an sich heran. | |
## Mit einer Reisetasche verschwand er durch die Drehtür | |
Ich war für ihn die Frau mit der lila Tinte im Füller, weil ich mich mit | |
Feminismus beschäftige. Wären wir uns als Gleichaltrige begegnet, hätten | |
wir vermutlich unsere Schwierigkeiten miteinander gehabt. Als Vater und | |
Tochter aber haben wir uns sehr geliebt. Dass er jetzt für immer weg ist, | |
ist auch deshalb so schwer zu ertragen, weil er seine letzten Tage ohne | |
Familie und Freunde an einem Ort verbringen musste, der ihm wohl mehr Angst | |
gemacht hat als alles andere auf der Welt. | |
Natürlich frage ich mich heute, ob die Operation bei seiner vorgeschädigten | |
Lunge wirklich hätte sein müssen. „Er selbst hat das nicht hinterfragt“ �… | |
so erzählt es meine Mutter. Noch zwei, drei gute Jahre habe er sich | |
gewünscht, in denen er seine Enkelkinder weiter aufwachsen sehen wollte. | |
„Zum Glück war Charlotte mit im Auto, als ich ihn in die Klinik gebracht | |
habe“, sagt meine Mutter. Charlotte ist meine einjährige Nichte. Auf der | |
Fahrt ins Krankenhaus hörten sie Kinderlieder, und mein Vater, der auf der | |
Rückbank saß, beugte sich nach vorne, in Richtung Kindersitz, und sang mit. | |
Dann stieg er aus, gab beiden einen Kuss. Meine Mutter und Charlotte sahen | |
ihm nach, wie er mit seiner Reisetasche durch die Drehtür des riesigen | |
Betonbaus verschwand. | |
Seine letzten Tage zu Hause war mein Vater mit der Rationalität eines | |
Juristen angegangen. Selbst über die Weihnachtstage, auf die er sich so | |
gefreut hatte, weil wir da alle zusammenkamen, zog er sich in sein | |
Arbeitszimmer zurück – um die Steuererklärung fertigzumachen. Er sagte zu | |
mir: „Ich will vor der OP einfach alles erledigt haben, damit eure Mutter | |
im Fall der Fälle nicht allein dasteht.“ | |
Typisch Papa, dachte ich und schob das aufkommende panische Gefühl | |
beiseite. Es ist doch nur ein minimalinvasiver Eingriff, beruhigte ich | |
mich. | |
Zum Selbstverständnis meines Vaters gehörte aber auch, dass ihn niemand zum | |
Arzt begleiten durfte. Nur er selbst wusste schließlich, wie es wirklich um | |
ihn stand. | |
## WLAN und Wunschdenken am Krankenbett | |
Die OP sollte in den frühen Morgenstunden stattfinden. Das war alles, was | |
wir, seine Familie, die nicht bei ihm sein konnten, wussten. Danach ließ | |
man uns warten: eine Stunde. Zwei Stunden. Es wurde Mittag. Nachmittag. Als | |
sich endlich jemand bei meiner Mutter meldete, mit der Nachricht, dass | |
alles gut verlaufen sei, war es draußen schon dunkel geworden. | |
Auch in den kommenden Tagen blieb uns nichts anderes übrig, als auf die | |
seltenen Anrufe meines Vaters zu hoffen. Im Nachhinein kommen sie mir | |
beinahe absurd vor. So ging es ihm in den ersten Gesprächen vor allem | |
darum, dass wir ihm bei der Einrichtung seines WLAN-Zugangs helfen, damit | |
er störungsfrei Fußball gucken konnte. Ich weiß noch, wie meine Schwester | |
und ich darüber lachten. „Dann ist das Schlimmste wohl überstanden.“ | |
Doch das war Wunschdenken, vermutlich auch bei ihm. Schon kurz nach dem | |
Eingriff gab er sich alle Mühe, sich mit einem Rollator von einem Ende des | |
Stationsflurs zum anderen zu schleppen. Meiner Mutter verriet er am | |
Telefon, wie erschöpft er nach diesem einen Gang war. Er wollte, koste es, | |
was es wollte, entlassen werden. Raus aus diesem schrecklichen Gebäude, | |
nach Hause zu seiner Familie. Ein kühles Bier in seinem Arbeitszimmer | |
trinken, das wir aus Spaß Kommandozentrale getauft hatten. Mit seinen | |
Enkelkindern Quatsch machen. | |
Spätestens bei meinem letzten Telefonat mit ihm hätte ich hellhörig werden | |
müssen. Es dauerte nur 21 Sekunden. Nie hatte er gerne telefoniert. Aber 21 | |
Sekunden waren selbst für ihn ein Kurzzeitrekord. | |
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Es kam eine Nacht, in der er | |
halluziniert hatte, wie er meiner Mutter später am Telefon erzählte. Wieder | |
und wieder rief er am nächsten Tag bei ihr an, und seine Stimme wurde von | |
Gespräch zu Gespräch schwächer. | |
In einer anderen Zeit, jenseits der Pandemie, wenn Besuche möglich gewesen | |
wären, hätte ich, hätten wir alle in so einer Situation alles stehen und | |
liegen gelassen und wären zu ihm gefahren. Doch in dem Krankenhaus, in dem | |
mein Vater lag, kamen wir nicht mehr an ihn ran. | |
Oder mache ich es mir damit zu einfach? Waren wir zu unbedarft? Hätten wir | |
dieses Besuchsverbot viel stärker hinterfragen müssen? | |
Ob man uns erhört hätte, ist noch mal eine andere Frage. | |
An dem Tag, an dem er sich so schwach und schon so oft bei meiner Mutter | |
gemeldet hatte, kam spätabends ein weiterer Anruf: Es gehe ihm sehr | |
schlecht, flüsterte mein Vater. Meine Mutter solle bei meiner Tante | |
anrufen, die Ärztin ist. Also klingelte meine Mutter meine Tante heraus, | |
die wiederum bei meinem Vater anrief und aufgrund des Klangs seiner Stimme | |
entschied, dass er sofort auf die Intensivstation müsse. Meine Tante | |
telefonierte daraufhin mit einem befreundeten Kollegen, der in dem | |
Krankenhaus arbeitet, in dem mein Vater lag, und der seine Kolleg:innen | |
einschaltete, die meinen Vater noch einmal untersuchten. Sie entschieden, | |
dass er trotz Fibrose, Lungen-OP und schwachem Herzen auf der Normalstation | |
verbleiben sollte. | |
Später erzählte uns der Intensivarzt, der meinen Vater am nächsten Morgen | |
reanimiert hatte, dass dieser noch selbst die Notklingel gedrückt habe. | |
Doch da war es bereits zu spät. Obwohl er noch einmal wiederbelebt werden | |
konnte, waren seine Organe zu stark geschädigt. Die lebenserhaltenden | |
Maßnahmen wurden eingestellt. | |
Was bleibt? | |
Große Traurigkeit. | |
Und auch Wut. | |
Letzten Endes durften wir meinen Vater dann doch besuchen: Als er ohne | |
Bewusstsein auf der Intensivstation vor sich hindämmerte, war es plötzlich | |
möglich, zu fünft an seinem Bett zu sitzen und seine Hand zu halten – bis | |
er starb. Ich hoffe, dass er ein klein wenig gespürt hat, dass er dabei | |
dann doch nicht alleine war. | |
Als wir nach seinem Tod noch einmal mit der Klinik telefonierten, hieß es, | |
dass wir gerne bei Gelegenheit in der Station vorbeikommen könnten. Man | |
würde uns dort dann seine Reisetasche übergeben. | |
20 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anna Fastabend | |
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