# taz.de -- Wandel im Lokaljournalismus: Wo Politik konkret wird | |
> Lokaljournalismus steckt in der Krise, mit gravierenden Folgen für | |
> Politik und Gesellschaft. Lösungsansätze lassen derweil auf sich warten. | |
Bild: Suchbild mit Brüssel, Klimawandel und großer Politik | |
KIEL taz | Das ganze Dorf war versammelt an jenem Abend im örtlichen | |
Gasthof. Alte und Jüngere saßen mit verschränkten Armen auf den | |
Holzstühlen, es fiel kaum ein Wort. In der Mitte saß, umgeben von | |
Aktenordnern und scheinbar ungerührt, ein weißhaariger Mann. In dem | |
nordfriesischen Dorf sollten Flächen für Windräder ausgewiesen werden, und | |
weil jedes Mitglied des Gemeinderats Land besaß, galten sie alle als | |
befangen. So hatte die Kommunalaufsicht sie durch einen pensionierten | |
Verwaltungsangestellten ersetzt. „Ich bin anwesend, ich öffne die Sitzung“, | |
sagte der, und ich schrieb mit. | |
Diese bizarre Gemeindevertretersitzung gehört zu meinen persönlichen | |
[1][lokaljournalistischen] Sternstunden. Nah dran zu sein am Geschehen, der | |
Politik über die Schulter zu schauen – das zeichnet guten Journalismus aus, | |
egal ob in Brüssel, Berlin oder in Nordfriesland. Im Lokalen wird Politik | |
am deutlichsten spürbar und oft überhaupt erst konkret: Wenn die EU ihre | |
Förderrichtlinien oder die Bundesregierung ein Gesetz ändert, werden in den | |
Dörfern Gemeindehäuser, Radwege oder eben Windräder gebaut. Guter | |
Lokaljournalismus zeigt solche Entwicklungen und lässt alle Seiten zu Wort | |
kommen. | |
Ja, die meisten Gemeindevertretersitzungen sind langweilig, und viele | |
Lokalzeitungstexte sind es auch. Und die Nähe zwischen Journalismus und | |
Politik kann auch zum Verhängnis werden: Man kennt sich, man schont sich. | |
Zudem sorgt finanzielle Abhängigkeit von lokalen Anzeigenkunden für eine | |
unangebrachte Beißhemmung. Und die Berichte von Vereinsfeiern, | |
Feuerwehrbällen und die Übergabe von handtuchgroßen Schecks sind grottenöde | |
für alle, die nicht im Artikel erwähnt werden. Doch auch dieses | |
nachrichtliche Grundrauschen gehört dazu, und gute Lokalredaktionen kriegen | |
den Mix aus Terminberichterstattung und anderen Texten hin. | |
Oder besser: Sie haben es mal hingekriegt. Denn dass Zeitungen, erst recht | |
gedruckte, die wichtigste Plattform für Informationsaustausch sind, ist | |
lange vorbei. Von den Reichweiten sozialer Medien und vor allem deren | |
Geschwindigkeiten träumen die Zeitungen nicht einmal. Die meisten versuchen | |
bloß noch, im Internetzeitalter zu überleben. | |
## Print ist immer noch die „Cashcow“ | |
Weil die Zeitungen anfangs ihre Texte kostenlos im Netz veröffentlichten, | |
wuchsen ganze Generationen von Leser*innen heran, denen das Bewusstsein | |
dafür fehlt, dass Artikel und Bilder einen Wert haben. „Schicken Sie mir | |
mal Ihre Fotos“, ist einer der Sätze, die Fotograf*innen bei Terminen | |
ständig zu hören bekommen. Der zarte Hinweis, dass man hauptberuflich | |
unterwegs ist und daher auch bezahlt werden möchte, gilt dann fast als | |
unverschämt. | |
Auch für die Verlage ist der Versuch, auf Bezahlmodelle umzusteuern, nicht | |
einfach. Die taz versucht es gar nicht erst. Sie hat sich entschlossen, | |
alle Texte weiter kostenlos ins Internet zu stellen, auch um Menschen, die | |
wenig Geld haben, einen Zugang zu Informationen zu bieten. Allerdings | |
bittet die Redaktion um freiwillige Spenden. [2][Dieses Bezahlmodell] läuft | |
überraschend gut, bereits über 32.000 Menschen machen mit. Aktuell steckt | |
die taz in einem Transformationsprozess von Print zu Digital. | |
Für die Leser*innen der Regionalteile in Berlin und Norden zeigt sich | |
dieser Prozess unter anderem an der Wochenendbeilage StadtLand. Bis zum | |
Herbst 2021 produzierten beide Lokalredaktionen jeweils mehrere Seiten in | |
der Wochenendausgabe. Jetzt haben sie sich zusammengetan. Und auch wenn | |
beide Redaktionen Woche für Woche viel Energie ins StadtLand stecken, | |
bleibt die Tatsache, dass die Zahl der Lokalseiten in der taz gesunken ist. | |
Die Entwicklung geht eindeutig in Richtung Digital: Print sei immer noch | |
die „Cashcow“, so Bascha Mika, ehemals taz-Chefredakteurin, später zur | |
Frankfurter Rundschau gewechselt. 2019 führte sie im Deutschlandfunk das | |
Bild weiter aus: Print sei „eine alte Kuh, in die Jahre gekommen, nicht | |
mehr so ganz fit. Aber sie gibt immer noch Milch.“ Daneben steht das | |
Digitale als „Kälbchen, das wir seit Mitte der 90er Jahre versuchen zu | |
päppeln, und es gibt immer noch keine Milch.“ | |
Um das digitale Kälbchen schließlich doch zu melken, haben die meisten | |
Zeitungen in Deutschland inzwischen Bezahlschranken errichtet. Obwohl | |
zuletzt – auch verursacht durch das größere Interesse an Nachrichten dank | |
der Coronapandemie – der Auflagenschwund langsamer verlief, bleibt es beim | |
Abwärtstrend. Die „üppigen Profitraten von 10, 15 oder gar 20 Prozent“, | |
früher laut Deutschlandfunk „der Normalfall im Zeitungsgeschäft“, sind | |
Geschichte. Auf die sinkenden Umsätze reagieren die Verlage mit | |
Sparmaßnahmen. Sie betreffen den größten Kostenposten: das Personal in den | |
Redaktionen. | |
## Das liebe Geld | |
Durch Entlassungswellen und Stellenstreichungen hat sich Journalismus zu | |
einer Branche von Selbstständigen entwickelt, von denen die meisten | |
unterdurchschnittlich verdienen. Bei Tageszeitungen tätige Freie erhalten | |
im Schnitt 1.395 Euro brutto im Monat, rund 16.740 Euro im Jahr, ergab | |
[3][eine Umfrage des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV)] aus dem Jahr | |
2014. Wer angestellt ist, hat oft Verträge, die schlechter sind als in | |
besseren Zeiten verhandelte Tarife – an die sich die taz übrigens nie | |
gehalten hat. | |
Die schlechte Bezahlung macht den Beruf unattraktiver. Das gilt besonders | |
für die Lokalredaktionen, in denen wenige Personen immer mehr Aufgaben | |
schultern müssen. Neben der Printausgabe muss selbstverständlich das | |
Internet regelmäßig gefüttert werden, und die Zahl der Freien sinkt. | |
Schüler*innen, die früher freiberuflich erste Zeitungspraxis sammelten, | |
tummeln sich heute auf Insta oder Tiktok. | |
Ein Teufelskreis: Sinkt die Qualität, sinken auch die Auflagen. Es folgen | |
weitere Konzentrations- und Sparrunden. Ein Mittel, um Gehälter zu drücken, | |
sind Tochterfirmen. Ein Beispiel ist das Redaktionsnetzwerk Deutschland | |
(RDN), das zum Madsack-Konzern mit Sitz in Hannover gehört. Das RND – | |
interner Spottname: Reichsnachrichtendienst – gehört laut eigener Website | |
zu den „größten und meistzitierten Mediennetzwerken Deutschlands“. Dennoch | |
war es „nie tarifgebunden“, kritisieren DJV und die Deutsche Journalisten | |
Union (dju). Das Pikante daran: Über die Deutsche Druck- und | |
Verlagsgesellschaft (ddvg) ist die SPD, die Tarifflucht ablehnt, am | |
Madsack-Konzern beteiligt. | |
Die Zeitungskonzentration betrifft die Freien, die früher mehrere Zeitungen | |
beliefern konnten. Sie betrifft aber vor allem eine Gesellschaft, die mit | |
dem Verlust von selbstständigen Redaktionen Stimmen im Debattenkonzert | |
verliert – die auch Politik, Kultur, NGOs und anderen fehlen. Bei | |
Pressekonferenzen auf Landesebene sitzen immer weniger Journalist*innen | |
– und auf lokaler Ebene werden Termine, die sich nicht gut klicken, oft gar | |
nicht mehr besucht. | |
## Es geht um alle und alles | |
Egal? Nein, es ist dramatisch. Denn was der Bundeskanzler und der | |
US-Präsident so machen, kriegt jeder von uns in Echtzeit mit. Was in meiner | |
Gemeinde passiert, kann mir nur ein lokales Medium liefern und einordnen. | |
„Medien sind ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Ausschlaggebend ist dabei | |
die Vielfalt der Angebote und Anbieter. Diese Vielfalt ist heute wichtiger | |
denn je“, heißt es in einer Stellungnahme der Landesregierung | |
Schleswig-Holstein zur Lage der Medien im Land. Besorgniserregend seien | |
auch die Schmäh- und Hasskampagnen im Netz, Angriffe gegen | |
Journalist*innen sowie „ein deutlicher Anstieg des Misstrauens | |
gegenüber professioneller Medienberichterstattung“, so Monika Grütters | |
(CDU), Medien-Staatssekretärin der vorherigen Bundesregierung. | |
Doch wie kann Lokaljournalismus künftig aussehen, vor allem: Wie wird er | |
bezahlt? Seit Jahren wird über Formate und lokale Portale jenseits der | |
klassischen Verlage nachgedacht, mehrere Projekte sind gestartet – mit mehr | |
oder weniger Erfolg. Denn gerade im Lokalen ist die Zahl der möglichen | |
Leser*innen meist zu gering, um eine Internetzeitung allein über Abos | |
oder Spenden zu finanzieren. | |
Noch bis 2023 läuft [4][ein Förderprogramm der Bundesregierung], das eine | |
„strukturelle Stärkung des Journalismus“ bewirken und neue Wege eröffnen | |
soll. Direkthilfen sind aufgrund der gebotenen Staatsferne in Deutschland | |
verpönt, in Dänemark dagegen fördert der Staat die Presse direkt und will | |
die Hilfe noch ausweiten. Geld könnte aus einer Kulturabgabe kommen, die | |
Streamingdienste zahlen sollen. | |
In England finanziert der öffentlich-rechtliche Sender BBC Stellen in | |
Lokalzeitungen, um die Redaktionen zu stärken. Eine Idee aus der Schweiz | |
ist eine gemeinsame Plattform mit technischer Infrastruktur, um | |
Medien-Start-ups die Arbeit zu erleichtern. Dafür könnte es eine | |
Finanzierung aus Stiftungen oder der öffentlichen Hand geben. | |
Keine dieser Ideen ist ein Königsweg, aber es ist wichtig, weiter nach | |
einer Lösung zu suchen. Denn gesellschaftlicher Austausch ist eben vor | |
allem wichtig, wo das Leben spielt, und das sind nicht nur die Zentren, | |
sondern auch die kleinen Orte, wo Blätter wie die Schaumburger Nachrichten | |
oder die Glückstädter Fortuna erscheinen. | |
Dort gibt es manchmal auch unerwartete Happy Ends: Jenes zerstrittene | |
nordfriesische Dorf einigte sich, einen Bürgerwindpark zu gründen, so dass | |
alle von den Mühlen profitieren konnten. Und die Zeitung berichtete | |
darüber. | |
22 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Der-Newsroom-von-morgen/!5833649 | |
[2] /zahl-ich/!p4697/ | |
[3] https://www.djv.de/fileadmin/user_upload/Freiendateien/Freie-Hintergrund/Zw… | |
[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/sta… | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Presse | |
Lokaljournalismus | |
GNS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Medienwandel | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Der Newsroom von morgen: Alles neu im Alten Land | |
Das „Stader Tageblatt“ will seinen Lokaljournalismus ins Digitale | |
überführen. Machen soll das der neue Chefredakteur Arno Schupp. | |
Reform der dänischen Medienförderung: Geldsegen für Redaktionen | |
Dänemarks Regierung will den Lokaljournalismus stärker subventionieren. | |
Außerdem sollen Streamingdienste wie Netflix eine Kulturabgabe zahlen. | |
Journalistischer Zukunftsblick: Mediale Neujahrsvorsätze | |
Neues Personal, große Versprechen – und nach wie vor jede Menge Krise. Was | |
2022 medienpolitisch zu erwarten ist. |