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# taz.de -- Proteste der „Letzten Generation“: Zeit für Notwehr?
> Die Gruppe „Aufstand der letzten Generation“ sorgt mit Straßenblockaden
> für Aufregung. Die Diskussion über deren Legitimität ist in vollem Gange.
Bild: „Letzte Generation“-Protest am Montag in Berlin
Meistens ist es ziemlich einfach: Sie laufen bei Rot auf die Straße und
gehen nicht mehr runter. Keine große Sache eigentlich. Aber kein Auto kommt
mehr durch. Was ist das für eine Gruppe, die sich „Aufstand der letzten
Generation“ nennt und über die sich gerade alle aufregen?
Gegen den Berufsverkehr, den sie blockieren, haben die Aufständischen erst
einmal nicht viel. Sie wollen ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung.
Und weiter noch eine Politik gegen den Klimakollaps. Darauf bezieht sich
auch der Name der Gruppe. Sie sieht sich als Teil der letzten Generation,
die noch etwas bewirken kann, bevor die Menschheit durch die Klimakrise
völlig ihrem Untergang geweiht ist.
Aus dieser Dringlichkeit heraus haben die Aktivist:innen ihre
Aktionsform gewählt. Sie wollen Druck machen, sodass es wehtut. Eine
Massenbewegung ist der „Aufstand“ allerdings nicht gerade. Pro Aktion sind
es vielleicht ein, zwei, drei Dutzend. Die kommen aber eben immer wieder.
Die Polizei steckt Aktivist:innen in Gewahrsam, entlässt sie, sie
kommen wieder. Angefangen haben sie in Berlin, weitere Aktionen gibt es in
Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart und München.
Und plötzlich liefert eine Gruppe mit zweistelliger Mitgliederzahl die
Gesichter der Klimabewegung in Deutschland. Es ist nicht die Zeit für große
Demos, auch aus Infektionsschutzgründen. Fridays for Future haben zwar für
Ende März den nächsten globalen Klimastreik angemeldet. Ob sich aber wie
2019 irgendwann wieder jeden Freitag die Marktplätze mit Schulstreikenden
füllen, die eine lebenswerte Zukunft für sich einfordern, steht in den
Sternen.
Die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ sorgen für Empörung, auch
wenn die Polizei sie jeweils recht schnell auflöst. Es kursieren Videos, in
denen Autofahrer:innen die Aktivist:innen beschimpfen, in
Selbstjustiz eigenhändig von der Straße schleifen. In einem Fall schlägt
ein hysterisch brüllender Mann einer Aktivistin gar ins Gesicht. Auch in
der Politik stoßen die Aktionen nicht unbedingt auf Gegenliebe.
„Unangemeldete Demos auf Autobahnen sind und bleiben rechtswidrig“,
twitterte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).
Und nachdem Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) diese Woche zivilen
Ungehorsam in einer Diskussionsrunde zunächst „absolut legitim“ genannt
hatte, sprang sie Buschmann auf Twitter bei: „Alle, die darauf warten, dass
es endlich einen saftigen Koalitionskrach geben möge, enttäusche ich jetzt
mal“, schrieb sie. „Ich stimme mit meinem Kollegen Marco Buschmann
überein.“ Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (auch Grüne), der von
Amts wegen für Fragen der Ernährung zuständig ist, [1][sagte in der taz
bereits], „dass Straßenblockaden unserem gemeinsamen Ziel schaden“.
Noch ein Gesicht der Klimabewegung in der Öffentlichkeit ist derzeit Tadzio
Müller. Er gehört keiner bestimmten Organisation mehr an, war aber
Mitgründer der Gruppe „Ende Gelände“ und Klimagerechtigkeitsreferent für
die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Selbst Blockaden wie die der „Letzten
Generation“ gehen ihm nicht mehr weit genug.
Müller empfiehlt der Bewegung die Erweiterung ihrer Aktionsformen: Fossile
Infrastruktur zerstören, ohne Menschen zu gefährden. „Friedliche Sabotage“
hat er das schon in zahlreichen Interviews genannt, in der taz, im Spiegel,
zuletzt auf dem „Heißen Stuhl“ bei Stern TV. „Alles andere hat nichts od…
nicht genug gebracht“, argumentiert er. „Und wenn man merkt, eine Strategie
funktioniert nicht, dann ist es doch Quatsch, immer wieder dasselbe zu
machen.“
Was Müller vorschlägt, ist im Kleinen schon Realität. Anonyme ließen in
mehreren Städten Luft aus SUV-Reifen und hinterließen klimapolitische
Botschaften an den Autos sowie auf der Online-Plattform Indymedia. Dort
wurde kurz zuvor ein Bekennerschreiben publiziert, in dem anonyme Personen
behaupten, für das Klima auf dem Gelände des Lausitzer Kohlekonzerns Bagger
und andere Gerätschaften beschädigt zu haben. „Polizei und LKA ermitteln“,
bestätigte ein Unternehmenssprecher der taz. Ist das nur die
Radikalisierung einer Nische oder treiben diese Aktivist:innen als
Pioniere die Klimabewegung vor sich her?
## Gewalt gegen Gegenstände
Wenn man Tadzio Müller fragt, ob friedliche Sabotage nicht ein Widerspruch
in sich sei, redet er sich schnell in Rage. „Natürlich ist das friedlich,
wie soll man denn Gegenständen Gewalt antun? Die haben keine Seele und kein
Schmerzempfinden“, meint er. „Da von Gewalt zu sprechen, ist absurd.“
Das sieht die Philosophin Eva von Redecker anders. Die Wissenschaftlerin,
die sich unter anderem mit Fragen des Eigentums und des sozialen Wandels
beschäftigt, meint: „Ich würde sogar sagen, dass unsere gesamte Lebensweise
auf Gewalt gegenüber Sachen begründet ist.“ Sie führt die Ausbeutung der
Natur als Beispiel an, die weitaus größere Gewalt natürlich, die in vielen
Fällen auch noch legal ist.
Vor zwei Jahren ist von Redeckers Buch „Revolution für das Leben“
erschienen, in dem sie sich auch mit der Klimabewegung auseinandersetzt.
„Ich würde die aktuelle Diskussion leider eher als Zeichen der Schwäche der
Bewegung werten“, sagt sie. „Die Kapazität zur Mobilisierung und
Massenbegeisterung hat sich reduziert, zum einen durch die Pandemie, aber
auch durch ausbleibende politische Erfolge, Repressionsmaßnahmen und
Erschöpfung im neoliberalen Alltag.“
Es stelle sich eine Art Wille der Verzweiflung ein, der zu der Überzeugung
führe, die Bewegung müsse drastischer, militanter und effektiver werden,
meint von Redecker. Grundsätzlich überzeuge es sie zwar nicht, dass man zur
Bekämpfung von größerer Gewalt auch selbst gewalttätig sein dürfe. Aber:
„Wenn man denkt, dass Militanz jemals in der Geschichte ethisch
gerechtfertigt war, dann sind es auch diese Proteste.“
Von Notwehr spricht Tadzio Müller. Ob diese Argumentation vor Gericht
Bestand hat? Die Lage ist kompliziert: Juristisch gesehen setzt Notwehr
eigentlich voraus, dass man einem Verbrechen ausgesetzt ist. Nun kann man
die Verursachung der Klimakrise für ein solches halten, die nötigen
Genehmigungen vorausgesetzt ist es derzeit aber legal, dass Autos fahren
und Kohlebagger baggern. Erkundigt man sich bei Jurist:innen, die mit
derartigen Fällen zu tun haben, erfährt man von vielen juristischen
Diskussionen um diese Frage.
Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass die klimaschädlichen Aktivitäten
nun mal einfach erlaubt sind, kann man noch mit einem Notstand
argumentieren. Dabei muss es nicht um die Wehr gegen ein Verbrechen gehen.
Sieht man einen Ertrinkenden im See, darf man ein fremdes Boot klauen, um
die Person zu retten. Dann stellt sich eher die Frage, ob die Straftat zum
Erreichen des Ziels notwendig war. Dass Aktivismus im Allgemeinen wichtig
für den Klimaschutz ist, erkennt sogar der renommierte Weltklimarat in
seinen wissenschaftlichen Berichten an. Und liegt es nicht zum Beispiel bei
Fridays for Future auf der Hand, dass die Bewegung eingangs nur durch den
Rechtsbruch, das Schulebestreiken, so viel Aufmerksamkeit bekommen hat?
Das leitet zur Frage, ob man aus klimatologischer Sicht von einem Notstand
sprechen kann. Der Berliner Professor und Klimaforscher Wolfgang Lucht
bezweifelt zwar, dass die Autoblockaden das richtige Mittel für das
Anliegen sind, hat für die Frustration aber Verständnis. „Die Lücke
zwischen Rhetorik und politischem Handeln ist in der Klimapolitik noch
immer unbefriedigend groß“, sagt er.
Das Ziel, die Erderhitzung bis 2100 noch bei 1,5 Grad gegenüber
vorindustriellem Niveau zu begrenzen, sei global nur noch unter recht
optimistischen Annahmen erreichbar. Kaum mehr in Reichweite sei, dass
Deutschland seinen ausreichenden Beitrag dafür leistet, sein von
Wissenschaftler:innen wie Lucht berechnetes faires CO2-Budget
einzuhalten. Die Bundesrepublik ist auf einen ökologischen Schuldenschnitt
angewiesen, also darauf, dass andere Länder mehr als ihren fairen Anteil
tun beim Sparen der Emissionen. „Dafür aber gibt es nirgends ausreichende
Möglichkeiten“, meint Lucht. „Dann muss die nächste Brandmauer, bei 1,6
Grad Erwärmung, angesteuert werden und für die Schäden müssten die
Verursacher dann aufkommen.“
Insgesamt steuert die Welt gerade auf 2,7 Grad Erderhitzung zu, weit mehr
als im Parisabkommen vereinbart und brandgefährlich. „Was wir heute schon
sehen, ist erst der Anfang, es wird sich schnell verschärfen“, warnt Lucht.
Es ist also nicht nur die Klimabewegung, die sich radikalisiert. Es ist
auch die Klimakrise. Fehlt noch der klimafreundliche Umbau der
Weltwirtschaft. Der muss wirklich radikal sein.
17 Feb 2022
## LINKS
[1] /Gruener-Agrarminister-zu-Klimaprotesten/!5831002
## AUTOREN
Susanne Schwarz
## TAGS
Protest
Letzte Generation
Blockade
Schwerpunkt Klimawandel
GNS
Innensenatorin Iris Spranger
Hungerstreik
Lebensmittelverschwendung
A100
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