# taz.de -- Politologin über Wahlen in Portugal: „Costa könnte abgestraft w… | |
> Catherine Moury hält einen Regierungswechsel in Portugal für möglich. Der | |
> sozialistische Ministerpräsident António Costa hat an Beliebtheit | |
> eingebüßt. | |
Bild: Antonio Costa im Wahlkampf | |
taz: Frau Moury, bis vor wenigen Tagen führte der Ministerpräsident von der | |
Sozialistischen Partei (PS), António Costa, die Umfragen für die | |
[1][vorgezogene Neuwahl am Sonntag] klar an. Einige sagten ihm eine | |
absolute Mehrheit voraus. Doch jetzt liegt erstmals Rui Rio, der Führer der | |
konservativen Opposition von der Sozialdemokratischen Partei (PSD), | |
gleichauf. Wie ist das zu erklären? | |
Catherine Moury: Für mich kommt das nicht überraschend. Wenn wir uns | |
anschauen, wie zufrieden die Wähler mit der Regierung sind, schneidet Costa | |
nicht gut ab. Rio hat das Handicap, nicht allzu charismatisch zu sein. Aber | |
seit der Fernsehdebatte mit Costa wird er immer bekannter. Er lernt schnell | |
dazu, wenn es um öffentliche Auftritte und die Medien geht. | |
Am Sonntag könnte es also eine Überraschung geben? | |
Es kann sein, dass die PSD mehr Stimmen bekommt als die PS. Das würde auch | |
im Trend der letzten Kommunalwahlen liegen. Da gewann in Lissabon | |
überraschend der PSD-Kandidat. Niemand hatte das erwartet. | |
Das wäre ein starker Umschwung. Costa war lange populär, vor allem in | |
seiner ersten Legislaturperiode von 2015 bis 2019. | |
Er konnte alle Schuld für das, was nicht gut lief, auf seine konservativen | |
Vorgänger mit deren Sparpolitik und auf die Troika schieben. Er machte sich | |
daran, Maßnahmen aus den Jahren der Austerität rückgängig zu machen. Er hob | |
die Löhne im öffentlichen Dienst an, führte einige soziale Hilfsprogramme | |
wieder ein, erhöhte den Mindestlohn. Gleichzeitig gelang es ihm, die | |
Verschuldung abzubauen und das Defizit im Griff zu haben. Das gelang ihm | |
dank dem, was ich heimliche Austerität nenne. | |
Was meinen Sie damit? | |
Die öffentlichen Investitionen waren niedriger als etwa zur Zeit der | |
Troika. Alles, was nicht so sichtbar ist, wie indirekte Steuern, wurde | |
beibehalten oder gar verschärft. Costa war geschickt darin, rückgängig zu | |
machen, was am deutlichsten sichtbar war, und beizubehalten, was keiner so | |
genau merkte. Ein Beispiel: In Zeiten der Troika wurde die | |
Wochenarbeitszeit für den öffentlichen Dienst auf 40 Stunden erhöht. Costa | |
führte wieder die 35-Stunden-Woche ein, allerdings ohne neues Personal | |
einzustellen. Das heißt, es gab weniger öffentliche Dienstleistungen. Eine | |
Folge: Die Wartezeit für chirurgische Eingriffe wurde länger. | |
[2][Costas Minderheitsregierung], die vom Linksblock (BE) sowie von einem | |
Wahlbündnis aus Kommunisten und Grünen (CDU) unterstützt wurde, war in den | |
ersten vier Jahren stabil. Warum war das in der zweiten Legislatur nicht | |
mehr so? | |
In seiner ersten Legislatur arbeitete Costa mit der radikalen Linken einen | |
Fahrplan aus und die Regierung arbeitete diesen ab. Die radikale Linke | |
akzeptierte die Regeln der EU: Wenn du auf der einen Seite mehr ausgibst, | |
musst du es auf der anderen einsparen. Außerdem war mehr Geld da, da die | |
Finanzmärkte sich erholten und Portugal weniger für die Schuldendienste | |
ausgab. 2019 gewann Costa Stimmen hinzu. Aber anstatt wieder mit der Linken | |
ein Abkommen zu schließen, regierte er mit wechselnden Mehrheiten, bis dies | |
dann beim Haushalt für 2022 schiefging und Neuwahlen notwendig wurden. | |
Die beiden Linksparteien stimmten im Oktober gegen den Haushalt, da Costa | |
nicht mit ihnen verhandeln wollte. Werden sie an den Urnen dafür abgestraft | |
werden? | |
Es sieht danach aus, als könnte Costa dafür mehr abgestraft werden als die | |
Linke. | |
Warum [3][wächst jetzt mit der Partei Chega] auch in Portugal eine extreme | |
Rechte heran? | |
Es gab bisher einfach niemanden mit Charisma, der diesen Platz einnahm. | |
Jetzt ist das mit Chega-Führer André Ventura anders. Plötzlich bekommt die | |
Chega Stimmen. Das Potenzial gab es aber schon immer. Portugal ist keine | |
Ausnahme. Es ist sogar sehr rassistisch. Es reicht, die Umfragen | |
anzuschauen, was die Leute sagen, wenn sie gefragt werden, was sie davon | |
halten würden, wenn ihre Tochter einen Farbigen heiratet. | |
Egal was am Sonntag passiert, es wird keine absolute Mehrheit geben, weder | |
für Costa noch für Rio. Können Sie sich eine Koalitionsregierung in | |
Portugal vorstellen? | |
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass wir eine Koalitionsregierung haben | |
werden. Eine große Koalition, wie es sie in Deutschland gab, lehnt Costa | |
strikt ab. Und dass die Sozialisten die radikale Linke in eine Koalition | |
einbinden, glaube ich nicht. Auch ist es schwer vorstellbar, das Rio eine | |
Koalition mit der rechtsextremen Chega eingeht. Es läuft also alles auf | |
eine erneute Minderheitsregierung hinaus. Koalitionen sind einfach nicht | |
die politische Kultur Portugals. | |
Will Rio regieren, muss er sich mit der Chega einigen. Werden die | |
Portugiesen, die die Diktatur mit einer Revolution gestürzt haben, | |
akzeptieren, dass eine rechtsextreme Partei direkt oder indirekt an der | |
Regierung beteiligt ist? | |
Eine direkte Beteiligung ganz sicher nicht. Und sicher auch kein | |
schriftliches Abkommen. Aber es gibt viele Möglichkeiten, sich hier und da | |
der Stimmen der Chega zu versichern, ohne dies schriftlich zu vereinbaren. | |
Außerdem gibt es noch mehrere kleinere Parteien, die Liberalen und die | |
Tierschützer. | |
Und Costa und die Linke? | |
Die radikale Linke ist verbittert über das, was geschah, als sich Costa | |
weigerte, mit ihnen über den Haushalt zu verhandeln, und lieber eine | |
Neuwahl anstrebte. Sie werden es ihm sicher nicht leicht machen. | |
29 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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