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# taz.de -- Philosoph zu Autobahnblockierer:innen: „Absichtlich rechtswidrig�…
> Klimaaktivisten blockieren Autobahnen und wollen Flughäfen stilllegen.
> Ist das noch legitim? Der Sozialphilosoph Robin Celikates sieht genauer
> hin.
Bild: Sitzblockade im Hamburger Hafen, 21. Februar 2022
taz: Herr Celikates, durch Kohlebaggerblockaden, Waldbesetzungen und
Schulstreiks vonseiten der Klimabewegung hat der Begriff des „zivilen
Ungehorsams“ erneut an Aufmerksamkeit gewonnen. Seit Ende Januar blockieren
[1][Aktivist:innen der „letzten Generation“] fast täglich
[2][Autobahnen] und [3][nun auch Straßen im Hamburger Hafen]. Was definiert
zivilen Ungehorsam?
Robin Celikates: Zivilen Ungehorsam zeichnen vor allem zwei Elemente aus:
Er hat im Unterschied zu legalen Formen des Protests einen absichtlich
rechtswidrigen Charakter. Und er ist nicht bloß symbolisch, sondern greift
auf eine disruptive Art und Weise in die tägliche Ordnung ein. Er soll
Aufmerksamkeit generieren und die Dringlichkeit des Anliegens
unterstreichen. Es handelt sich nicht um rein kriminelle Taten oder
unmotivierte Randale, sondern um einen prinzipienbasierten Protest. [4][Die
Akteure berufen sich] auf anerkannte moralische, politische, zum Teil
rechtliche Prinzipien und wollen bestimmte Veränderungen erreichen. Im
Unterschied zu einem militanten Aufstand sind die Aktionsformen dabei, auch
wenn sie vielen radikal erscheinen, ziemlich gemäßigt und verzichten auf
organisierte Gewalt.
[5][Ricarda Lang findet zivilen Ungehorsam legitim], solange es friedlich
ist. Ihrer Definition zufolge ist er doch immer friedlich?
Das Wort „zivil“ wird manchmal so interpretiert, dass ziviler Ungehorsam
gewaltlos oder friedlich sein muss. In Deutschland kann eine Sitzblockade –
eigentlich ein paradigmatisches Beispiel für gewaltfreien Ungehorsam –
jedoch als eine gewaltsame Nötigung aus Sicht des Strafrechts erscheinen.
Moralische Helden wie [6][Martin Luther King] oder Gandhi, die heute für
friedlichen Ungehorsam stehen, wurden zu ihrer Zeit als gewaltsame
Terroristen diffamiert. Heute sieht man ähnliche Dynamiken. Für mich ist
eine Blockade auf der Autobahn zunächst einmal eine friedliche Form des
Protestes. Nur weil Leute auf zum Teil natürlich sehr unangenehme Weise in
ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, ist das nicht per se
gewaltsam. Man muss also genau prüfen, was mit „friedlich“ und „zivil“
jeweils gemeint ist.
[7][Henry David Thoreau], Begründer des heutigen „zivilen Ungehorsams“,
sagte: „Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen und
das ist jederzeit zu tun, was mir gerecht scheint.“ Der „Aufstand der
letzten Generation“ besteht aus vielleicht höchstens 100 Leuten in ganz
Deutschland. Welche Legitimation hat ihr ziviler Ungehorsam?
Dieses Thoreau-Zitat ist bedenklich und weist auf die Gefahren eines
individualistischen zivilen Ungehorsams hin, bei dem es egal ist, ob man
sich auf geteilte Prinzipien bezieht oder andere überzeugen kann. Auch
Hannah Arendt kritisierte das scharf: „Woher weiß ich, dass du ein
moralischer Held und kein Fanatiker bist? Du musst deine Prinzipien auch im
Dialog mit anderen erläutern.“ Die Aktivist:innen tragen die
Verantwortung, ihre Gründe darzulegen und zu erklären, warum ziviler
Ungehorsam der einzige Weg ist, dafür einzustehen. Der Ungehorsam kann sich
ja sogar auf Prinzipien berufen, die im Grundgesetz verankert sind, wie
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit oder die
Verantwortung für zukünftige Generationen. Über diese Prinzipien besteht
erstmal kein Dissens. Nur haben die Protestierenden eine viel weitergehende
Interpretation, zu was uns diese Prinzipien konkret verpflichten, und
weisen darauf hin, dass die aktuelle rechtliche Lage und die politischen
Verhältnisse weit hinter diesen Selbstverpflichtungen zurückbleiben.
Zu sagen: Wir blockieren Autobahnen, bis das Essen-Retten-Gesetz steht. Ist
das nicht Erpressung?
Der Vorwurf trifft nicht. Erpressung heißt, anderen durch Androhung von
Gewalt oder tatsächliche Gewalt etwas abzunehmen, um sich selbst zu
bereichern. Die Aktivist:innen wollen ja kein Lösegeld von Olaf Scholz.
Sie wollen, dass im allgemeinen Interesse der jüngeren Generationen
gehandelt wird. Die Diffamierung als Erpressung, die man aus der
Bild-Zeitung oder konservativen Kreisen kennt, geht an der Realität des
Protestes vorbei. Die Aktivist:innen wollen die Politik zum Handeln
bewegen, indem die Kosten durch Blockaden in die Höhe getrieben werden.
Wenn man keine zusätzliche Überzeugungsarbeit leistet, riskiert man aber
den Vorwurf der Nötigung. Deswegen muss man auch versuchen, zu überzeugen.
Das wird bei den Leuten in den Autos natürlich schwer sein, auch wenn deren
Reaktionen sicher gemischt sind. Es geht um die breite Öffentlichkeit.
Kann ziviler Ungehorsam, der in der Gesellschaft zu viel mehr Unmut führt
als Überzeugung, überhaupt effektiv sein, um seine Ziele zu erreichen?
Die Frage ist: Was ist das Ziel, und bringt dieses Mittel uns dem Ziel
näher? Bringt man die Autofahrer auf die eigene Seite? Eher nein. Bekommt
man viel mediale Aufmerksamkeit? Ja. Insofern ist die Strategie
aufgegangen. Allerdings wird zu wenig über das gerechtfertigte Ziel
gesprochen. Alle reden über den Krankenwagen, der nicht durchkommt und über
die schwangere Frau. Das liegt auch daran, dass der genaue Zusammenhang
zwischen der Blockade der Autobahn und dem Anliegen nicht auf der Hand
liegt, wie es zum Beispiel [8][bei einer Castor-Blockade] der Fall ist.
Wenn es bei der Diskussion nur noch um die Skandalisierung der Mittel geht,
muss man sich überlegen, ob es andere bessere Adressaten für Blockaden
gäbe, etwa Lebensmittelkonzerne oder Ministerien.
Darf die Regierung überhaupt nachgeben? Besteht nicht die Gefahr, dass
trotz gerechtfertigter Forderungen bei Erfolg der Aktionen jede:r anfängt,
für seine individuellen Überzeugungen und Ziele zu solchen Mitteln zu
greifen und unsere Infrastruktur kollabiert?
Es braucht schon eine sehr starke moralische Überzeugung, um die Risiken
des Ungehorsams in Kauf zu nehmen und sowas auch durchzuziehen. Viele
Errungenschaften der Demokratie, die wir heute für gegeben halten, sind
Ergebnis genau solcher Kämpfe. Sie haben dazu geführt, dass heute Frauen
gleiche Rechte haben wie Männer oder Migrant:innen mehr Rechte als vor
ein paar Jahrzehnten. Sowas passiert meistens nicht aus Eigeninitiative des
politischen Systems heraus, sondern muss auf den Straßen erkämpft werden.
Daher ist ziviler Ungehorsam ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie,
ja der Demokratisierung der Demokratie. Die Regierung soll ja auch nicht
einfach nachgeben, sondern auf die inhaltlich richtige Argumentation
eingehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Das ist kein
Eingeständnis von Schwäche. Frankreich ist auch nicht untergegangen, nur
weil es dort ein Gesetz gibt, das das Wegwerfen von Lebensmitteln
verbietet.
Eigentlich möchte man meinen, dass man gerade in Demokratien eben keinen
zivilen Ungehorsam braucht. Ist er ein Zeichen dafür, dass etwas nicht
stimmt an der Demokratie?
Die Demokratie ist erstmal die Idee einer politischen Gemeinschaft, in der
sich der Demos, das Volk selbst regiert. In der Realität haben wir komplexe
Massengesellschaften, in denen diese Idee durch ein sehr kompliziertes
politisches System der Repräsentation umgesetzt wird. Es kommt unweigerlich
zu Demokratiedefiziten. Bestimmte Akteursgruppen sind formal
ausgeschlossen. So dürfen unter 18-Jährige nicht wählen. Nicht alle
Akteursgruppen haben dieselben Ressourcen. Es gibt Lobbyismus hinter den
Kulissen, Sichtweisen, die an den Rand gedrängt werden, und Gruppen von
Menschen, die nicht ernst genommen werden. Deswegen gehören Formen des
Protests wie ziviler Ungehorsam, die den Staat daran erinnern, dass er
eigentlich nur der Selbstregierung der politischen Gemeinschaft dient und
nicht umgekehrt, wesentlich zur Demokratie und sind keine
antidemokratischen Praktiken.
Ziviler Ungehorsam ist also kein Zeichen von Frust innerhalb der
Klimabewegung?
Klar, man greift zu diesem Mittel nur dann, wenn man anders nicht
weiterkommt. Ungehorsam sollte aber nicht so negativ betrachtet werden,
denn er zeugt von der Lebendigkeit der Idee der Demokratie und nicht allein
von Frust oder Ausweglosigkeit. Natürlich gibt es in [9][Black Lives
Matter] oder der Klimabewegung das Gefühl, es wird schon so lange über die
Probleme geredet und es passiert einfach nichts. Das ist eine sehr
frustrierende Erfahrung. Zugleich reihen sie sich in eine lange Geschichte
des gar nicht so erfolglosen Protests und Ungehorsams ein, die wir heute in
ihrem demokratischen Wert anerkennen wie die US-amerikanische
Bürgerrechtsbewegung oder die Frauenbewegung. Sofern unsere Demokratie
demokratisch zu nennen ist, verdanken wir das wesentlich diesen Bewegungen.
Und die Klimabewegung hat es geschafft, den politischen und öffentlichen
Diskurs zu verändern. Das Verständnis für Aktionen wie Autobahnblockaden
ist trotz aller Schwierigkeiten viel höher als vor ein paar Jahren.
Wie hoch ist die Gefahr, dass sich Gruppierungen, die zivilen Ungehorsam
ausüben, der nicht zum Erfolg führt, noch weiter radikalisieren?
Die Klimakrise wird sich auf jeden Fall in den nächsten Jahren und
Jahrzehnten massiv zuspitzen, egal welche Maßnahmen die Politik heute auf
den Weg bringt. Politische Konflikte werden sich somit auch zuspitzen. Umso
mehr, je mehr der Eindruck entsteht, die Politik begreife den Ernst der
Lage nicht. Aber ich sehe momentan wenig Anzeichen für die an die Wand
gemalte Radikalisierung. Es gibt keine [10][grüne RAF], keinen
Ökoterrorismus und bisher keine Anzeichen dafür, dass die Leute in den
Untergrund gehen. Es ist aber wichtig, dass die Bewegung selbst frühzeitig
Radikalisierung in die falsche Richtung erkennt und der Idee und Praxis des
Ungehorsams als Teil der Demokratie verpflichtet bleibt.
21 Feb 2022
## LINKS
[1] /Aktion-der-Gruppe-Letzte-Generation/!5836435
[2] /Hoerspiel-zu-Henry-David-Thoreau/!5699141
[3] /Aktivist-sprang-ins-Hafenbecken/!5830295
[4] /Aktivistin-ueber-die-Letzte-Generation/!5831243
[5] /Bundesweite-Autobahnblockaden/!5831758
[6] /Vor-50-Jahren-sprach-Martin-Luther-King/!5060379
[7] /Hoerspiel-zu-Henry-David-Thoreau/!5699141
[8] /Letzter-Castortransport-vor-zehn-Jahren/!5813664
[9] /Nach-Tod-von-Schwarzem-durch-Polizei/!5765002
[10] /Radikalitaet-der-Klimabewegung/!5789719
## AUTOREN
Ruth Lang Fuentes
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