Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Protest der „Letzten Generation“: Die Ritualisierung von Politik
> Kritisiert werden die Autobahn-Blockaden der „Letzten Generation“ aus
> allen politischen Lagern. Woher kommt die Einigkeit?
Bild: „Die letzte Generation“ blockiert eine Kreuzung zu Zollamt und Autoba…
Es gibt einen amüsanten Ausschnitt aus einer Diskussionsveranstaltung im
Jahr 2015 mit dem Publizisten Thomas Ebermann. „Ich drehe am Rad“, sagt
Ebermann immer wieder. Und das Publikum lacht. Ebermann regt sich über
sogenannte fantasievolle Protestaktionen auf. Als Beispiel nennt er
Studierende, die in den städtischen Brunnen springen und die Aktion mit dem
Spruch rahmen: Die Bildung geht baden. Oder Protestierende, die einen Sarg
tragen, auf dem „Gesundheitswesen“ steht.
Auch eine Aktion der Gruppe „Aufstand der letzten Generation“, bei der
Aktivist:innen Mitte Februar Mist im Landwirtschaftsministerium
ausgeschüttet haben, weil die Politik der Regierung in der Klimakrise eben
Mist sei, kann man dazuzählen.
Ebermann kritisiert solche Aktionen, die oft damit begründet werden, dass
man viele Menschen erreichen möchte. Er nennt sie Selbstinfantilisierung,
Selbstverharmlosung und Selbstverblödung. Die Aktivist:innen machten
sich nicht nur lächerlich. Sie signalisierten den Kritisierten auch, dass
sie letztlich harmlos seien.
Für Aufregung sorgen gerade andere Aktionen von „Aufstand der letzten
Generation“. Aktivist:innen blockieren seit Wochen Autobahnen in
Deutschland. Sie wollen auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam
machen, [1][fordern eine sofortige Agrarwende] und ein Gesetz gegen
Lebensmittelverschwendung. Das „Essen-retten-Gesetz“ soll das Containern
entkriminalisieren und Supermärkte verpflichten, Lebensmittel zu spenden,
die sie wegschmeißen würden.
Ein Ultimatum, das die Aktivist:innen an verantwortliche
Politiker:innen gestellt hatten, lief vergangenen Sonntag aus. Deshalb
blockierten sie am Montag mehrere Stunden die [2][Köhlbrandbrücke am
Hamburger Hafen].
Manche haben sich mit Sekundenkleber und Bauschaum an der Brücke
festgeklebt und Rapsöl auf die Fahrbahnen gegossen. „Hamburg ist Schauplatz
der Zerstörung. Sein [3][Hafen zeigt das todbringende industrielle
Weiter-so], während die Auswirkungen der Klimakrise hier bald nicht mehr zu
übersehen sein werden“, erklärte die Gruppe. Auch Flughäfen wollen sie bald
blockieren.
## Auch die Grünen kritisieren die Aktivist:innen
Für die Blockaden kassieren die jungen Menschen viel Hass und Häme. Nicht
nur von betroffenen Autofahrer:innen. Die Welt bezeichnet die Blockaden als
narzisstische Nonsens-Aktionen, verglich die Aktivist:innen mit Sekten
und stellte ihnen den [4][von Rechtsextremen durchsetzten Trucker-Protest]
aus Kanada gegenüber, der als Protest für körperliche Selbstbestimmung und
berufliche Sicherheit verklärt wurde.
Die Bild fragte, ob im Kampf um das Klima eigentlich alles erlaubt sei und
empörte sich darüber, dass die Aktivist:innen Leben gefährdeten – als
ob die Aktivist:innen durch deutsche Innenstädte marodieren würden, um
gezielt Coronamaßnahmen zu brechen und tatsächlich andere gefährden.
Erwartbar fielen auch die Reaktionen konservativer bis rechter Politiker
aus. „Sie wollen anderen Schaden zufügen“, [5][sagte Alexander Throm],
innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion. AfD-Frakionschef Tino
Chrupalla stellte fest: „Vergehen sind konsequent zu ahnden.“
Aber auch die, die mit dem Thema Klimakrise an Regierungsmacht gekommen
sind, sehen das ähnlich. Mit den Blockaden spielten die Aktivist:innen
„den reaktionären Kräften in die Hand, die eben gerade keinen Klimaschutz
wollen“, sagte der grüne Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, in
dessen Bereich die konkrete Forderung der Aktivist:innen fällt. „Ganz
wenige“ würden „Mehrheiten für den Klimaschutz gefährden“.
Eine Demokratie lasse sich nicht erpressen, so Özdemir, der den
Aktivist:innen ein [6][vordemokratisches Politikverständnis
attestierte]. Drastisch artikulierte sich die [7][Grüne Katharina
Fegebank], Zweite Bürgermeisterin von Hamburg: „Kein Verständnis für
Protest mit der Brechstange“. Die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke
sah das anders. Aber nur kurz. Sie hatte zivilen Ungehorsam zunächst als
„absolut legitim“ bezeichnet – und stimmte später dem
FDP-[8][Bundesjustizminister Marco Buschmann] zu, der die Blockaden als
„rechtswidrig“ kritisierte.
An dieser Stelle ist es hilfreich, auf den politischen Kontext zu blicken,
in dem Aktivist:innen in Deutschland Autobahnen blockieren und von
führenden Grünen-Politiker:innen als undemokratisch gerügt werden: Denn es
sieht gegenwärtig so aus, dass selbst die relativ ambitionierten
[9][Klimaziele der Ampelkoalition nicht ausreichen] dürften, um das
1,5-Grad-Ziel ernsthaft zu verfolgen. Manche Expert:innen sagen, dass es
[10][kaum mehr in Reichweite sei], dass Deutschland einen ausreichenden
Beitrag zu dieser Zielsetzung leistet.
## „Wir haben schon jeden anderen Weg versucht“
Trotzdem kann man dann noch fragen: Was bringt es, Autobahnen zu
blockieren?
Ebermann wirkte vor über 40 Jahren [11][bei der Gründung der Grünen] mit.
Als die Partei ihm zu realpolitisch wurde, trat er mit anderen aus. Er
bettet seine Kritik der fantasievollen Aktionen in eine grundsätzliche
Kritik von Politik ein. Es ist eine Kritik der politischen Form, die auf
viele inhaltliche Probleme der Gegenwart übertragen werden kann. „Wer von
der strukturellen Gewalt ungefähr so denkt, wie wir gesprochen haben, der
muss eine tiefe Abscheu gegen die Rituale von Regierung und Opposition
haben“, sagte er in eingangs erwähnter Diskussionsrunde. Er verwies auf den
Begriff der „Gesellschaft ohne Opposition“ des Philosophen Herbert Marcuse.
Für das Problem der Klimakrise heißt das: Es gab und gibt viel Streit über
die Frage, wie jener Krise begegnet werden soll. Aber das ritualisierte Pro
und Contra stellt die strukturelle Dimension, die systemischen Ursachen der
Erdzerstörung nicht wirklich infrage. Es wird zwar die ganze Zeit über die
Klimakrise gesprochen, die Welt geht währenddessen trotzdem unter, weil der
aktuelle Lauf der Dinge, der den Weltuntergang bedingt, nicht gestoppt
wird.
„Ich würde super gerne andere Wege wählen, aber wir haben einfach schon
jeden anderen Weg versucht. Wir haben jahrelang Petitionen unterschrieben,
wir haben jahrelang auf der Straße gestanden und vom Straßenrand aus
demonstriert und das hat leider nicht zu den Ergebnissen geführt, die wir
dringend brauchen, um die Menschen vor dem Klimakollaps zu retten“,
[12][sagte Aimée van Baalen, Sprecherin] der Aktivist:innen, im Interview
beim Deutschlandfunk.
Militanter Protest – Autobahnblockaden kann man dazuzählen – habe zwar oft
nicht den Anspruch, der Bestandteil einer Strategie zu sein, so Ebermann.
Er sei Notwehr, ein Abwehrreflex gegen die Zumutungen dieser Gesellschaft
und ihrer Rituale, zu denen der fantasievolle Protest gehöre.
Mit Autobahnblockaden mögen die Aktivist:innen also vielleicht keine
klimapolitischen Gesetze erwirken. Aber sie können damit den Modus infrage
stellen, in dem über die Klimakrise und den Umgang mit ihr verhandelt wird.
Und mit den Reaktionen können sie offenlegen, wie wenig sich Grüne, CDU und
Springer-Medien unterscheiden, wenn es um die Frage geht, ob man so
weitermacht wie bisher.
27 Feb 2022
## LINKS
[1] /Protest-gegen-Essensverschwendung/!5833131
[2] /Aktivist-sprang-ins-Hafenbecken/!5830295
[3] /Aktion-der-Gruppe-Letzte-Generation/!5836435
[4] /Truckerproteste-in-Kanada/!5833858
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/video237061657/Klima-Aktivismus-Neu…
[6] https://www.fr.de/politik/letzte-generation-blockade-frankfurter-flughafen-…
[7] https://twitter.com/fegebanks/status/1495726059483979779?ref_src=twsrc%5Etfw
[8] https://twitter.com/MarcoBuschmann/status/1491509094250864645
[9] /Klima-im-Koalitionsvertrag/!5817862
[10] /Proteste-der-Letzten-Generation/!5831060
[11] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1150874.thomas-ebermann-kraft-der-negati…
[12] https://www.deutschlandfunk.de/interview-mit-aim-e-van-baalen-sprecherin-v…
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
Lebensmittelverschwendung
Letzte Generation
Sozialproteste
Ziviler Ungehorsam
Letzte Generation
Letzte Generation
Letzte Generation
Letzte Generation
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pro und Contra Letzte Generation: Ist die Letzte Generation gescheitert?
Neu ausrichten und umbenennen – das ist das Projekt 2025 der Letzten
Generation. War die Gruppierung also erfolglos? Ein Pro und Kontra.
Philosoph zu Autobahnblockierer:innen: „Absichtlich rechtswidrig“
Klimaaktivisten blockieren Autobahnen und wollen Flughäfen stilllegen. Ist
das noch legitim? Der Sozialphilosoph Robin Celikates sieht genauer hin.
Straßenblockaden in Berlin: Schärfere Gangart
Innenausschuss diskutiert Blockaden der „Letzten Generation“. Polizei nimmt
Aktionen ernst und will Taktik anpassen. Mehr Zivilkräfte im Einsatz.
Offener Brief der Autobahnblockierer: Özdemir erscheint nicht
Die „Letzte Generation“ pausiert mit ihren Autobahnblockaden bis Sonntag.
Am Mittwoch verlas sie ihre Forderungen an die Regierung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.