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# taz.de -- Gruppenschau in Berlin: Die Fassbarkeit der Welt
> Die Ausstellung „Scheitere an einem anderen Tag“ in der Galerie Nord
> schlägt einen anregenden Bogen zwischen Haltung und Ästhetik.
Bild: Installation „Dry run“ von Sophia Pompéry in der Galerie Nord
Millimeterpapier. Das ist nun wirklich ziemlich kleinkariert. Und damit
eigentlich das Gegenteil eines freien künstlerischen Entwurfs. Aber eben
nur eigentlich. Denn wie man an den 33 Zeichnungen von Barbara Hindahl in
der Galerie Nord sehen kann, ist das Raster freihändig nachzuzeichnen auch
eine Herausforderung.
Aus den Abweichungen, aus dem Schwanken der Linien, aus dem Wegradieren von
Strichen, bis es das Papier zerfetzt, gewinnt nicht nur jedes Blatt etwas
Individuelles, sondern zusammen werden sie auch zu einer Geschichte von
Anstrengung, Sich-Mühe-Geben, Scheitern, Weitermachen – und damit dann doch
am Ende zu einer gelungenen Geschichte.
Scheitern und Gelingen bilden ein zusammengehörendes Paar in der
Ausstellung „Scheitere an einem anderen Tag“ in der Galerie
Nord/Kunstverein Tiergarten. Schon von außen kann man durch die großen
Fenster das Skelett eines Faltbootes von der Decke hängen sehen, das so,
ohne Plane, niemanden durch das Wasser tragen kann. Doch in der Luft
schwebend bietet die Skulptur von Sophia Pompéry auch ein Bild von
traumhafter Balance. Tatsächlich hält sie in der Luft das Gegengewicht von
zwei mit Wasser gefüllten Eimern, die wiederum eher zum Bild des Kenterns
gehören, wenn eindringendes Wasser herausgeschöpft werden muss.
Das Boot und die Gefahr des Kenterns, bei Pompéry ein scheinbar abstraktes
ästhetisches Spiel, erhalten in der gemalten Bildserie „Wir/die Anderen“
von Anton Petz im selben Raum eine andere Konnotation. Bei Petz ist die
Dimension des Scheiterns oder Gelingens sozial, politisch, historisch
aufgeladen. Er malt Szenen, die an gegenwärtige Nachrichten erinnern,
triumphierend ihre Gewehre schwenkende Männer auf einem Truck, Familien
unterwegs im Sand, ein Mann, der ein Kind trägt, überfüllte Boote. Neben
diese aktuellen Geschichten von Gewalt und Flucht setzt er Bilder aus der
Geschichte.
Der Künstler Bruno Kuhlmann ist Kurator der Ausstellung, zusammen mit
Veronika Witte, Leiterin der Galerie Nord, und dem Künstler Tom Früchtl.
Kuhlmann war 2015 am Mittelmeer und erlebte [1][die Ankunft oder vielmehr
das nicht Ankommen-Dürfen der vielen Flüchtenden über das Meer] als ein
Scheitern der Politik und Scheitern Europas. Das war der Nukleus für das
Konzept dieser Ausstellung, die den Begriff des Scheiterns in viele
Richtungen auslotet.
## Humor ist im Spiel
Joseph Beuys ist mit seinem Musikvideo „Sonne statt Reagan“ von 1982
vertreten, dessen Text und Musik zwar immer belächelt worden sind, das sich
aber gerade durch das Nichtperfekte in die Erinnerung einschrieb. Auch
sonst zeigen die Beteiligten der Ausstellung oft Humor, wie „Der erste
sitzende Stuhl“ (von 1970) von [2][Timm Ulrichs], dem die Hinterbeine
weggebrochen sind – die Scharniere an den Bruchstellen aber lassen die
Vorstellung einer Wiederaufrichtung und eines Weiterlaufens dieses
Stuhlwesens zu.
Mit dem Arabischen Frühling, der anfangs von so viel Hoffnung auf
Veränderung getragen war, die sich nicht einlöste, beschäftigt sich Monika
Huber in einer dreiteiligen Videoarbeit. Sie zitiert Guernica, Picassos
Bild über die Zerstörung der spanischen Stadt im Spanischen Bürgerkrieg
durch die deutsche Luftwaffe, sie lässt Bilder von Demonstrationen,
Straßenschlachten aufflammen, von Meeren von Halbmondfahnen, von
Polizeischilden und zerstörten Häusern, die dann übermalt werden,
durchlöchert, schwinden. Das Faktische verliert ständig an Substanz in
dieser Videoarbeit, mythische Dimensionen legen sich darüber, alles
zerrinnt ins Ungewisse.
So wie Hubers Videos zwischen Bildern realer Gewalten und einer Ästhetik
der Auslöschung der Bildoberflächen pulsieren, so ist die Ausstellung
selbst von einem Pendeln zwischen Kommentaren auf die Welt und der Arbeit
an ihrer Fassbarkeit durchzogen. In einer dann doch anregend gelungenen
Kombination.
26 Jan 2022
## LINKS
[1] /Buch-ueber-Flucht-nach-Europa/!5801925
[2] /Kuenstlergespraech-mit-Timm-Ulrichs/!5700554
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
zeitgenössische Kunst
Tiergarten
Skulptur
Zeitgenössische Malerei
Joseph Beuys
taz Plan
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Kunst
Bildende Kunst
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