| # taz.de -- Grenzen der Wissenschaft: Urknall und Gott-Komplex | |
| > Die Spezies Mensch ist in Gefahr, nicht der Planet. Die Erde und mit ihr | |
| > resistentere Arten als wir brauchen die ökologische Transformation nicht. | |
| Bild: Sollte unser zerstörerisches Wirken fortdauern, werden manche Lebewesen … | |
| Das Jahr begann mit einer wuchtigen Nachricht. Trotz einer phänomenalen | |
| Messpräzision konnte auch das jüngste Experiment am Cern in Genf nicht | |
| erklären, wieso es uns gibt. Wie der [1][Physiker Stefan Ulmer] erklärt: | |
| „Die Frage ‚warum existieren wir?‘ kann die moderne Physik noch nicht | |
| beantworten.“ Materie und Antimaterie hätten sich beim Urknall gegenseitig | |
| auslöschen müssen. Haben sie aber nicht getan. Offensichtlich. Oder | |
| scheinbar? Wer kann sich da schon sicher sein. | |
| Weiterhin trifft zu, was ein führender Astrophysiker mir vor einigen Jahren | |
| erklärte: „Wir wissen alles, nur nicht, was in den ersten sechs Sekunden | |
| geschehen ist.“ Weswegen jemand wie [2][James Peebles], der 2019 den | |
| Nobelpreis für Physik gewonnen hat, der schlüssigen Ansicht sein kann, dass | |
| die Urknalltheorie einen Knall hat (pardon, das war zu verlockend): „Der | |
| Begriff suggeriert die Vorstellung eines Ereignisses und einer | |
| Positionsbestimmung, und beides ist völlig falsch. | |
| Es ist sehr bedauerlich, dass wir von einem Anfang aus denken, obwohl wir | |
| in Wirklichkeit keine gute Theorie für so etwas wie den Anfang haben.“ Das | |
| finde ich tröstlich. Es könnte uns Menschen ein Gefühl der Demut für unsere | |
| untergeordnete und gefährdete Stellung im Universum geben. Und es ist | |
| durchaus beruhigend, dass die allergrößten Geheimnisse weiterhin nicht | |
| gelöst sind. | |
| Ebenso tröstlich ist es, kosmologische Gedanken anzustellen in Zeiten, in | |
| denen die Frage von Sein und Nichtsein anhand des [3][Maskentragens] | |
| diskutiert wird. Wie wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, tut sich | |
| eine Gesellschaft, die ein Grundrecht auf Sicherheit einfordert, schwer mit | |
| der widersprüchlichen Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnis. Es ist | |
| tatsächlich nicht ganz einfach. | |
| Wissen ist eine Momentaufnahme – die Physiker am Cern haben sogleich | |
| erklärt, bei noch genauerer Messung könnte sich das Erkenntnisbild ändern. | |
| Wissen ist vorläufig und kann daher von einer temporalen Vogelperspektive | |
| aus mangelhaft erscheinen, weswegen die Schlaueren unter den Gläubigen die | |
| Offenbarung Gottes nicht an den aktuellen Erkenntnissen der Physik | |
| festmachen, denn die ändern sich, das Alte Testament oder der Koran | |
| hingegen bleiben gleich. | |
| Wer also seine Meinung ändert, ist nicht der Korruption verdächtig, sondern | |
| des Nachdenkens. Und dass einzelne Wissenschaftlerinnen anderer Meinung | |
| sind, ist nicht der ultimative Beweis, dass diese Leute als Einzige die | |
| Wahrheit verteidigen. Denn merkwürdigerweise aktualisieren auch diese ihren | |
| Wissensstand. Wenn es aber keinen Anfang gegeben haben soll, kann es | |
| logischerweise auch kein Ende geben, was uns in unserer momentanen | |
| apokalyptischen Laune etwas verunsichern sollte. | |
| Der zuletzt so erfolgreiche Netflix-Film „[4][Don’t Look Up]“ zeigt auf, | |
| wie wir gegenwärtig Zukunft framen (neudeutsch für „der Rahmen ist | |
| wichtiger als das Bild“). Die Handlung: Ein Weltuntergang droht, aber wir | |
| sind aus Dummheit und Gier nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. | |
| Da diese simple Annahme locker in einer halben Stunde illustriert werden | |
| kann, dümpelt der Film in der Folge dahin, auf bekalmten satirischen | |
| Gewässern, und endet – Achtung, Spoiler! – mit einer spießigen Verheißun… | |
| Piep, piep, piep, wir haben uns beim letzten Abendmahl besonders lieb. | |
| ## Wir brauchen eine ökologische Transformation | |
| Am Ende gibt es den Planeten nicht mehr. Diese Vision ist nicht nur reine | |
| Hybris, sondern auch eine Diskriminierung von Insekten und Mikroben. Wer | |
| bevorzugt an Pandas und Eisbären denkt (das Disney-Dogma) übersieht, dass | |
| die schlimmsten Entwicklungen, die wir uns vorstellen können – in | |
| beliebiger Reihenfolge: tote Meere, Atomkrieg, [5][Klimakatastrophe], | |
| Zerstörung der Regenwälder – für Arten mit vielen Gehirnzellen ungemütlic… | |
| Folgen zeitigen, keineswegs aber zum Absterben aller Äste des gewaltigen | |
| Stammbaums des Lebens führen werden. | |
| Mikroben etwa sind sehr resistent, sie können nahezu ewig überleben und | |
| dabei erstaunlich lange Ruhephasen einlegen. Vor Kurzem sammelte ein | |
| Forscherteam in Japan aus den Tiefen des Meeres Bakterien, die | |
| schätzungsweise über hundert Millionen Jahre alt waren. Etwas Sauerstoff | |
| und Nahrung erweckte sie zum regen Leben. Schon nach einigen Wochen | |
| begannen Bakterien, die zuletzt in der Frühzeit der Säugetiere aktiv waren, | |
| sich wieder zu teilen. „Winter is coming“ entlockt einer anständigen | |
| Mikrobe nur ein müdes Lächeln. | |
| Wenn also führende Biologinnen dazu aufrufen, die Hälfte der Landmasse auf | |
| Erden als unberührte Ökosysteme zu erhalten, argumentieren sie mit der | |
| Notwendigkeit biologischer Vielfalt für unsere Zukunft. Insofern ist das | |
| Wort „Naturschutz“ ungenau. Wir müssen uns schützen, unser Überleben. Da… | |
| brauchen wir eine ökologische Transformation. Nicht aber, um den Planeten | |
| Erde zu retten. | |
| Im Gegenteil: Sollte unser zerstörerisches Wirken fortdauern, werden manche | |
| Lebewesen sogar profitieren, darunter persönliche Lieblinge wie Kakerlaken, | |
| Würmer oder Ameisen. Ein Teil der biologischen Vielfalt bevorzugt | |
| Bedingungen, die extremer sind als das behagliche Mittelmeerklima. Es ist | |
| sogar denkbar, dass Mikroben schon den Mond oder den Mars kolonialisieren. | |
| Die Erde ist nicht bedroht. Egal, was wir tun, sie wird nicht so bald | |
| zugrunde gehen. | |
| Angeblich sowieso erst in einigen hundert Millionen Jahren, aber das | |
| behaupten ja jene, die uns den Anfang nicht erklären können, insofern bin | |
| ich da etwas skeptisch. Unsere apokalyptischen Fantasien sind nur Ausdruck | |
| eines Minderwertigkeitskomplexes gegenüber der unermesslichen Größe des | |
| Lebens. Wir haben inzwischen – oft konstatiert und gelegentlich | |
| diagnostiziert – einen Gott-Komplex. | |
| Dabei sind wir kosmisch betrachtet nicht so wichtig, und aus Sicht der | |
| Bakterien und Viren eh nur ein Wirt unter vielen. Austauschbar. Auch das | |
| ist tröstlich. | |
| 12 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://cds.cern.ch/record/2242307 | |
| [2] https://www.dpg-physik.de/veroeffentlichungen/aktuell/2019/die-deutsche-phy… | |
| [3] /Schutz-vor-Corona/!5675596 | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=b8ioeP0hHiQ | |
| [5] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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