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# taz.de -- Menschen und ihre Gesellschaftsspiele: Es geht nicht ums Gewinnen
> Nicht erst seit Corona wächst der Umsatz mit Gesellschaftsspielen immens.
> Aber warum spielen wir eigentlich so gerne?
Bild: „Vordergründig dienten Gesellschaftsspiele schon immer dem Eskapismus�…
Spielverlage gelten als typische Coronagewinner. Um 21 Prozent ist der
Umsatz mit Gesellschaftsspielen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr
gewachsen. Während das öffentliche Leben stillstand, haben Leute zu Hause
gelesen, Netflix geschaut – [1][oder eben Spiele] gespielt. Dennoch ist die
Erzählung vom Coronagewinner nur die halbe Wahrheit. Denn auch wenn das
21-Prozent-Wachstum immens ist – die Branche wächst bereits seit mehreren
Jahren. Während der Umsatz 2012 noch bei 400 Millionen Euro lag, kletterte
er im Jahr 2019 auf 594 Millionen, um dann [2][coronabedingt] auf 718
Millionen anzusteigen. Gesellschaftsspiele scheinen ein wachsendes
Bedürfnis zu befriedigen. Aber warum spielen wir eigentlich so gerne?
Vorweg: Dieser Text wird die Frage nicht vollumfänglich beantworten können.
Selbst wenn er sich über die ganze Ausgabe dieser Zeitung erstrecken würde,
könnte er das nicht leisten. Philosophie, Pädagogik, Psychologie,
Verhaltensbiologie, Kulturwissenschaft, Ökonomie – sie alle beschäftigen
sich mit dem Spiel und dem Spielen. Und beschränken sich dabei nicht auf
Gesellschaftsspiele.
Daher zu Beginn ein kleiner Exkurs. Der Pädagoge Hermann Röhrs bezeichnet
in seinem gleichnamigen Sammelband das „Spiel“ als „Urphänomen des Leben…
Das scheint gleich recht hoch ins Regal gegriffen, aber Röhrs hat durchaus
Argumente auf seiner Seite. Spiel begleite die menschliche Entwicklung von
Anbeginn als eine „motivierende Tätigkeitsform“, schreibt Röhrs. Sobald d…
Spielfähigkeit abnehme, finde kaum noch menschliche Entwicklung statt,
sondern nur noch die „Perfektion […] im personalen und beruflichen
Bereich“.
Der Kulturhistoriker Johan Huizingas prägte Anfang des 20. Jahrhunderts den
Begriff des „Homo Ludens“, des spielenden Menschen. Demnach eignet sich der
Mensch Wissen und Fertigkeiten nicht vorrangig arbeitend (Homo faber) oder
denkend (Homo sapiens), sondern eben spielend an. Das Spiel selbst
beschrieb Huizingas als „freie Handlung“, die „als ‚nicht so gemeint‘…
außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den
Spieler völlig in Beschlag nehmen kann“. Der Soziologe Heinrich Popitz
schließlich schreibt, dass das Besondere des Spiels sei, dass hier der
„Mensch auf unproduktive Weise kreativ“ ist.
## Spielen als eine „anthropologische Konstante“
Man könnte diesen Erklärungsansätzen weitere hinzufügen – eine
allgemeingültige Definition, was Spiel und Spielen ist, gibt es nicht. Wohl
aber Versuche, die unterschiedlichen Perspektiven auf Spiele und Spielen
zusammenzubringen. Jens Junge ist Professor für Wirtschaftswissenschaften
und Marketing an der Berlin Universität für angewandte Wissenschaft und hat
dort 2014 das Institut für Ludologie, also der Lehre vom Spiel, gegründet.
Die Mitglieder des Instituts, die sich vorrangig aber nicht ausschließlich
mit Computer- und Videospielen beschäftigen, wollen die Spielforschung als
transdisziplinäre Wissenschaft etablieren.
Wie Röhrs bezeichnet auch Junge Spielen als „anthropologische Konstante“,
vergleichbar etwa mit dem Schlaf. Der kindliche Spieltrieb sei „ein
natürliches Element, sich die Welt zu erschließen, die Welt zu begreifen
und die Welt unter Kontrolle zu kriegen.“ Das Gesellschaftsspiel, so Junge,
erfülle eine ganz ähnliche Funktion, nur eben, wie der Name bereits sagt,
auf einer höheren Stufe: der Gesellschaft. Frühe Gesellschaftsspiele ließen
sich bis ins Jahr 11.500 vor Christus zurückverfolgen und seien eng mit der
Sesshaftwerdung des Menschen verknüpft.
Der Mensch musste in dieser Zeit völlig neue Fähigkeiten erlernen. Wie
verhalte ich mich dauerhaft gegenüber fremden Menschen, wie gehe ich mit
ungleich verteiltem Besitz um, wie organisiere ich Arbeitsteilung? „Das
Medium Gesellschaftsspiel war ideal dafür, diese neue Art des
Zusammenlebens abzubilden und zu erlernen“, sagt Junge. „In Spielen werden
[3][Moral, Macht- und Herrschaftsformen] verhandelt.“
## Wie und warum funktionieren Gesellschaftsspiele?
Allerdings bilden Gesellschaftsspiele nicht nur Hierarchien ab, sondern
entwerfen auch neue, utopische Welten. Beim Skat – Anfang des 19.
Jahrhunderts erfunden, also mitten in der Restauration – waren es auf
einmal die Bauern, die Trumpfkarten waren, und nicht die Könige. Beispiel
für frühe Gesellschaftsspiele sind das königliche Spiel von Ur aus
Mesopotamien, Senet aus Ägypten oder das indische Pachisi, ein Vorläufer
des „Mensch ärgere dich nicht“. „Gesellschaftsspiele sind mit einer
bestimmten Kulturentwicklung verbunden“, sagt Junge. Mittlerweile sind
Gesellschaftsspiele ein selbstverständlicher Zweig der
Unterhaltungsindustrie. Das heißt, dass sie kapitalistische Strukturen
nicht nur reproduzieren oder kritisieren können, sondern auch ein eigener
Teil dieser sind.
Vordergründig dienten Gesellschaftsspiele schon immer dem Eskapismus. Sie
bieten Ablenkung, Zerstreuung und bereiten Freude, im besten Fall nicht nur
den Gewinner:innen. Aber wie und warum funktionieren Gesellschaftsspiele
eigentlich? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Wirtschaftsinformatiker
Thomas Voit. „Es gibt in Deutschland zwar viele Game-Design-Studiengänge,
die sich mit der Entwicklung von Spielen beschäftigen, aber die sind in der
Regel sehr technisch ausgelegt“, sagt Voit. „Wenn es um das eigentliche
Kreative geht, wird nicht selten auf ein gemeinsames Brainstorming oder auf
die Intuition von Spielentwicklern verwiesen.“
Voit ist Professor an der Technischen Hochschule Nürnberg und leitet seit
2016 das Projekt Empamos, eine empirische Analyse motivierender
Spielelemente. Das Ziel: Spiel-Design-Elemente herauszuarbeiten, die uns
innerhalb eines Spiels motivieren, weiterzuspielen beziehungsweise
überhaupt erst anzufangen. Die uns – spielerisch gesprochen – am Ball
bleiben lassen. Wie sie das gemacht haben? „Am Anfang haben wir einfach
sehr viele Spiele gespielt“, sagt Voit. Unterstützt wurden sie dabei vom
Deutschen Spielarchiv in Nürnberg, in dem insgesamt 30.000
Gesellschaftsspiele gelagert sind.
Der Zufall sei so ein klassisches Element, das in fast jedem Spiel
vorkomme, sagt Voit. Andere sind zum Beispiel Zeitlimits, eine Verlier-
oder Siegbedingung, Informationsasymmetrie oder das Sammeln oder Loswerden
von Objekten. Alles Elemente, die uns aktiv werden lassen, auf die wir in
irgendeiner Weise reagieren müssen. Insgesamt haben Voit und sein Team so
101 motivierende Spielelemente zusammengetragen.
Da sie diese nicht alle durchspielen konnten (und wollten), haben Voit und
sein Team eine Software auf die Textanalyse von Spielanleitungen trainiert.
Diese erkennt an bestimmten Wortkombinationen, ob ein motivierendes Element
in einem Spiel vorkommt. Ein Element müsse in mindestens 25 Spielen
vorkommen, bevor sie es aufnehmen, sagt Voit. Im Durchschnitt hätten
Gesellschaftsspiele etwa 20 motivierende Elemente. Ein Spiel mit sehr
wenigen Elementen sei zum Beispiel Vier gewinnt, Spitzenwerte erzielt
beispielsweise das Brettspiel Arkham Horror mit 48 Spiel-Design-Elementen.
## Kontextübergreifend Motivation erzeugen
Anders als das Spielen ist Voits Forschung jedoch nicht zweckfrei. Ziel sei
es, die Erkenntnisse auch in spielfremde Kontexte zu übertragen. Etwa in
der Bildungsarbeit, der Drogen- und Suchtberatung oder in Unternehmen. „Das
sind alles Bereiche, in denen motivationale Probleme auftreten, die
mithilfe der richtigen Spielelemente gelöst werden können“, sagt Voit.
Es gehe nicht darum, das ganze Leben in ein Spiel zu verwandeln, so Voit,
sondern gezielt Situationen anzusprechen, in denen Motivationsprobleme
auftreten. Natürlich könnten diese Techniken auch missbraucht werden.
Glücksspiele arbeiten beispielsweise mit einer Asymmetrie von emotionaler
Belohnung und tatsächlichem Gewinn. Für Voit ist daher sowohl fürs Spielen
als auch für die Nutzung seiner Spielgrammatik eins entscheidend: Es muss
freiwillig sein. „Wer zum Spielen gezwungen wird, spielt eigentlich nicht“,
sagt Voit.
Sein Forschungsinteresse hat Voit auf den ersten Blick teuer bezahlt,
nämlich mit dem Verlust der Fähigkeit, ganz zweckfrei und unvoreingenommen
neue Gesellschaftsspiele spielen zu können. „Ich analysiere eigentlich
jedes Spiel sofort auf seine motivationalen Elemente“, sagt Voit. Er spiele
aber immer noch gerne. Und obwohl er genau weiß, wie Spiele im Innersten
funktionieren: Gewinnen tut auch er nicht immer.
31 Dec 2021
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## AUTOREN
Daniel Böldt
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