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# taz.de -- Dokumentarfilm über Venedig: Bei Nacht auf dem Canal Grande
> In „Moleküle der Erinnerung“ zeigt Andrea Segre die Lagunenstadt im
> Ausnahmezustand ohne Tourist*innen. Ein Venedigfilm, der sich zu sehen
> lohnt.
Bild: Normalerweise bringt Elena Almansi Tourist*innen das Gondeln bei, nicht s…
Schneller als gedacht schiebt sich die Gondel über den nächtlichen Canal
Grande. Die ausbleibenden Touristen haben viel Platz hinterlassen auf dem
zentralen Wasserweg durch Venedig im ersten Lockdown im Frühjahr 2020.
Elena Almansi, die sonst ihren Lebensunterhalt damit verdient, Touristen
das Fahren einer Gondel beizubringen, rudert zum Spaß und zum Training mit
einer Freundin durch die Kanäle. Eine von vielen beeindruckenden Szenen in
Andrea Segres neuem Dokumentarfilm.
„Ich habe nie ganz verstanden, ob ich zu Venedig gehöre. Es ist, als hätte
ich die Stadt mein Leben lang umstreift“, sagt Segre zu Beginn von
„Moleküle der Erinnerung“. Erst nach dem Tod seines Vaters hat sich der
italienische Regisseur wirklich an die Stadt herangewagt, hat einen Film
geplant, hatte gerade mit den Dreharbeiten begonnen, als ihn die Pandemie
in der Stadt festgesetzt hat.
Segres Film verbindet die Annäherung an den verstorbenen Vater mit einem
Blick auf eine Stadt, bei der über die romantischen Projektionen oft die
Lebensbedingungen für die Einheimischen vergessen werden.
Dem schweigsamen Vater verdanken wir eine Reihe von Super-8-Aufnahmen von
Anfang der 1960er Jahre, aus einer Zeit vor der Eskalation des Tourismus in
Venedig. Junge Männer springen in die Lagune, entspannt gehen Menschen
durch die heute volle Innenstadt, Gondeln füllen das Wasser zur
traditionellen Regatta auf dem Canal Grande.
## Stadt- wird mit Familiengeschichte verbunden
Segre zeigt diese Aufnahmen zu Beginn des Films, während er auf der Tonspur
beschreibt, wie die Familiengeschichte mit der Stadt verwoben ist. Die
Aufnahmen entstanden „zum Spaß, aber mit einem Gespür für Einstellungen,
die ich ihm nie zugetraut hätte – präzise, geometrisch, aber irgendwie auch
zart, fast schmerzhaft“.
25. Februar 2020, Karnevalsdienstag. An einem Tag, an dem sich sonst die
Besucher_innen auf dem Markusplatz stapeln, schlendern ein paar vereinzelte
Menschen auf dem Platz umher, knipsen aus großer Entfernung ein Foto vom
Dogenpalast, ohne dass dieser vor lauter Menschen kaum sichtbar wäre. Ein
Souvenirverkäufer kreist gelangweilt um seinen Wagen.
Wie so viele Pläne wurden Segres Vorstellungen von seinem Film von Corona
durchkreuzt. Doch statt wie so viele seiner Regiekolleg_innen Nabelschau zu
betreiben, spiegelt er die Ausnahmesituation zu Beginn der Pandemie in
einer Ausnahmesituation, die sich in unterschiedlicher Intensität in der
Stadt wiederholt: dem Hochwasser.
Im November 2019, drei Monate bevor die Pandemie auch über Venedig
hereinbrach, erlebte die Stadt ein Rekordhochwasser. Lächelnd zeigt ein
junges Paar Videos davon, wie sie versuchen, das Wasser aus ihrer Wohnung
im Erdgeschoss herauszubekommen. Aber wegziehen kommt für beide nicht in
Frage.
## Politisches Kino aus Italien
Allerhöchstens würden die beiden ein paar Stockwerke höher ziehen, wenn das
Wasser in den nächsten Jahren weiter steigt. Diese alltägliche Resilienz
dürften die beiden in den Monaten seither gebraucht haben.
Andrea Segre gehört zu den politischsten Regisseuren seiner Generation in
Italien. Ende der 1990er Jahre beginnt er, Dokumentarfilme zu drehen.
Anfang der 2000er Jahre entsteht ein Dokumentarfilm über acht Seeleute aus
Ägypten und Indonesien, die über Monate im Hafen von Marghera vor Venedig
festsitzen.
Ende der 2000er Jahre drehte er einen Dokumentarfilm, der ihn in Italien
bekannt macht: „Come un uomo sulla terra“ (2008). Gemeinsam mit dem
äthiopisch-italienischen Filmemacher Dagmawi Yimer zeigt Segre, wie Libyen
mit großer Gewalt und Unterstützung Europas alles tut, um Flüchtende aus
Afrika daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Der Film war eine der
ersten Produktionen von Zalab, der Produktionsfirma, die Segre mit
Kolleg_innen gründete, um unabhängige, politische Dokumentarfilme zu
produzieren.
Seit 2011 dreht Segre auch Spielfilme. Sein Debütfilm „Io sono Li“ (dt.
Titel „Venezianische Freundschaft“) handelt von einer chinesischen
Arbeitsmigrantin, die in den Textilfabriken Veneziens arbeitet. „L’ordine
delle cose“ von 2017 zeigt die europäische Politik der
Migrationsverhinderung aus der Perspektive eines italienischen Beamten im
Innenministerium.
## Kein Venedigkitsch, sondern lohnendes Filmmaterial
Sein neuester Spielfilm „Welcome Venice“ über das Leben zweier Erben einer
alteingesessenen Familie von Krabbenfischern auf der Inselgruppe Giudecca
ist vor drei Monaten in Italien gestartet.
An unzähligen Stellen hätte „Moleküle der Erinnerung“ scheitern können.
Doch statt Venedigkitsch entfaltet Segre ein persönliches Bild einer Stadt
und ihrer Bewohner_innen. Segres Trauerarbeit und die stoische Akzeptanz
des wiederkehrenden Hochwassers bilden einen Kontrapunkt zur beginnenden
Pandemie. Diese drei Elemente halten beim Zusehen emotionale Verarbeitung
und dokumentarisches Interesse in der Balance.
„Moleküle der Erinnerung“ ist so gut, dass er sogar Teho Teardos
uninspiriert wabernde Filmmusik übersteht, die klingt wie die Filmmusik zu
den zahlreichen italienischen Dokumentarfilmen, die man als Filmkritiker
bei Filmfestivals in den letzten Jahren fluchtartig verlassen hat. Kurz:
„Moleküle der Erinnerung“ ist einer der wenigen Venedigfilme, die es sich
zu sehen lohnt.
30 Dec 2021
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Film
Dokumentarfilm
Venedig
Tourismus
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