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# taz.de -- Vom Bordstein in den Kleiderschrank: Das wird noch gebraucht
> Aus weggeworfener Kleidung vom Straßenrand macht die Schweizer Künstlerin
> Barbara Caveng wortwörtlich Streetware. Die kann man kaufen oder
> ausleihen.
Bild: Barbara Caveng und die Kostümbildnerin Alice Fassina in ihrem „Waschsa…
„Schaut mal!“, ruft Barbara Caveng. Sie deutet auf eine Parkbank. Um die
Bank herum liegen achtlos verteilt Kleider: Spitzenunterwäsche, Schal,
Hosen, Shirts, Socken, ein einzelner Schuh. Außerdem Bücher, ein Kissen,
Tampons, leere Kippenschachteln und ein ungeöffneter Schokoriegel. „Das ist
doch wie ein Tatort, oder?“, fragt Caveng.
Tatsächlich deuten die radikal unterschiedlichen Gegenstände und ihre wilde
Anordnung auf ein echte Entsorgungsorgie hin. Caveng streift sich
Plastikhandschuhe über und beginnt die Kleidungsstücke zu inspizieren.
Schließlich nimmt sie sich einen BH, ein T-Shirt und den Schal. Sie
drapiert die Klamotten auf ihrem Gefährt: eine Kreuzung aus Wäscheständer
und Kinderwagen, das die Blicke der PassantInnen auf sich zieht.
Zusammen mit Caveng und weiteren TeilnehmerInnen ihres Projekts
[1][Streetware: Saved Items] habe ich mich zum Lumpensammeln verabredet.
Caveng ist eine 57-jährige Künstlerin aus der Schweiz. Ihr Projekt, das
seit Anfang des Jahres läuft, macht Mode – und sagt dabei der
Fast-Fashion-Industrie den Kampf an. Die [2][Stücke von Streetware sind
weggeworfene Kleidung aus den Straßen von Neukölln] – gründlich gewaschen,
mit eigenem Logo versehen, und wenn nötig, repariert und verschönert.
Vom Hermannplatz geht es los, dann weiter durch den Reuterkiez.
PassantInnen gucken. Überraschend ist das nicht: Caveng selbst läuft mit
knallorangenem Haar und Schal in der gleichen Farbe energisch voran. Sie
hat sich mit einer Sicherheitsnadel ein Stück Stoff mit der Aufschrift
„Lumpensammler:in“ angesteckt. Auch der fahrbare Wäscheständer fällt auf.
Die Verwunderung ist den KünstlerInnen gerade recht, sie suchen den
Austausch mit den AnwohnerInnen und laden zur Partizipation ein.
Und der Austausch findet statt, wenn auch nicht immer konfliktfrei: Einmal
kommt ein Mann vorbei und steigt von seinem Rad. Er ist entrüstet. Wir
sollten die Finger von den dreckigen Sachen lassen, sagt er, wer weiß, was
da alles für Krankheiten dran seien. Es gebe doch Altkleidercontainer und
ähnliches. Das die Klamotten in den Containern auch bei Personen landen,
kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. „Würden Sie das anziehen?“, fragt er
Caveng. Die ist zu seinem Erstaunen von Kopf bis Fuß in Stücken von der
Straße gekleidet, und lädt ihn ein, sich die fertigen Streetware-Klamotten
mal anzusehen.
Das Lumpensammeln lohnt sich: Fast an jeder Ecke finden wir weggeworfene
Kleidungsstücke, das meiste entdeckt Caveng selbst. Viele Sachen lassen wir
auch liegen: zum Beispiel Stücke, die in sehr schlechtem Zustand sind. Auch
lokale Tauschschränke und Stätten von Obdachlosen rühren die Leute von
Streetware nicht an. Stücke, die einfach nicht gefallen, bleiben ebenfalls
liegen: „Ich nehme das, was zu mir spricht“, sagt Caveng.
Während die meisten Leute in den zahlreichen Ansammlungen von Klamotten am
Straßenrand nichts weiter als Müll sehen, oder sie gar nicht erst bemerken,
sucht Caveng nach ihnen. Fast jeden Tag. Sie ist geradezu fasziniert von
der „textilen Architektur“, wie sie die Kleiderhaufen am Straßenrand nennt.
Denn es sei so vieles, was man an ihnen ablesen könne. Etwa die Geschichte
dahinter – wie landet die Kleidung auf der Straße?
„Einmal habe ich sogar die Polizei gerufen, weil die Klamotten so aussahen,
als ob da jemand mit Gewalt ausgezogen wurde“, sagt Caveng. Auch könne man
vieles über die Gesellschaft erfahren, in der wir leben: „Die Kleider an
den Quartieren von Obdachlosen zum Beispiel zeigen Berlins Mietenproblem“,
meint sie.
An einer Kreuzung kommen wir an einem Einkaufswagen vorbei, der mit
Klamotten überladen ist. „Jede Woche sind da neue Sachen drin“, Caveng
findet das besorgniserregend. „Daran sieht man doch, dass die Menschen
völlig den Bezug zu ihrem Besitz verloren haben“, sagt sie. „Unglaublich
oft finden wir Kleidung in tadellosem Zustand. Wir leben hier im totalen
Überfluss, und deswegen müssen andere leiden.“
Denn der Konsumüberfluss (nicht nur) im Reuterkiez hat katastrophale Folgen
in anderen Teilen der Welt. Die Arbeitsbedingungen in der Produktion von
Mode sind prekär, und das Geschäft mit Second-Hand-Kleidung ist von
kolonialen Strukturen durchzogen. Neben dem Recyclingalltag will Streetware
auf beides aufmerksam machen: etwa mit Paneldiskussionen und
Filmdarstellungen.
Heute begleiten auch zwei Gäste aus Uganda die Tour zum Lumpensammeln, der
Fotograf Jim Joel Nyakaana und die Schriftstellerin Beatrice Lamwaka.
Caveng hat mit beiden bereits in Kampala, der Hauptstadt von Uganda,
zusammengearbeitet. Der Umgang mit gebrauchter Kleidung in Europa ist allen
dreien eine Herzensangelegenheit. Denn Jahr für Jahr werden tonnenweise
Klamotten aus Europas Altkleidercontainern nach Ost- und Westafrika
geschifft.
Das heißt einerseits, dass dort viele Zugang zu billiger Kleidung haben.
Fast jeder in Kampala kaufe in den Second-Hand-Einkaufszentren ein, die
immer größer werden, sagt Nyakaana. Aber Ugandas Textilienmarkt, der früher
ein wichtiger Wirtschaftszweig war, sei durch die Importe völlig überflutet
worden. Lokale Anbieter hätten gegen die billige Kleidung aus Europa keine
Chance. In anderen Teilen Ost- und Westafrikas sei es ähnlich. Letztendlich
liege es an der Politik, den Handel zu unterbinden. Den Ansatz des
Kunstprojektes fände er trotzdem spannend, sagt der Fotograf. „Es ist
wichtig, dass das Problem hier Aufmerksamkeit bekommt“, meint er.
Wir beenden die Tour am U-Bahnhof Leinestraße, der Wäscheständer ist voll.
Die KünstlerInnen reinigen die Kleider im eigenen Waschsalon, entfernen das
kleine „Made in …“-Zettelchen und nähen das eigene schwarz-weiße Logo
„Streetware Saved Item“ drauf. Das prangt dann meist nicht versteckt innen
an der Naht, sondern ziert teils auch den Ärmel oder die Kapuze. Kaputte
Stücke flicken und verschönern sie.
Und sie freuen sich, wenn die Stücke dann benutzt und wieder auf den
Straßen Neuköllns – oder anderswo – getragen werden: Viele kann man in der
Helene-Nathan-Bibliothek gegen ein paar Euro Pfand ausleihen (siehe
Kasten). Wer eins besonders schön findet, lässt den Pfand einfach da und
behält das Kleidungsstück.
9 Dec 2021
## LINKS
[1] https://streetware-saved-item.net/
[2] /Berliner-Kunst--und-Modeprojekt/!5760107
## AUTOREN
Manuel Aguigah
## TAGS
Recycling
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Mode
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