# taz.de -- Corona in Sachsen: Jeder ist sauer auf jeden | |
> Wegen hoher Inzidenzen und voller Kliniken fallen die Weihnachtsmärkte im | |
> Erzgebirge kurzfristig flach. Schuldzuweisungen fliegen hin und her. | |
Bild: Erster Schnee auf der Höhe und Corona im Tal: Straße zum Gipfel des Fic… | |
Deprimierender kann ein Weihnachtsmarkt kurz vor dem Ersten Advent nicht | |
aussehen. Ist es erzgebirgischer Trotz, dass schon am dritten Tag nach | |
Inkrafttreten der neuen sächsischen Coronaschutzverordnung keine einzige | |
Bude mehr auf dem Annaberger Markt steht? Ohne Lichter und Figuren wirkt | |
die 10,5 Meter hohe Holzpyramide, das Wahrzeichen des wohl populärsten | |
erzgebirgischen Weihnachtsmarkts, wie eine stumme Mahnung. Dunkel wacht die | |
mehr als doppelt so hohe Fichte über den leeren Platz. Für die Kinder steht | |
noch eine Märchenbilderwand, als bescheidener Trost für den sonst im | |
sprichwörtlichen Weihnachtsland üblichen Adventszauber. | |
Im Internet kündigt die Seite des Tourismusverbands Erzgebirge an diesem | |
Donnerstag weiterhin die Eröffnung des Annaberger Weihnachtsmarkts für den | |
26. November an. Passanten entlockt das nur Hohngelächter. Auf dem | |
Youtube-Kanal der Staatsregierung kann man derweil die Pressekonferenz vom | |
19. November ansehen, in der [1][die sächsische Sozialministerin Petra | |
Köpping (SPD)] zur Rubrik „Großveranstaltungen“ den Satz sprach: „Hier … | |
einfach alles untersagt, auch Weihnachtsmärkte, landestypische | |
Veranstaltungen oder Messen.“ | |
Von dieser Passage in der schärfsten Coronaschutzverordnung eines | |
Bundeslands wurden die Kommunen in Sachsen ebenso überrascht wie die Hotel- | |
und Gaststättenvereinigung Dehoga. Doch die Lage ist alarmierend: [2][Bei | |
über 2.000 lag die 7-Tage-Inzidenz am Freitagmorgen im Erzgebirgskreis], | |
der höchste Wert deutschlandweit. Wegen drohender Krankenhausüberlastungen | |
dürfen Hotels keine Touristen mehr aufnehmen, Kneipen müssen um 20 Uhr | |
schließen. | |
„Wir glauben vorerst an die Kontinuität der sächsischen | |
Schutzverordnungen“: Mit diesen Worten hatte Dresdens Amtsleiter für | |
Wirtschaftsförderung, Robert Franke, einen Tag vor der Kabinettssitzung am | |
vorigen Freitag Optimismus zu verbreiten versucht. Da filmten Journalisten | |
noch die Beleuchtungsprobe für den fertig aufgebauten traditionsreichen | |
587. Dresdner Striezelmarkt, der am Montag hätte öffnen sollen. Mit | |
breiteren Wegen, weniger Buden, dem Verzicht auf Kinder- und | |
Kulturprogramm, 2G-Auflagen und 20 zusätzlichen Kontrollpersonen glaubte | |
man sich auch in Dresden bis zuletzt auf der sicheren Seite. | |
## Ein Schock für strapazierte sächsische Gemüter | |
Zwölf Bürgermeistern bekannter Erzgebirgsstädte wie Annaberg-Buchholz, | |
Freiberg, Olbernhau, oder Schwarzenberg schwante indes nichts Gutes. In | |
einem offenen Brief an die Landesregierung hatten sie schon in der ersten | |
Novemberhälfte verlässliche Regeln für die Weihnachtsmärkte gefordert. | |
Vergeblich. Das vergangene Wochenende bedeutete einen Schock für die | |
Städte, die Händler – und das strapazierte Gemüt der Sachsen. Im Vorjahr | |
war die Marktschließung zumindest rechtzeitig angekündigt worden. | |
Zwickau am Einstieg ins Erzgebirge ist nicht nur eine alte Bergbau- und | |
Industriestadt und war im vergangenen Jahr Zentralort der Landesausstellung | |
zur Industriekultur. Der Weihnachtsmarkt lag bei Prämierungen in Sachsen, | |
etwa durch den MDR, oft an der Spitze. Vielleicht weil der Hauptmarkt am | |
Rathaus und am frisch sanierten Gewandhaus so malerisch gelegen ist, | |
vielleicht weil die Vielfalt unter den Passantinnen und Passanten das Bild | |
auflockert. Noch am vergangenen Wochenende schien sich die Stadt gegen die | |
Marktschließung wehren zu wollen, ähnlich wie einige Thüringer Städte mit | |
der Landeshauptstadt Erfurt an der Spitze. Nur widerwillig fügte man sich | |
schließlich. | |
Die verrammelten Buden stehen noch da, aber an einer trifft man schon | |
Händler bei der Demontage. „Eigentlich alles scheiße, man hätte einfach | |
offenlassen sollen“: So entlädt sich die Empörung von einer Leiter herab. | |
„Wenn wir mehr Idiotentests machen, finden wir auch mehr Idioten“, ätzt | |
der Standbetreiber sarkastisch und murmelt im Gehen noch: „Die wollen uns | |
kaputtmachen!“ Seinen Stand wird er nicht noch einmal aufbauen, sollte nach | |
Auslaufen der gegenwärtigen Verordnung am 12. Dezember doch noch eine | |
Lockerung kommen. Daran glaubt in ganz Sachsen ohnehin niemand. Die meisten | |
Kultureinrichtungen haben schon für den Rest des Jahres geschlossen. | |
Auf einer Bank am Zwickauer Markt sitzen aber auch zwei sehr junge Frauen, | |
von denen eine gerade eine Schicht im Krankenhaus hinter sich hat. Sie | |
hätte auch gern wieder einen weihnachtlichen Markt, aber auf Station sei | |
sie ständig mit Coronapatienten beschäftigt und finde die Maßnahmen deshalb | |
richtig. Ihre Freundin hatte selbst vorab schon ein Lungenleiden und sieht | |
es ähnlich: „Für mich reicht unter Umständen schon ein Vorbeilaufen …“… | |
Passant vermisst das Flair, wagt aber keine eindeutige Positionierung. „Wo | |
soll es hinführen, wenn nichts unternommen wird?“, fragt er rhetorisch. | |
Unweit, im Haus der Touristeninformation, sitzt Matthias Rose von der | |
städtischen Tochtergesellschaft Kultour Z. Nicht ohne Wehmut berichtet er | |
von den Vorbereitungen, vom Wettbewerb mit anderen Städten um Zäune, | |
Handwerker, Sicherheitsausrüstung und Kontrollkräfte. Anders als vor einem | |
Jahr habe man bis zuletzt alles hergerichtet und im Vertrauen auf bisherige | |
Verordnungen an einen Markt geglaubt. | |
Rose gibt sich moderat im Ton, aber mit Kritik an mangelnder Stringenz und | |
Kontinuität der Landespolitik spart auch er nicht. „Schon im September | |
hätte man anhand der Voraussagemodelle eine ehrliche Prognose geben | |
können“, ist er überzeugt. „Mit diesem Info-Vorsprung hätte man nicht so | |
viel Geld verbrennen müssen!“ Den Schaden allein für die Stadt setzt er „… | |
unteren sechsstelligen Bereich“ an, und was die Händler nun an | |
(Fehl-)Investitionen versenkt haben, sei noch gar nicht zu beziffern. | |
Rose erwähnt die internationale Gesellschaft für Aerosol-Medizin, die | |
Weihnachtsmärkte im Freien bei Einhaltung von Abstandsgeboten für | |
vertretbar hält. | |
## Sarkasmus und Ärger über Impfunwillige: „Ich, Ich, Ich!“ | |
In Annaberg, der heimlichen Hauptstadt des Erzgebirges, trifft man auf eine | |
gemischte Resonanz. Im Rathaus wollte zumindest die Stadtsprecherin Zeit | |
für ein Gespräch mit der taz finden. Doch am Morgen des geplanten | |
Interviewtags musste sie sich krank melden – Covid positiv. Ihre Vertretung | |
wimmelt nach kurzer Rücksprache mit der Stadtspitze jeden Kontakt ab. Der | |
Frust nach fehlgeschlagener Intervention bei der Landesregierung sitzt | |
augenscheinlich tief. Eine Nachfrage in der Staatskanzlei nach | |
Konsultationen mit den Kommunen vor den Markt- und Tourismusschließungen | |
wird ebenfalls nicht beantwortet. | |
Auf dem unweihnachtlich verwaisten Annaberger Markt ist es ein junger, hier | |
lebender Marokkaner, der seine Trauer mit einem schlichten „Schlimm!“ am | |
überzeugendsten bekundet. „Man hätte eine andere Lösung finden können“, | |
meint er, und: „Die Leute haben keine Lust mehr.“ – „Hervorragend! Kön… | |
nicht besser sein!“, flüchtet sich ein anderer Anwohner in Sarkasmus. | |
„Während die Buden standen, konnte zumindest nicht demonstriert werden“, | |
setzt er noch hinzu und verweist damit auf die schon [3][sprichwörtliche | |
Renitenz der „Arzgebirger“]. | |
Vor allem im nahen Zwönitz demonstrieren ein- bis zweihundert Gegner von | |
Impfungen und Schutzmaßnahmen gegen das Virus schon seit Wochen, und das | |
jeden Montag. Eine Zielscheibe ist dabei auch Ministerpräsident Michael | |
Kretschmer, an dem die Kritik in ganz Sachsen wächst. „Schießt ihn ab!“, | |
forderte unlängst ein Plakat. Immerhin: Die in solchen Fällen eher | |
zurückhaltende [4][Polizei in der Region] hat die Ermittlungen aufgenommen. | |
Ein Paar aus dem badischen Freiburg, echte Weihnachtsmarktfans, extra für | |
den Budenzauber angereist, musste in diesem Jahr eine andere Unterkunft als | |
ein Hotel finden und vermisst die gewohnte Annaberger Atmosphäre. „Man ist | |
hier resigniert“, beobachten sie. Und diese Resignation kann nur wachsen, | |
sollten sie von der Eröffnung ihres heimischen Weihnachtsmarkts im Breisgau | |
berichten – mit 15.000 Besuchern „eng an eng“ unter 2G-Bedingungen. | |
Zwei Schüler kommen über den Markt, die zwar Mitleid mit den Händlern | |
bekunden, aber die klare Absage statt eines „ewigen Streits“ begrüßen. Und | |
zwei ältere Damen spazieren mit ihren Enkeln vorbei und lassen etwas von | |
dem Fatalismus erahnen, mit dem die Gebirgsbewohner etwa nach dem | |
Niedergang des Bergbaus bewältigten: „Es ist halt, wie es ist, und damit | |
müssen wir klarkommen“, sagte die eine und zuckt mit den Achseln. Die Leute | |
seien oft unvernünftig, klagt die andere über impfunwillige Nachbarn: | |
„Es ist halt nicht mehr so wie früher, dass jeder auf den anderen Rücksicht | |
nimmt, nur ‚ich, ich, ich!‘ “ | |
## Wirte und Hoteliers wollen klagen | |
Auch 25 Kilometer bergauf in Oberwiesenthal am Fichtelberg ist die Wut auf | |
Ungeimpfte groß. Die Gäste seines Elldus-Hotels habe er am Montag alle nach | |
Hause schicken müssen, sagt der Betreiber Jens Ellinger. Er ist zugleich | |
Vizechef des Dehoga-Landesverbands, der nach dem ersten Entwurf der | |
Schutzverordnung nicht mit einer Schließung rechnete. Der Verband wird | |
Musterklagen eines Hoteliers und eines Gastwirts auf einstweilige Verfügung | |
gegen die Verordnung unterstützen. Schon vor einem Jahr habe man darauf | |
hingewiesen, dass Gaststätten und Hotels keine Pandemietreiber sind. | |
„Jetzt werden wir den Ungeimpften gleichgestellt und müssen ausbaden, was | |
die Politik versäumt hat“, wettert der gebürtige Sachse und Hotelchef, | |
sowohl gegen die Landesregierung als auch gegen seine uneinsichtigen und | |
„egoistischen“ Landsleute. Die Minderheit der Ungeimpften bestimme jetzt | |
über die Mehrheit. Auch der Vertrauensvorschuss gegenüber Sozialministerin | |
Köpping sei wegen der überfallartigen Schließungen aufgebraucht. Die | |
Stimmung liege doppelt am Boden, „einmal bei den Verweigerern aller | |
Schutzmaßnahmen, und auch bei den Enttäuschten, deren Mühe bei | |
Vorsichtsmaßnahmen nicht belohnt wird“. Nun werde wohl in noch engerem | |
Kreis privat gefeiert. | |
Unterdessen dreht sich in Dresden unbeeindruckt von allem Unmut die | |
Pyramide weiter, und der Striezelmarkt ist tagsüber festlich beleuchtet. | |
Viele Buden stehen noch, als bestünde noch die Chance auf eine Öffnung. Das | |
Bild täuscht über den Streit und Schuldzuweisungen im Hintergrund hinweg – | |
und über die dramatische Pandemiesituation. Der ehemalige FDP-Landeschef | |
Holger Zastrow beklagt allein für den Augustusmarkt am Goldenen Reiter in | |
Dresden einen Schaden von einer halben Million Euro und will diesen | |
juristisch einfordern. Oberbürgermeister Dirk Hilbert wiederum schiebt die | |
Verantwortung der Landesregierung zu, die die Kommunen bis zum Tag des | |
Verbots mit der Entscheidung über die Märkte hängen gelassen habe. | |
27 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Bundesland-mit-hoechster-Inzidenz/!5815305 | |
[2] /Coronalage-in-Ostdeutschland/!5812594 | |
[3] /Pandemie-in-Sachsen/!5817403 | |
[4] /Coronakrise-trifft-Behoerden/!5813923 | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Weihnachten | |
Sachsen | |
Märkte | |
Weihnachtsmärkte | |
GNS | |
Coronaleugner | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Polizeipräsident über Coronademos: „Polizei kann nicht überall sein“ | |
Laut Sachsens Polizeipräsident Horst Kretzschmar gebe es nicht genug | |
Einsatzkräfte, um allen Demos zu begegnen. Dass Beamte mit den Protestlern | |
sympathisieren, streitet er ab. | |
Corona und Weihnachtsmärkte: Getrübte Adventszeit | |
Hätte die Politik so vorausschauend agiert wie die Betreiber der | |
Weihnachtsmärkte, müsste es keine Einschränkungen geben. Die Händler trifft | |
es hart. | |
Intensivarzt zur Coronalage in Sachsen: „Ungeimpfte machen mich wütend“ | |
In Sachsen könnten bald alle Kliniken an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, | |
sagt der Intensivarzt Uwe Krause. Kritik übt er an den politisch | |
Verantwortlichen. | |
Nachrichten in der Coronakrise: Spahn fordert langfristig 2G | |
In Hessen wurden bei einem Reiserückkehrer aus Südafrika für Omikron | |
typische Mutationen gefunden. Es gibt weitere Verdachtsfälle. Das RKI | |
meldet 67.125 Neuinfektionen. | |
Corona-Drama in Deutschland: Schlimmer geht’s immer | |
Wöchentlich sterben Hunderte an Covid, aber wirksame Coronamaßnahmen sind | |
Fehlanzeige. Es wäre Zeit für eine politische Triage. | |
Vierte Corona-Welle in Deutschland: Kein Weg vorbei am harten Lockdown | |
Die neuen Rekordzahlen und die völlige Überlastung der Krankenhäuser machen | |
einen Lockdown unausweichlich. Er hätte verhindert werden können. | |
Coronalage in Ostdeutschland: Bis zum Limit | |
Nirgends ist die Inzidenz so hoch und die Impfquote so niedrig wie in | |
Sachsen. Thüringen hofft auf den Wintersport, Sachsen-Anhalt auf Kultur. | |
Länder verschärfen Coronaregeln: Was gilt wo? | |
Die Coronazahlen explodieren und immer mehr Bundesländer beschließen | |
strenge Regeln für Ungeimpfte. Eine Übersicht mit Karte. |