# taz.de -- Klimakonferenz in Glasgow: Die magische Zahl | |
> Die Erderhitzung bei 1,5 Grad zu stoppen ist im Klimaschutz das Maß aller | |
> Dinge. Machbar ist das kaum. Trotzdem steht dahinter eine | |
> Erfolgsgeschichte. | |
Bild: Rehe nahe einer kalifornischen Stadt, die durch einen Waldbrand im August… | |
Armin Laschet kam kaum zu Wort. „Man hat in Paris gesagt, Klimaneutralität | |
bis 2050 …“, begann der CDU-Kanzlerkandidat am 9. Mai bei „Anne Will“. … | |
Luisa Neubauer schnitt ihm das Wort ab: „Global, nicht für Deutschland, | |
großer Unterschied!“, warf die Sprecherin von Fridays for Future ein. | |
Laschet versuchte es nochmal: „Aber Deutschland hat sich verpflichtet, 2050 | |
…“ – „Nein!“, unterbrach Neubauer wieder. Deutschland habe das [1][Pa… | |
Abkommen] unterzeichnet, aber „1,5 Grad und Klimaneutralität 2050, das sind | |
zwei verschiedene Welten“, sagte die Frontfrau der Jugendbewegung. Niemand | |
in der Runde widersprach. Punktsieg für Neubauer. Und für das | |
1,5-Grad-Ziel. | |
Dieses Ziel hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Das Versprechen, die | |
globale Erderhitzung bis 2100 auf maximal 1,5 Grad Celsius über die | |
Mitteltemperatur von 1850 bis 1900 steigen zu lassen, ist weltweit zur | |
Messlatte für gute Klimapolitik geworden. | |
Der UN-Generalsekretär fordert das ebenso wie der Schauspieler Arnold | |
Schwarzenegger, die schwedische Aktivistin Greta Thunberg und die Autobauer | |
von BMW und Ford. In ihrem Sondierungspapier schreibt die potenzielle | |
Ampelkoalition: „Wir sehen es als unsere zentrale gemeinsame Aufgabe, | |
Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen.“ | |
## Nur ein ambitionierter Arbeitsauftrag | |
Dabei wurde das Ziel so gar nicht in Paris beschlossen, sondern nur als | |
ambitionierter Arbeitsauftrag formuliert. Seit 2015 wird es immer | |
populärer, während es die steigenden Emissionen immer mehr gefährden. Die | |
unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte des 1,5-Grad-Ziels zeigt aber auch, | |
welche unerwartete Dynamik Klimapolitik bekommen kann. | |
„Die 1,5 Grad hatte bis zum Schluss niemand wirklich auf dem Zettel“, | |
erinnert sich Jochen Flasbarth, SPD-Staatssekretär im | |
Bundesumweltministerium. Er war einer der Verhandler in Paris. Denn seit | |
der ansonsten gescheiterten Konferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 galt | |
„unter 2 Grad“ als Richtschnur. Aber schon in Kopenhagen forderten vor | |
allem die Inselstaaten „One point five to stay alive“. 1,5 Grad, damit sie | |
überleben könnten. | |
Der Slogan wurde allerdings kaum ernst genommen. Auch nicht von der | |
Wissenschaft. „Wir waren die Außenseiter, die Papiere und Modellrechnungen | |
vorlegten, die sich mit 1,5 Grad als Ziel beschäftigten“, erinnert sich der | |
Klimaforscher Carl-Friedrich Schleussner vom Thinktank Climate Analytics. | |
Für den fünften Bericht des UN-Klimarats IPCC von 2014 „hätte man natürli… | |
auch Szenarien für 1,5 Grad rechnen lassen können, aber das hatte niemand | |
auf dem Radar“. Auch der große Unterschied zwischen 1,5 und 2 Grad, den der | |
IPCC erst 2018 in einem Sonderbericht feststellte, sei da im Prinzip schon | |
klar gewesen: „Eine Erwärmung um 2 Grad ist zu viel.“ | |
## Froh, überhaupt ein Ziel zu haben | |
Doch Politik und Wissenschaft in den Ländern mit dem größten CO2-Fußabdruck | |
hielten an den 2 Grad fest. KlimaschützerInnen waren froh, überhaupt ein | |
Ziel zu haben. | |
„Das hat etwas sehr Wichtiges geliefert“, sagt ein altgedienter | |
Klimadiplomat, „es hat das abstrakte Ziel der Klima-Rahmenkonvention in | |
eine konkrete Zahl übersetzt.“ Dieses Ziel besteht darin, eine „gefährlic… | |
menschengemachte Störung des Klimasystems zu verhindern“, wie es die schon | |
1992 verabschiedete Konvention forderte. | |
Mit diesem Ziel begann auch die entscheidende Konferenz in Paris im | |
Dezember 2015. Der deutsche Pavillon, ein einfacher Verschlag aus | |
Sperrholz, der allerdings mit einer begehrten und umlagerten | |
Espressomaschine gesegnet war, hatte als Logo groß „Below Two Degrees“ an | |
den Wänden stehen. Weil Gerüchte aufkamen, Umweltgruppen wollten den Slogan | |
als PR-Aktion in „1,5 Grad“ umwandeln, luden die Deutschen schnell den von | |
allen respektierten Verhandler der Marshallinseln Tony de Brum ein, | |
erinnert sich Jochen Flasbarth. | |
Auf einer improvisierten Veranstaltung erklärte de Brum daraufhin, die | |
Deutschen seien verlässliche Partner der kleinen Inselstaatengruppe Aosis. | |
Er setze volles Vertrauen in sie. Flasbarth selbst sagte: „Deutschland | |
unterstützt die Forderung nach 1,5 Grad“ – wohl wissend, dass das weder die | |
deutsche noch die abgestimmte EU-Position war. Nachrichtenagenturen | |
meldeten das in die Welt. „Ich bekam dann einen Anruf aus dem Kanzleramt, | |
was das denn solle“, erinnert sich Flasbarth. „Ich habe denen gesagt: Das | |
sagt man hier so auf der Konferenz, und dann hat keiner mehr nachgefragt.“ | |
## Eine rote Linie | |
Auf der Konferenz wurde das 1,5-Grad-Ziel immer wichtiger. „Für uns | |
Inselstaaten war das eine rote Linie“, erzählt James Fletcher, damals | |
Energieminister der Karibikinsel St. Lucia. „Wir waren entschlossen, daran | |
festzuhalten und zur Not die Verhandlungen platzen zu lassen. Wir hatten | |
schon zu viele ergebnislose Konferenzen gesehen.“ | |
Trotzdem weiß Fletcher nicht, wie die 1,5 Grad in den Text kamen, gibt er | |
zu. „Ich habe mit den Arabern geredet, die sagten: Keine Chance, das | |
bedroht unsere Wirtschaft. Und mit einem Verhandler aus Argentinien, der | |
sagte: Ich fühle mit euch mit, aber 1,5 Grad bedeutet, dass wir kein | |
Rindfleisch mehr verkaufen. Das geht nicht.“ | |
Dass die Passage im Endtext auftaucht, sei erst „sehr früh am Morgen des | |
letzten Tages“ entschieden worden, erinnert sich Laurence Tubiana, damals | |
Klimagesandte der französischen Regierung und rechte Hand von Außenminister | |
Fabius, die hinter den Kulissen die Fäden zog. „Vor allem die Saudis und | |
die Chinesen waren strikt dagegen.“ | |
Eines allerdings sei diesen Ländern noch wichtiger gewesen: dass die | |
„gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung“ der Länder in den Text | |
kam. Diese Formulierung verpflichtet die alten Industrieländer zu mehr | |
Klimaschutz als Schwellenländer wie China. „Davon waren sie regelrecht | |
besessen. Und im Austausch dazu kamen die 1,5 Grad in den Text. Das war | |
unsere Balance.“ | |
## Die „Koalition der Hohen Ambition“ | |
Martin Kaiser, der in Paris für Greenpeace Gespräche führte, lobt das | |
Geschick der französischen Konferenzleitung. „Sie hat es meisterhaft | |
verstanden, die Forderungen von allen Seiten so aufzunehmen, dass der Text | |
von mehr und nicht von weniger Ehrgeiz geprägt wurde.“ | |
Als sich die „Koalition der Hohen Ambition“ aus Inselstaaten, EU, USA und | |
anderen fortschrittlichen Nationen hinter die 1,5 Grad stellte, war das | |
Ziel erreicht: Am Abend des 12. Dezember wurde unter dem Jubel der | |
Delegierten das Abkommen verabschiedet. Und mit ihm in Artikel 2 (a) das | |
Ziel, „den globalen Temperaturanstieg deutlich unter 2 Grad zu halten und | |
Anstrengungen zu unternehmen, ihn auf 1,5 Grad zu begrenzen.“ | |
Wohlgemerkt: Die Staaten hatten nur vereinbart, sich anzustrengen. Doch | |
2018 legte der IPCC ein Gutachten vor, in dem der Unterschied zwischen | |
einer Erderwärmung um 1,5 oder um 2 Grad deutlich wurde: Bei 2 Grad sind | |
praktisch alle Korallenriffe tot, der Meeresspiegel steigt um zehn | |
Zentimeter mehr an, zehn Millionen Menschen verlieren ihre Heimat, „einige | |
hundert Millionen Menschen“ sind zusätzlich von Armut bedroht. | |
Außerdem rückten „Kipppunkte“ mit unkalkulierbaren Folgen wie dem Absterb… | |
des Amazonas-Regenwalds und dem Auftauen aller Gletscher und | |
Permafrostböden näher. „Selbst als jemand, der seit Jahren mit diesen | |
Problemen vertraut war, war ich überrascht von den Unterschieden“, sagt | |
Jochen Flasbarth. | |
## Das Verfassungsgericht adelte die Sichtweise der „Fridays“ | |
Praktisch gleichzeitig mit dem „1,5-Grad-Bericht“ des IPCC begann Greta | |
Thunberg ihren Schulstreik. Sie mahnte die Delegierten der | |
[2][Klimakonferenz in Kattowitz], sie würden die Zukunft der kommenden | |
Generationen verschleudern. Monate später liefen Millionen von Menschen | |
durch die Metropolen der Welt. Sie forderten Klimaschutz – und die | |
Einhaltung von „1,5 Grad“, die angesichts von Waldbränden und Dürresommern | |
zur Hoffnungschiffre wurden. | |
1,5 Grad fordern, um wenigstens „deutlich unter 2 Grad“ zu erreichen, so | |
stellt sich die Debatte oft dar. Auch bei der Berechnung des verbleibenden | |
„Budgets“ an CO2, das die Welt noch ausstoßen kann. Der Sachverständigenr… | |
für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU), ein externes Beratungsgremium, | |
hat kalkuliert, Deutschland dürfe ab 2020 noch 6,7 Milliarden Tonnen CO2 | |
emittieren. Der „Budget“-Ansatz (den die Bundesregierung ablehnt, weil | |
nicht im Pariser Abkommen angelegt) ist noch gnädig mit der Politik. Er | |
toleriert 1,75 Grad Erwärmung. | |
Wie groß die Wirkung von 1,5-Grad-Ziel und „Budget“ trotz allem ist, zeigt | |
der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021, das ernsthaften | |
Klimaschutz forderte. Zwar erwähnen die RichterInnen den Text des Pariser | |
Abkommens, wonach 1,5 Grad nur anzustreben sind. Aber in der Begründung | |
zitieren die RichterInnen den Budgetansatz. Damit adelt das | |
Verfassungsgericht die Sichtweise der „Fridays“. Die Regierung reagierte: | |
Klimaneutral soll Deutschland bereits 2045 werden. Mehr Ökostrom soll | |
fließen. Doch auch diese Maßnahmen führen nach SRU-Berechnungen nicht auf | |
den Pfad der 1,5-Grad-Tugend. | |
Auch hat der Sieg des 1,5-Grad-Ziels im globalen Bewusstsein bisher keinen | |
ausreichenden Einfluss auf die realen Emissionen. Laut IPCC-Rechnung müssen | |
sich die globalen Emissionen von 2010 bis 2030 halbieren, damit die Welt | |
eine realistische Chance auf eine Erwärmung von nur 1,5 Grad behält. Doch | |
die weltweiten Treibhausgasemissionen aus fossilen Brennstoffen sind nicht | |
gesunken, sondern weiter gestiegen. | |
Auch in Deutschland sind „1,5“ keine Realpolitik. [3][Ein Gutachten im | |
Auftrag von Fridays for Future] rechnete vor, dass mit drastisch | |
verschärften Ökostromzielen, schnellem Kohleausstieg und Einschränkungen | |
beim Verkehr Klimaneutralität bis 2035 machbar wäre. Das Gutachten nahm | |
allerdings die Landwirtschaft aus der Rechnung heraus. | |
Immer noch planen Parteien, Verbände und Behörden im Alltag nicht mit dem | |
1,5-Grad-Ziel: „Bei den Verhandlungen der Kohlekommission wurde immer von | |
einem 2-Grad-Ziel ausgegangen“, berichtet Martin Kaiser, für Greenpeace | |
Mitglied des Gremiums. | |
Das zögerte den Ausstieg aus der Kohle bis 2038 hinaus. Vor den Toren | |
demonstrierten damals die „Fridays“: für 1,5 Grad. | |
31 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Zwischenbericht-zum-Paris-Abkommen/!5752250 | |
[2] /Klimagipfel-in-Kattowitz/!5559012 | |
[3] /Eckpunktepapier-von-Fridays-for-Future/!5717522 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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