# taz.de -- Konflikt in Äthiopien: Ab wann ist es Völkermord? | |
> In Äthiopien schreitet die Verfolgung der Tigrayer voran. Die Parallelen | |
> zur Vorbereitung des Genozids an Ruandas Tutsi 1994 sind unübersehbar. | |
Bild: In den Augen der äthiopischen Regierung nur Ungeziefer: tigrayische Rebe… | |
Wann beginnt ein Völkermord? Mit dem organisierten Abschlachten? Oder schon | |
mit der Vorarbeit? Juristisch gilt die erste Antwort. Für politische | |
Intervention ist die zweite maßgeblich. Um das Schlimmste zu verhindern, | |
darf man nicht warten, bis es eintritt. | |
In Äthiopien macht aktuell der Vorwurf „Tigray Genocide“ die Runde: Ein | |
Völkermord an der Volksgruppe der Tigrayer sei im Gange. Die | |
Tigray-Rebellen und ihre Sympathisanten deuten auf Massaker, | |
[1][Luftangriffe], die Blockade von Lebensmittellieferungen, Hassreden und | |
ethnische Verfolgung. Äthiopiens Regierung und ihre Freunde sprechen von | |
einer gezielten Kampagne, mit der eine Terrororganisation von den eigenen | |
Verbrechen ablenken und eine anerkannte Regierung untergraben wolle. | |
Die Gräben sind tief, wie Diplomaten erst dieser Tage wieder bei ihren | |
Vermittlungsversuchen feststellen. Es ist kaum möglich, über dieses Thema | |
zu schreiben, ohne von der einen oder anderen Seite der Parteilichkeit | |
bezichtigt zu werden. Nötig ist es trotzdem. Zu viel steht auf dem Spiel in | |
einem der größten Länder Afrikas, wo eine der ältesten Weltzivilisationen | |
zu Hause ist. Und zu ähnlich sind die Parallelen mit den Vorläufern des | |
Genozids an Ruandas Tutsi im Jahr 1994, obwohl Äthiopien nicht Ruanda ist | |
und der äthiopische Bürgerkrieg 2020–21 ein anderer ist als der in Ruanda | |
1990–94. | |
In Ruanda marschierte 1990 die unter Exil-Tutsi in Uganda entstandene RPF | |
(Ruandische Patriotische Front) ein, um eine Rückkehr der von Hutu | |
verjagten Tutsi in die Heimat zu erzwingen. In Äthiopien hingegen ist die | |
TPLF (Tigray Volksbefreiungsfront) seit 1991 an der Macht gewesen – sie | |
beherrschte den Staat und vor allem das Militär bis zum Bruch mit | |
Reformpremier [2][Abiy Ahmed], der sie 2020 erst entmachtete und ihr dann | |
auch noch die Kontrolle über ihre Heimatregion Tigray zu nehmen versuchte. | |
Aber die Gewaltdynamik der beiden Kriege ist vergleichbar. In beiden Fällen | |
gibt es neben der militärischen Konfrontation eine zweite, innere Front: | |
Der angegriffene Zentralstaat erklärt eine als Ethnie definierte Gruppe zum | |
Feind, ihre Angehörigen werden kollektiv stigmatisiert, dämonisiert, | |
verfolgt, inhaftiert, massakriert – Tutsi in Ruanda damals, Tigrayer in | |
Äthiopien heute. | |
## „Mit Blut und Knochen begraben“ | |
Äthiopische Amtsträger bezeichnen Tigrayer öffentlich als Ungeziefer, | |
Unkraut, Schlangen, Hyänen, Teufelszeug und Krebsgeschwür. | |
Ministerpräsident Abiy Ahmed will „den Feind mit unserem Blut und unseren | |
Knochen begraben“. Für seinen Berater Daniel Kibret müssen die Tigrayer | |
„aus dem menschlichen Gedächtnis und Bewusstsein und aus den | |
Geschichtsbüchern ausgelöscht“ werden und „die letzten ihrer Spezies“ s… | |
– er behauptet, er meine nur die TPLF, aber der äthiopische Staat setzt | |
zugleich alle Tigrayer mit der TPLF gleich. | |
Seit die TPLF militärisch die Oberhand gewinnt, ist das nicht mehr nur | |
Rhetorik. Tausende Tigrayer wurden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit | |
verhaftet und verschleppt, verloren ihre Arbeitsplätze, Bankkonten und | |
Geschäftszulassung. Reisende berichten, wie Bewaffnete an Straßenkontrollen | |
auf dem Land Tigrayer aus Sammeltaxis holen und abführen. | |
Genauso ging Ruandas Hutu-Regime in den Jahren vor Beginn des organisierten | |
Massenmordes 1994 gegen Tutsi vor. Darin steckt eine zweite Parallele: das | |
Denkmuster, wonach sich doch bloß eine Bevölkerungsmehrheit gegen eine auf | |
Alleinherrschaft strebende Minderheit feudaler Sklavenhalter wehre, es also | |
um Demokratie gehe. Im straff organisierten Ruanda rief der Staat alle | |
jungen Hutu zur Verteidigung des Vaterlandes auf, zur Jagd auf Spione und | |
Verräter in der Nachbarschaft. | |
Im nicht minder straff organisierten Äthiopien wurden zuletzt alle Bürger | |
zur Registrierung ihrer Waffen und zur Selbstverteidigung ihrer Wohnviertel | |
aufgerufen; im Bundestaat Amhara, der an Tigray grenzt, werden Jugendliche | |
in Milizen mit Stöcken und Macheten ausgestattet. | |
## Gift des ethnischen Hasses | |
Wollte Äthiopiens Regierung tatsächlich einen Völkermord an den Tigrayern | |
vorbereiten, müsste sie genauso vorgehen, wie sie es jetzt tut. Die | |
Warnungen davor sind also berechtigt. In Äthiopien hat die | |
Weltgemeinschaft, [3][die 1994 in Ruanda so schändlich versagte], heute | |
eine historische Verantwortung. Dass Äthiopien mit seinen 120 Millionen | |
Einwohnern und seiner föderalen Struktur ein Vielvölkerstaat ist, in dem | |
Tigrayer nur eine von Dutzenden Minderheiten sind, ändert daran nichts – | |
vielmehr besteht das zusätzliche Risiko, dass das Gift des ethnischen | |
Hasses sich weiter ausbreitet. | |
Ruandas Hutu-Ideologen waren davon überzeugt, dass Ruandas Tutsi fremde | |
Eindringlinge aus Äthiopien seien. Während des Völkermordes warfen die | |
Hutu-Killer Tutsi-Leichen in den Fluss Kagera, einen Zustrom des Nils, um | |
sie symbolisch „zurück nach Äthiopien“ zu schicken – historisch und | |
geografisch Unsinn, aber tief verankert im Weltbild der Genozidtäter. Es | |
kursierten damals auch Parallelen zwischen Ruandas Tutsi und Äthiopiens | |
Tigrayern als dominante Minderheiten gegen Ruandas Hutu-Bauern und | |
Äthiopiens Oromo-Bauern als historisch entrechtete Mehrheiten. Der | |
Tigray-Konflikt öffnet alte Wunden weit über Äthiopien hinaus. | |
Wie hoch ist die Gefahr, dass wirklich ein Völkermord in Äthiopien | |
bevorsteht? Hier bietet Ruanda die dritte und beängstigendste Parallele: | |
Keine Zuspitzung der Kämpfe provozierte 1994 in Ruanda den Völkermord, | |
sondern ein Friedensprozess, wie ihn internationale Vermittler dieser Tage | |
in Äthiopien herbeizuführen versuchen. | |
1993 schlossen Ruandas Regierung und die Tutsi-Rebellen miteinander Frieden | |
nach drei Jahren Krieg, der Konflikt schien gelöst. Doch radikale | |
Hutu-Kräfte sabotierten den Friedensprozess, ermordeten den eigenen | |
Präsidenten Juvénal Habyarimana, ergriffen die Macht und starteten den | |
Genozid. Dieses düstere Vorbild sollte jeder im Kopf behalten, der heute | |
Äthiopien befrieden will. | |
15 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Bericht-zum-Krieg-in-Aethiopien/!5812983 | |
[2] /Eskalation-in-Aethiopien/!5809163 | |
[3] /Frankreichs-Rolle-beim-Genozid-1994/!5770128 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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