# taz.de -- Kinotipp der Woche: In Sachen Popkultur | |
> Das Musikfilmfestival Soundwatch zeigt Dokumentationen über Musikgenres, | |
> Popstars, randständige popkulturelle Phänomene und viele coole Frauen. | |
Bild: Genesis P-Orridge und Cosey Fanni Tutti (1969), Still aus „Other, Like … | |
Schonmal von der amerikanischen Rockband Fanny gehört? Die war Anfang der | |
Siebziger eine kleine Sensation. David Bowie gehörte zu ihren zahlreichen | |
Fans und bis heute beziehen sich vor allem Musikerinnen auf sie. Doch im | |
Großen und Ganzen erinnert sich kaum noch jemand an die Combo. | |
Diese gilt als erste rein weiblich besetzte Rockband überhaupt, die von | |
einer großen Plattenfirma unter Vertrag genommen wurde. Und wenn sie | |
auftrat, mussten auch die Typen im Publikum zugeben: Du meine Güte, die | |
können ja alle spielen wie die Teufelinnen. | |
Aus der großen Karriere wurde dann trotzdem nichts. Wobei die ja noch | |
kommen kann. Denn Fanny gibt es wieder. Und sie rocken immer noch. Wie | |
sehr, das zeigt sich in der Doku “[1][Fanny – The Right To Rock]“, die im | |
Rahmen der neuen Ausgabe des [2][Musikfilmfestivals Soundwatch] gezeigt | |
wird. | |
## Frauen im Fokus | |
Eine Woche lang werden hier wieder Dokumentationen über Musikgenres, | |
Popstars und randständige popkulturelle Phänomene wie eben Fanny [3][im | |
Lichtblick-Kino gezeigt]. Frauen in der Musik, das zeigt nicht nur der Film | |
von Bobbi Jo Hart über die drei wackeren Damen von Fanny, werden in diesem | |
Jahr besonders fokussiert. | |
Ein Portrait der Punk-Ikone Lydia Lunch wird genauso gezeigt wie eines der | |
Elektronik-Pionierin Delia Derbyshire. Und überhaupt wird verdeutlicht: die | |
Pophistorie ist weiblicher, als man vielleicht immer noch denken mag. | |
Das gilt auch für den Eröffnungsfilm des Festivals, für “[4][Other, Like | |
Me: an Oral History of COUM and Throbbing Gristle]“ von Dan Fox & Marcus | |
Werner Hed. Die Doku ist nicht nur die längst überfällige, endlich wirklich | |
gute Einführung in das Schaffen und Wirken von Throbbing Gristle, der | |
disruptivsten Band aller Zeiten. | |
Sondern sie versucht, nicht einmal mehr Genesis P. Orridge als | |
supercharsmatischen Leader in den Mittelpunkt zu rücken, sondern widmet | |
sich ausgiebig Cosey Fanni Tutti und ihrem Beitrag zu Throbbing Gristles | |
Radikalästhetik. Die Doku macht sich auch die Mühe, die lange Vorgeschichte | |
der Band nachzuzeichnen. | |
## Beeinflusst von den Wiener Aktionisten | |
Am Anfang war COUM Transmissions, eine Künstlergruppe Ende der Sechziger. | |
Beeinflusst von den Wiener Aktionisten veranstalte sie Happenings, bei | |
denen vor Publikum uriniert und sich nackt auf dem Boden herumgewälzt | |
wurde. Dann kam Cosey Fanni Tuttis Pin-Up- und Pornophase, ein neuer Weg, | |
sich selbst und die Machtverhältnisse zwischen sich und ihren Betrachtern | |
zu erforschen, wie sie sagt. | |
Das Footage der Doku ist exzellent. Man sieht viel von den | |
COUM-Performances und all die Sexheftchen, auf denen Cosey Fanni Tutti | |
damals abgebildet war, werden vor die Kamera gehalten. Mitte der Siebziger | |
wird aus COUM dann Throbbing Gristle, der Geist der Anti-Kunst wird auf | |
Anti-Musik übertragen. | |
Krach, Lärm und Synthesizer-Experimente prägen den neuen, sogenannten | |
Industrial-Sound. Ohne den es keinen Marilyn Manson geben würde und ohne | |
den die Musik im Berghain heute anders klingen würde. Die Doku ist der | |
Eröffnungsfilm des Soundwatch Festivals und wird als einzige [5][im SO36 | |
gezeigt]. Als Hommage an ein bahnbrechendes Konzert, das TG damals in dem | |
Berliner Club gegeben haben. | |
## Gesamtkunstwerk Lydia Lynch | |
Exzentrik, Tabubrecherei und Sexploitation, darum geht es natürlich auch in | |
“[6][Lydia Lunch – The War Is Never Over]“ von Beth B. Noch einmal wird in | |
diesem sehr gelungenen Musikfilm der Weg von Lydia Lunch als | |
No-Wave-Vorreiterin in New York Ende der Siebziger hin zu einem | |
Gesamtkunstwerk nachgezeichnet, das als Schauspielerin, | |
Spoken-Word-Künstlerin und weiterhin Musikerin ständig das Spannungsfeld | |
zwischen Sex und Gewalt auslotet. | |
Lunch spricht offen von ihren eigenen Erfahrungen als Opfer von sexuellem | |
Missbrauch. Der hat sie freilich nicht zerstört, sondern nur stärker | |
gemacht. Sie wurde zur Frau, die sich nimmt, was sie will und wen sie will | |
und für die bürgerliche Konventionen keine Rolle spielen. | |
Thurston Moore, ein alter Freund, berichtet beispielsweise davon, wie er | |
einmal mit Lunch in New York unterwegs war und diese meinte, sie müsse | |
jetzt unbedingt auf Toilette. Sie setzte sich dann auf die Treppe im | |
nächstbesten Hauseingang, zog die Hose runter und ließ es fünf Minuten lang | |
einfach laufen. Moore meint, eine wie Lunch habe er kein zweites Mal | |
kennengelernt. Und dass sie es mit ihrer aktuellen, super agressiven | |
Noiserockband Retrovirus immer noch drauf hat, kann man in der Doku auch | |
sehen. | |
## Cool bis zum Anschlag: St. Vincent | |
Weniger extrem als Lunch, aber auch ziemlich tough, ist die Sängerin und | |
Gitarristin St. Vincent, um die sich “[7][The Nowhere Inn]“ von Bill Benz | |
kreist. Was wie eine Doku über eine der interessantesten Popmusikerinnen | |
unserer Zeit wirkt, ist am Ende aber was anderes. Das ganze ist eher ein | |
Film, der scheinbar dokumentiert, wie eine Doku am Entstehen ist. Oder so | |
ähnlich. | |
Super originell und voller überraschender Wendungen. Aber auch ein Stück | |
weit zu arty, um einen auf Dauer wirklich zu fesseln. Trotzdem ist klar: | |
St. Vincent ist cool bis zum Anschlag. Überhaupt: Danke Soundwatch, für all | |
diese coolen Frauen, die bei euch gezeigt werden. | |
10 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://soundwatch.de/2021/programm/fanny | |
[2] https://soundwatch.de/2021/ | |
[3] https://www.lichtblick-kino.org/extra/2021/21_11_Soundwatch | |
[4] https://soundwatch.de/2021/programm/other_like_me | |
[5] https://www.so36.com/produkte/37141-tickets-opening-other-like-me-so36-berl… | |
[6] https://soundwatch.de/2021/programm/lydia_lunch | |
[7] https://soundwatch.de/2021/programm/the_nowhere_inn | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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