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# taz.de -- Geflüchtete vor Gericht in Griechenland: Die Not der Steuermänner
> Ayoubi Nadir überlebte nur knapp die Flucht, nun droht ihm Haft wegen
> angeblicher Schlepperei. Auch in anderen EU-Staaten mehren sich solche
> Fälle.
Bild: Italienische Behörden beschlagnahmten die „Iuventa“ bereits 2017
Es war um Mitternacht, vor genau einem Jahr: Am 8. November, die See ist
stürmisch, stößt ein Boot mit 24 Geflüchteten an die Klippen der
griechischen Insel Samos. Alle Insassen gehen über Bord. Unter ihnen sind
Ayoubi Nadir, damals 25 Jahre, aus Afghanistan und sein sechsjähriger Sohn
Yahya. Obwohl die griechische Küstenwache informiert wird, dauert es
mehrere Stunden, bis sie eintrifft. Das Kind überlebt den Unfall nicht.
Yahyas Leiche wird am nächsten Tag an der Küste angeschwemmt.
Der Vater, Nadir, ist aufgewachsen im Iran, später kam er in die Türkei,
sein Asylantrag wurde dort abgelehnt. Er lebte illegal und arbeitet auf dem
Bau. Von Yahyas Mutter ist er geschieden, er zieht das Kind allein auf.
Doch ihm droht die Abschiebung nach Afghanistan, wo er nie gelebt hatte.
2020 leiht er sich 1.500 Euro, will nach Österreich.
Stattdessen sitzt er seit einem Jahr in einer Gefängniszelle auf Samos.
Denn nach dem Bootsunglück werden zwei der Überlebenden festgenommen: Die
Behörden werfen Ayoubi Nadir „Kindeswohlgefährdung“ vor, ihm drohen desha…
bis zu zehn Jahre Haft. Ein zweiter Bootsinsasse namens Hasan wird wegen
des „unerlaubten Transport von 24 Drittstaatsangehörigen in griechisches
Hoheitsgebiet“ angeklagt. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe für den Tod
sowie weitere 10 Jahre Haft für jede transportierte Person – 230 Jahre plus
lebenslanger Haft.
Zum Jahrestag des Unglücks haben 70 Gruppen aus verschiedenen europäischen
Ländern, darunter die Berliner NGO Borderline Europe, die Kampagne
#FreetheSamosTwo gestartet. Sie soll Aufmerksamkeit auf den zunehmenden
Versuch lenken, Migrant:innen wegen des Steuerns von Booten zu
kriminalisieren – ein Phänomen, das „in ganz Europa auftritt, von
Griechenland über Italien und Malta bis nach Spanien“, wie es im Aufruf
heißt. Griechenland erhebe seit Jahren systematisch Anklagen wegen
„Schmuggels“, um Migration zu kriminalisieren.
## Eine neue EU-Richtlinie
„In Griechenland im Jahr 2021, [1][in einer Politik der systematischen
Push-Backs,] schaffen wir noch ein weiteres Hindernis für Schutzsuchende:
Selbst wenn du es hierher schaffen solltest, werden wir dich
kriminalisieren“, sagt Dimitris Choulis, der Anwalt von Nadir und Hasan.
„Das kann nicht das Gesetz sein. Das ist unmenschlich. Das muss illegal
sein“, sagt der angeklagte Vater Nadir laut dem Kampagnenaufruf. „Wollen
sie mich wirklich für den Tod meines Sohnes verantwortlich machen? Er war
alles, was ich hatte.“
Dass Ayoubi Nadir sich womöglich wirklich auf ein Leben im Gefängnis
einstellen muss, zeigt ein Verfahren, das nur fünf Tage nach dem Beginn
seines eigenen auf der Nachbarinsel Lesbos abgeschlossen wurde. Dort
verurteilte die griechische Justiz den 27-jährigen Somalier Mohamad H. zu
146 Jahren Haft. Ähnlich wie Ayoubi Nadir hatte H. am 2. Dezember 2020
versucht, zusammen mit 33 weiteren Personen, darunter drei Kindern, auf
einem Schlauchboot Griechenland zu erreichen. In der Ägäis geriet das Boot
in Seenot, die Gruppe sandte ein Notsignal aus. H. versuchte, das Boot zu
steuern. Doch das Boot kenterte, zwei junge Frauen überlebten nicht.
Solche Urteile häufen sich, nicht nur in Griechenland. Hintergrund ist eine
EU-Richtlinie aus dem Jahr 2011. Sie sollte den Schutz der Opfer von
Menschenhandel verbessern und verlangte dazu von den EU-Mitgliedstaaten die
Einführung einer Mindeststrafe von 10 Jahren für Schlepperei, wenn die Tat
„im Rahmen einer kriminellen Vereinigung“ begangen wurde oder das Leben der
Opfer gefährdete. Eine weitere EU-Initiative aus dem Jahr 2015 hob auf,
dass mutmaßliche Schlepper mit Gewinninteresse handeln müssen, damit sie
strafrechtlich verfolgt werden können – Jurist:innen nennen das heute
Solidarity Crime.
In den folgenden Jahren zogen die EU-Staaten ihre entsprechenden Strafmaße
an. Ab etwa Mitte des vergangenen Jahrzehnts stieg das Risiko, für lange
Zeit in Gefängnis zu kommen, an – und die Schlepper:innen vermieden es
deshalb, Boote selber zu steuern. Sie überließen dies immer öfter den
Insassen der Flüchtlingsboote – ohne dass diese freilich entsprechende
Fähigkeiten hätten. So kam es immer wieder zu teils tödlichen Unfällen –
und einer juristischen Verfolgung der Geflüchteten. Das bloße Steuern der
Boote reicht für diesen Vorwurf aus.
[2][Und auch Helfer:innen geraten ins Visier der Justiz.] Amnesty
International versucht in diese Tagen Aufmerksamkeit für den Fall von Séan
Binder zu schaffen. Binder hatte sein Studium der Internationalen Politik
in London unterbrochen, um 2017 und 2018 als freiwilliger Rettungstaucher
für eine NGO auf der griechischen Insel Lesbos zu arbeiten. Dort hielt er
nach Booten in Seenot Ausschau, kümmerte sich um Schiffbrüchige. Im August
2018 wird er festgenommen und nach rund drei Monaten U-Haft gegen Kaution
freigelassen. Die griechische Regierung wirft ihm „Spionage“, „Schleppere…
und „Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk“ vor. Ihm drohen bis zu
25 Jahre Haft.
## Maltas Behörden vermuten gar Terrorismus
Im November 2021 beschließt der Staatsanwalt in Lesbos, einen Teil der
Anklagepunkte gegen Binder in einem eigenen Verfahren vorzuziehen. Dabei
geht es um „Spionage“, „Weitergabe von Staatsgeheimnissen“ und die
„unrechtmäßige Nutzung von Funkfrequenzen“. Allein für diese Anklagepunk…
drohen Binder 5 Jahre Haft. Die Verhandlung ist für den 18. November 2021
angesetzt. Die Untersuchungen zu weitergehenden Vorwürfen der „Schlepperei“
dauern weiter an. Eine Anklageschrift gibt es für keines der laufenden
Verfahren.
Griechenland ist nicht der einzige EU-Staat, der versucht, mit den Mitteln
der Strafjustiz gegen Geflüchtete und ihre Helfer:innen vorzugehen.
[3][Auf Malta warten die sogenannten El Hiblu 3 schon seit 2019 auf ein
Urteil in einem Terrorprozess.] Es handelt sich bei ihnen um drei
geflüchtete Jugendliche: Abdalla und Lamin aus Guinea, Abdul aus der
Elfenbeinküste. Der türkische Frachter „El Hiblu 1“ hatte am 26. März 20…
in Absprache mit dem europäischen Marineeinsatz Eunavfor Med 108
Flüchtlinge von einem Schlauchboot in Seenot gerettet.
## Darf man sich gegen einen Push-Back wehren?
Auf dem Schiff kommt es zu Protesten, als die Geflüchteten merken, dass der
Frachter auf Anordnung der europäischen Behörden Kurs auf Libyen nimmt, von
wo sie geflohen waren. Die drei Jugendlichen hätten versucht, zwischen Crew
und Flüchtlingen zu „dolmetschen und zu vermitteln“, schreibt Amnesty
International später über die Situation. Schließlich brachte das Schiff sie
nach Malta. Die damals 15-, 16- und 19-Jährigen werden festgenommen und für
zunächst sieben Monate inhaftiert.
Dann stellt der deutsche „Stiftungsfonds zivile Seenotrettung“ eine
Kaution. Den jungen Männern wird vorgeworfen, die Crew des türkischen
Tankers bedroht und zur Kursänderung gezwungen zu haben. Die Verteidiger
sprechen hingegen von „friedlicher Notwehr“ gegen die Rückführung nach
Libyen. „Sicher ist, dass niemand verletzt wurde“, so der Stiftungsfonds.
Die drei jungen Männer müssten als Exempel herhalten, um andere Flüchtlinge
davon abzuhalten, sich gegen erzwungene Rückführungen nach Libyen zu
wehren, kritisieren die Organisationen. Der Prozess sei ein weiterer
Baustein in der Repression gegen Solidarität und Kritik an den europäischen
Außengrenzen. Es sei kein Verbrechen, sich gegen einen Push-Back zu wehren.
Die Freigelassenen müssten sich täglich auf der Polizeiwache melden und
mindestens 50 Meter Abstand zu Hafen, Ufer und Flughafen halten. Bei einer
Verurteilung drohe ihnen lebenslange Haft. Im Mai 2021 fordert das UN-Büro
für Menschenrechte Malta auf, die Hauptanklagepunkte fallen zu lassen.
## Wann das Gericht im Fall Nadirs ein Urteil fällt, ist unklar
In Italien hat die Staatsanwaltschaft in der sizilianischen Hafenstadt
Trapani im März Anklage gegen 21 Seenotretter:innen erhoben. Den
Aktivist:innen der deutschen Hilfsorganisation „Jugend Rettet“ sowie
von „Save the Children“ und „Ärzte ohne Grenzen“ drohen Höchststrafen…
bis zu zwanzig Jahren Haft. Zehn der Beschuldigten sind Crewmitglieder des
Rettungsschiffs „Iuventa“ der deutschen Hilfsorganisation „Jugend Rettet�…
Sie hatten 2016 und 2017 über 14.000 Menschen im zentralen Mittelmeer aus
Seenot gerettet. Dann beschlagnahmten die Behörden ihr Schiff. Die
Staatsanwaltschaft wirft den Helfer:innen vor, sich unter anderem über
Lichtzeichen mit Schleusern verständigt und ihnen Rettungswesten
ausgehändigt zu haben.
„Jugend Rettet“ nennt die Anklage eine „politische Kampfansage mit der
Absicht, Solidarität zu kriminalisieren“. Seenotretter mit juristischen
Mitteln zu blockieren, habe den Tod von Menschen zufolge, die gerettet
werden könnten. Amnesty International fordert, das Verfahren gegen die Crew
einzustellen. „Seenotrettung ist eine völkerrechtliche Pflicht“, sagte
Franziska Vilmar von Amnesty International. Die Organisation rief die
italienische Regierung auf, den Straftatbestand der Beihilfe zur illegalen
Einwanderung zu reformieren. Er kriminalisiere die Arbeit von
Seenotrettern.
Auf Samos läuft seit Mai der Prozess gegen Ayoubi Nadir. Wann das Gericht
sein Urteil fällt, ist derzeit noch nicht bekannt.
8 Nov 2021
## LINKS
[1] /Folter-an-den-EU-Aussengrenzen/!5769541
[2] /Verhaftete-Gefluechtete-auf-Lesbos/!5535190
[3] /Kriminalisierung-auf-Malta/!5674922
## AUTOREN
Christian Jakob
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