# taz.de -- Klimakonferenz in Glasgow: Die Kurve nach unten drücken | |
> Glasgow zieht eine Zwischenbilanz der Klimapolitik. Viele Versprechen | |
> wurden gebrochen. Aber es gibt Entwicklungen, die Hoffnung machen. | |
Bild: Menschen, die im August auf der griechischen Insel Euböa vor Waldbrände… | |
Greta Thunberg nahm kein Blatt vor den Mund: Anders als Corona sei „die | |
Klimakrise nie wie eine Krise behandelt worden“, rief die schwedische | |
Klima-Aktivistin am 24. September bei ihrem Auftritt vor dem Berliner | |
Reichstag in die Menge. Die Erde heize sich immer weiter auf, aber keine | |
Partei lege Programme vor, [1][„die auch nur in die Nähe kommen, das | |
1,5-Grad-Ziel zu erreichen“, rief Thunberg. „Wir sind ihnen einfach | |
scheißegal!“] | |
Harte Worte. Allerdings sind sie von Fakten gedeckt. Seit dem Abschluss des | |
Pariser Abkommens zum Klimaschutz im Dezember 2015 ist der [2][weltweite | |
CO2-Ausstoß aus fossilen Brennstoffen nicht etwa gesunken, sondern von 32,2 | |
auf 33 Milliarden] Tonnen gestiegen – trotz Corona-Einbruch der Konjunktur. | |
Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre hat sich seit der Pariser Konferenz | |
von 399 auf 412,5 ppm gesteigert. [3][Ein ppm entspricht einem Molekül | |
Kohlendioxid] pro einer Million Moleküle trockener Luft. Das Klimagift | |
Methan legte ebenfalls kräftig zu. Auch die globale Durchschnittstemperatur | |
klettert immer schneller: Lag sie 2015 noch ein Grad Celsius über dem Wert | |
von 1850, [4][waren es nur sechs Jahre später 1,07 Grad, warnte der | |
UN-Klimarat IPCC.] | |
UN-Generalsekretär António Guterres stimmt Thunberg zu, wenn auch in | |
diplomatischer Sprache: „Wir wissen, dass die Unterzeichner des Pariser | |
Abkommens bisher völlig versagt haben“, schimpft der UN-Chef mit Blick auf | |
den UN-Gipfel in Glasgow (COP26). Dort sollen die Staaten Bilanz ziehen und | |
festlegen, wie es weitergehen soll. In Paris wurde als mittelfristiges Ziel | |
ausgegeben, „to bend the curve“, die Emissionskurve nach unten zu biegen. | |
Die Mittel dazu: mehr Anstrengungen bei der CO2-Reduzierung, angeführt von | |
den reichen Ländern; alle fünf Jahre neue und immer ehrgeizigere Klimapläne | |
der Länder (NDC im UN-Jargon); 100 Milliarden Dollar Finanzhilfen für die | |
armen Länder pro Jahr ab 2020. In Glasgow wird jetzt abgerechnet: Gibt es | |
eine realistische Chance, diese Kurve noch zu kriegen? | |
## Maue Zwischenbilanz | |
Die Zwischenbilanz sieht mau aus: Die Emissionen sind gestiegen; viele | |
wichtige Länder wie Indien oder China, Russland, Brasilien oder | |
Saudi-Arabien haben keine oder sehr schwache Klimapläne vorgelegt. Daraus | |
folgt: Die Welt ist auf dem Weg zu 2,7 Grad Erhitzung statt der | |
versprochenen 2 oder 1,5 Grad. Das errechnete [5][das Klimasekretariat | |
UNFCCC. Statt bis 2030 wie gefordert um 45 Prozent zu sinken, würden die | |
Emissionen sogar um 16 Prozent zunehmen.] | |
Auch andere Versprechen wurden gebrochen: Die Detailregeln sind immer noch | |
nicht fertig, statt der 100 Milliarden fließen 2020 wohl nur gut 80 | |
Milliarden Dollar. [6][Bis 2025 soll die Gesamtsumme allerdings erreicht | |
werden, so kalkulierte diese Woche] ein eilig einberufenes Gremium unter | |
deutscher und kanadischer Führung. | |
Also alles nur „Blablabla“, wie es Greta Thunberg nennt? Die Lage ist | |
komplexer. Einerseits gibt es gebrochene Versprechen und unerfüllte | |
Erwartungen. Andererseits passiert vieles, damit der globale Klimaschutz | |
nicht krachend vor die Wand fährt. | |
Beispiel CO2-Ausstoß: Es stimmt nicht, dass nichts passiert ist. Weltweit | |
sind Emissionen aus Gas, Öl und Kohle seit 1990 um 56 Prozent gestiegen – | |
aber in den klassischen Industriestaaten sind sie gesunken: in den USA um | |
etwa 10 Prozent, in der EU um 24, in Deutschland um knapp 40 Prozent. | |
## Der CO2-Ausstoß hat sich teils vom Wohlstand entkoppelt | |
[7][Gleichzeitig ist die Wirtschaft in diesen Regionen, teilweise deutlich, | |
gewachsen. Der CO2-Ausstoß hat sich vom Wohlstand „entkoppelt“] – selbst | |
wenn man berechnet, dass Emissionen durch Importe etwa von Stahl oder | |
anderen Produkten „ausgelagert“ wurden. | |
Das geht alles nicht schnell genug, zeigt aber: Klimaschutz und Wachstum | |
müssen keine Gegensätze sein. Das ist vor allem für Schwellenländer | |
bedeutsam. Denn das Wachstum bei den schädlichen Klimagasen [8][kommt heute | |
aus China, Indien, Indonesien, Iran, Südkorea,] die mit fossil befeuertem | |
Wachstum die Armut bekämpfen. | |
Für Fortschritte in Glasgow spricht aber auch ein zynischer Grund: Die | |
galoppierende Klimakrise erreicht inzwischen auch die reichen Länder, die | |
auf der Klimakonferenz den Ton angeben. Australien versank Ende 2019 in | |
einer Flammenhölle, auch in Kanada, Russland und den USA brennen die | |
Wälder, in Deutschland schockierten im Sommer die Toten der | |
Überschwemmungen. | |
## Die Klimakonferenzen werden unwichtiger | |
Die Hitze- und Dürresommer haben zumindest in Europa das Klimathema auch | |
politisch durch die Proteste der Fridays for Future auf die Tagesordnung | |
gesetzt. Nun wollen plötzlich etwa 100 Länder klimaneutral werden: [9][die | |
USA und die EU bis 2050, China und Russland bis 2060, Vorreiter wie | |
Norwegen sogar schon unter Bedingungen bis 2030.] Werden alle diese | |
„Langzeitziele“ Realität, rechnet die UNO damit, dass die Welt den | |
Klimawandel auf 2,2 Grad begrenzen könnte. Allerdings hat bisher nur | |
[10][die EU mit ihrem „Fitfor55“-Paket einen konkreten Fahrplan] dafür | |
vorgelegt. | |
Scheinbar paradox: Glasgow könnte auch wichtig werden, weil die | |
Klimakonferenzen unwichtiger werden. „Nichtstaatliche Akteure“, wie das im | |
UN-Jargon heißt, also Unternehmen, Städte, Forschungsinstitute, | |
Lobbyverbände oder Universitäten treiben inzwischen Klimapolitik voran und | |
die Staaten manchmal vor sich her. | |
In der [11][„Science Based-Target Initiative“ etwa verpflichten sich | |
Unternehmen dazu], ihre Geschäftspolitik wissenschaftlich fundiert an | |
Null-Emissionen auszurichten. Viele große Konzerne wie Ford, Pfizer und | |
Vattenfall sind dabei. Inzwischen fordert der [12][Bundesverband der | |
deutschen Industrie von der Bundesregierung mehr Ökostrom, neue | |
Stromleitungen, besser gedämmte Häuser] und mehr grünen Wasserstoff. | |
Auch vielen Staaten ist die UN-Konferenz zu träge. Wer etwas erreichen | |
will, gründet einen „Club der Willigen“: Die USA und die EU reduzieren so | |
den Klimakiller Methan, Gastgeber Großbritannien unterstützt Koalitionen | |
von Ländern, die sich den Kohleausstieg, das Ende des Verbrennungsmotors | |
oder ein Verbot der Öl- und Gasförderung, wie von [13][Dänemark und Costa | |
Rica gefordert, auf die Fahnen schreiben.] | |
## Stuhlkreis-Politik mit Zähnen | |
Das Pariser Abkommen setzt auf Freiwilligkeit der Staaten und hat | |
Sanktionen vermieden. Diese Stuhlkreis-Politik hat aber inzwischen ein paar | |
Zähne bekommen. Thinktanks und Stiftungen wie [14][Climate Analytics], das | |
[15][World Resources Institute] oder die [16][Agora Energie/Verkehrswende] | |
übernehmen im Machtvakuum die „Aufsicht“ über den Prozess. | |
Dazu kommen der Druck aus den Medien und immer mehr auch von Banken, | |
Versicherungen und Unternehmensprüfern. Vor allem Investoren haben | |
begonnen, kritisch die Bilanzen von Unternehmen und Investmentfonds auf | |
Klimarisiken zu durchleuchten: [17][Der Investmentgigant Blackrock nannte | |
Klimaschutz 2019 „zentral“ für seine Geschäftspolitik.] | |
Seit Paris hat das Abkommen immerhin einen schweren Schock verdaut: Dem | |
Austritt der USA unter dem Wissenschaftsfeind Donald Trump folgte nicht | |
einmal der brasilianische Populist Jair Bolsonaro, weil er Sanktionen | |
fürchtete. Inzwischen wird debattiert, wie ein „gerechter Übergang“ von | |
fossilen zu erneuerbaren Energien aussehen kann. Der deutsche Ausstieg aus | |
der Braunkohle mit 40 Milliarden Euro Strukturhilfen gilt vielen als | |
Vorbild. | |
Natürlich geht das alles bisher viel zu langsam. Die Investitionen in | |
saubere Energietechnik und ins Energiesparen müssten sich in den nächsten | |
Jahren verdrei- bis vervierfachen, [18][mahnt die Internationale | |
Energieagentur, wenn das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden soll. Neue fossile | |
Projekte darf es nicht mehr geben.] Die Emissionen müssen schnell und | |
drastisch sinken, die Vernichtung der Regenwälder muss sofort aufhören, | |
auch um die Artenvielfalt zu schützen. Ansätze sind da, mehr nicht. | |
## Der Widerwille gegen Veränderung | |
Deutlich wird in Glasgow: Der wirkliche Gegner der Klimapolitik ist nicht | |
mehr der Glaube an die ewige fossile Weltherrschaft, sondern der | |
strukturkonservative Widerwille gegen Veränderung: Auch wenn eine neue | |
Solaranlage billiger ist, läuft das alte Kohlekraftwerk aus Bequemlichkeit | |
erst mal weiter. So hat die Verbrennung von Kohle neue Höhen erreicht, | |
warnt der Chef der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol: „Der immens | |
ermutigende Schwung der Erneuerbaren läuft sich gegen die hartnäckige | |
Widerstandskraft der Fossilen fest.“ | |
Es fehlen weder die Technik noch das Geld noch die Ideen für die | |
Klimawende. Es braucht vor allem den politischen Willen, die alten | |
Seilschaften zu kappen und neue Allianzen zu gründen. Wie flexibel die | |
Staaten und Unternehmen reagieren können, hat nach Meinung vieler | |
KlimaschützerInenn die Coronapandemie gezeigt: Plötzlich war praktisch | |
unbegrenzter politischer Wille da, fast unbegrenzte finanzielle Ressourcen | |
und eine Technologie, die in atemberaubendem Tempo das Problem lösen | |
konnte. | |
Schnelles Handeln nun ausgerechnet von einer UN-Konferenz zu erwarten, wo | |
jeder alles blockieren kann, wäre ein bisschen zu optimistisch. Aber die | |
Zwischenbilanz in Glasgow zeigt auch, dass die UNO vielleicht bei der | |
Klimakrise ihre Schuldigkeit getan hat: Sie hat lange und laut vor der | |
Bedrohung gewarnt, das Thema im globalen Diskurs verankert, den Stimmen der | |
Armen und Entrechteten aus dem Globalen Süden Gehör verschafft und die | |
wissenschaftlichen Leitplanken angeschraubt. | |
Die Entscheidungen aber fallen anderswo. Wenn es die StaatenlenkerInnen der | |
G20-Staaten nicht schaffen, deren Volkswirtschaften immerhin für 80 Prozent | |
der CO2-Emissionen verantwortlich sind, liegt es an den vielen: den | |
Unternehmen, Thinktanks, Regionen, Stiftungen, Städten, Gewerkschaften und | |
politischen Einheiten auf allen Ebenen, die sich in Glasgow vernetzen, aber | |
nicht in den langwierigen UN-Prozess eingebunden sind. | |
Wenn die COP26 die Entwicklung außerhalb der Konferenz voranbringt, wäre | |
das ein Erfolg. Die Zeit drängt, dieses Jahrzehnt entscheidet darüber, ob | |
die 1,5-Grad-Grenze überhaupt möglich bleibt. Und von dieser Dekade sind | |
schon wieder zwei Jahre vergangen. | |
31 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=kv1M6zdt1lg | |
[2] https://www.iea.org/reports/global-energy-review-2021/co2-emissions | |
[3] https://research.noaa.gov/article/ArtMID/587/ArticleID/2742/Despite-pandemi… | |
[4] https://www.ipcc.ch/assessment-report/ar6/ | |
[5] https://unfccc.int/news/full-ndc-synthesis-report-some-progress-but-still-a… | |
[6] https://www.gov.uk/government/news/uk-cop26-presidency-publishes-climate-fi… | |
[7] https://www.carbonbrief.org/the-35-countries-cutting-the-link-between-econo… | |
[8] https://www.wri.org/insights/interactive-chart-shows-changes-worlds-top-10-… | |
[9] https://www.climatechangenews.com/2019/06/14/countries-net-zero-climate-goa… | |
[10] https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-dea… | |
[11] https://sciencebasedtargets.org/companies-taking-action?sector=Pharmaceuti… | |
[12] https://bdi.eu/themenfelder/energie-und-klima/klimapfade/ | |
[13] https://www.reuters.com/business/sustainable-business/denmark-costa-rica-s… | |
[14] https://climateanalytics.org/ | |
[15] https://www.wri.org/ | |
[16] https://www.agora-energiewende.de/ | |
[17] https://www.cnbc.com/2020/12/16/blackrock-makes-climate-change-central-to-… | |
[18] https://www.iea.org/news/pathway-to-critical-and-formidable-goal-of-net-ze… | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
## TAGS | |
Klimakonferenz in Dubai | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
UN-Konferenz | |
NGO | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
GNS | |
klimataz | |
Blackrock | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Nord Stream 2 | |
Klimakonferenz in Dubai | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
António Guterres | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Klimakonferenz in Dubai | |
Glasgow | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Konferenz zu Blackrock in Potsdam: Tribunal zum Problemfall Blackrock | |
Er ist bestens vernetzt und geübt in Greenwashing: Eine zweitägige | |
Konferenz der Potsdamer Universität widmet sich der unbekannten Weltmacht. | |
Bericht des Weltklimarats IPCC: Klimawende kann gelingen | |
Der Weltklimarat warnt vor dem Pfad zu 3 Grad Erwärmung. Die Zahlen | |
rechtfertigen Wut. Es gibt aber auch Erfolge und mögliche Lösungen. | |
Umweltaktivist Sliwjak über Russland: „Putin fürchtet junge Generation“ | |
Waldimir Sliwjak erhält für seinen Einsatz bei der Organisation | |
„Ecodefense“ den Alternativen Nobelpreis. Ein Gespräch über Ängste des | |
Kreml – und Nord Stream 2. | |
Klimaschurke Australien: Wischiwaschi aus Canberra | |
Australiens Regierung denkt nicht daran, die heimische Kohleindustrie in | |
die Schranken zu weisen. Experten halten die Klimapläne für „Lügen“. | |
G20-Gipfel in Rom: Staatschefs werfen eine Münze | |
Der Ausgang der Klimaverhandlungen ist offen. Die einen melden Einigung auf | |
das 1,5-Grad-Ziel, andere, dass wichtige Ziele gestrichen sind. | |
G20-Gipfel in Rom: Klimaaktivisten-Blockade geräumt | |
Das Treffen der Staats- und Regierungschefs wird von Protesten begleitet. | |
Ein Entwurf der Gipfelerklärung zeigt das zähe Ringen um eine wirksame | |
Klimapolitik. | |
Weltklimagipfel in Glasgow: Vier weit verbreitete Irrtümer | |
Die Fachbegriffe der Klimapolitik sind oft kryptisch, die Konflikte schwer | |
überschaubar. Wir klären über die wichtigsten Fehleinschätzungen auf. | |
Europa vor der Klimakonferenz: EU nicht fit für Paris-Ziele | |
Vor der Klimakonferenz in Glasgow sind die EU-Staaten uneins über ihre | |
Energie- und Umweltpolitik. Und fürchten globale Wettbewerbsverzerrungen. | |
Internationale Klimapolitik: Flucht nach vorn | |
Die Erwartungen an die UN-Klimakonferenz sind hoch. Wie schafft es die | |
Weltgemeinschaft, vor die Kaskade sich verstärkender Krisen zu kommen? | |
Vor Klimakonferenz COP26 in Glasgow: Gipfel des Protests | |
Gegen den Klimagipfel in Glasgow sind zahlreiche Aktionen geplant. Greta | |
Thunberg lädt streikende Arbeiter*innen zum Demonstrieren ein. |