| # taz.de -- Internationale Klimapolitik: Flucht nach vorn | |
| > Die Erwartungen an die UN-Klimakonferenz sind hoch. Wie schafft es die | |
| > Weltgemeinschaft, vor die Kaskade sich verstärkender Krisen zu kommen? | |
| Bild: Kohlekraftwerk Neurath dampft | |
| Sechs Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens im Jahr 2015 steigen | |
| die globalen Treibhausgasemissionen weiter an, allein im Jahr 2018 auf 55 | |
| Gigatonnen. Zwar stagnieren die Emissionen der OECD-Staaten inzwischen, sie | |
| bleiben aber pro Kopf weit höher als im Rest der Welt. Gleichzeitig steigen | |
| die Emissionen der Entwicklungs- und Schwellenländer weiter an, auf | |
| gegenwärtig bereits rund zwei Drittel der jährlichen globalen | |
| Treibhausgasemissionen. Ohne drastisches Gegensteuern laufen wir auf eine | |
| globale Erwärmung von mehr als 3 Grad zu. Damit gefährden wir Wohlstand und | |
| Entwicklungschancen weltweit, mit dramatischem Verlust von Biodiversität | |
| und Lebensräumen. | |
| Wir stehen vor einer Zerreißprobe innerhalb und zwischen Gesellschaften, | |
| die nicht zuletzt Demokratie, Frieden und Menschenrechte gefährdet. Die | |
| Covid-19-Pandemie hat diese Risikokaskade weiter verstärkt. Zudem verzögert | |
| sie in vielen Ländern eine ambitionierte [1][Klimapolitik]. | |
| Die UN-Klimakonferenz COP 26, die vom 31. Oktober bis zum 12. November im | |
| schottischen [2][Glasgow] tagt, soll Abhilfe schaffen. Sie muss zeigen, | |
| dass die internationale Klimapolitik handlungs- und funktionsfähig ist. Die | |
| Erwartungen an die britische COP-Präsidentschaft sind hoch. Es müssen in | |
| Glasgow Lösungen gefunden werden – insbesondere hinsichtlich der | |
| „Marktmechanismen“ wie dem internationalen Handel mit | |
| Emissionszertifikaten. | |
| Covid-19-bedingte Hygiene- und Einreiseregeln sowie die damit verbundenen | |
| Extrakosten erschweren jedoch die Beteiligung vieler Vertreterinnen gerade | |
| aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Können diese vor Ort nicht angemessen | |
| ihre Interessen vertreten, wird eine Einigung in politischen Streitfragen | |
| kaum möglich sein. | |
| Wie also schaffen wir es als Weltgemeinschaft, vor die Welle zu kommen, vor | |
| die Kaskade sich verstärkender Krisen? Wie kann eine Flucht nach vorn | |
| aussehen, die in allen Teilen der Welt als gerecht empfunden würde? | |
| Die entsprechenden Leitlinien finden sich in der Agenda 2030 der Vereinten | |
| Nationen für Nachhaltige Entwicklung und dem [3][Pariser Klimaabkommen]. | |
| Nachhaltige globale Entwicklung wird unerreichbar bleiben, wenn die globale | |
| Erwärmung 2 Grad überschreitet. Und während die Industrieländer als | |
| historische Hauptverursacher des Klimawandels hierfür unbestreitbar eine | |
| besondere Verantwortung tragen, sind die Hauptemittenten heute global | |
| gesehen die großen Schwellen- und Entwicklungsländer. Ihnen fällt die Rolle | |
| der zentralen Game Changer im Kampf gegen den Klimawandel zu. Um diese zu | |
| füllen, benötigen sie jedoch die entsprechende internationale | |
| Unterstützung. Die Covid-19-Wiederaufbauprogramme müssen eine global | |
| gerecht verteilte, auf Kohleemissionen verzichtende Modernisierung unserer | |
| Wirtschafts- und Sozialsysteme vorantreiben. | |
| Europa und insbesondere Deutschland fällt hierbei eine ressourcenstark und | |
| verlässlich indirekt führende Rolle zu, die es Vertragsstaaten aller | |
| Ländergruppen ermöglicht, ambitionierte nationale Klimaziele zu formulieren | |
| und umzusetzen. Im Zentrum steht dabei die Dekarbonisierung der | |
| Wirtschaftssysteme mit besonderem Fokus auf Energieerzeugung, Industrie, | |
| Land- und Forstwirtschaft, Wassernutzung und Fischerei, sowie der Ausbau | |
| sozialer Sicherungs- und Gesundheitssysteme für gesellschaftliche Akzeptanz | |
| und Krisentauglichkeit. Zudem müssen rasante Urbanisierungsprozesse | |
| insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika klimagerecht gestaltet, | |
| Ökosysteme, Demokratien, Frieden und Menschenrechte geschützt werden. | |
| Die transformativen Hebel liegen in der Ausgestaltung des globalen | |
| Finanzsystems und in einer Regierungsführung, die Rechtssicherheit und | |
| Menschenrechte garantiert. „Sustainable finance“-Instrumente wie die | |
| CO2-Bepreisung oder der von der EU-Kommission vorgeschlagene | |
| Grenzausgleichsmechanismus CBAM müssen weiterentwickelt werden. | |
| Die Covid-19-Finanzspritzen müssen für Dekarbonisierung in allen | |
| Wirtschaftsbereichen eingesetzt werden. Weiter erfordert transformative | |
| Politik inklusive und leistungsstarke Institutionen, die an entsprechenden | |
| politischen Willen und transparente Regierungsführung gekoppelt sind. Und | |
| die auf gesellschaftliche Kraft baut, die durch leistungsstarke Bildungs-, | |
| Wissenschafts- und Innovationssysteme ermöglicht und verstärkt wird. Klima- | |
| und Armutsrisiken müssen hierbei systematisch berücksichtigt und in die | |
| Strategieentwicklung einbezogen werden. | |
| All dies erfordert einen längerfristigen Kompass. Die bisherigen national | |
| festgelegten Klimaschutzbeiträge sind hier völlig unzureichend. Ebenso | |
| bleibt die von den Industrieländern zugesagte internationale | |
| Klimafinanzierung von 100 Milliarden Dollar jährlich ab 2020 bislang weit | |
| hinter dieser Zielgröße zurück, wiewohl der Bedarf weiter steigen wird und | |
| zunehmend auch Anpassungen sowie klimabedingte Verluste und Schäden | |
| berücksichtigen muss. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung | |
| Globale Umweltveränderung (WBGU) spricht sich somit dafür aus, in Glasgow | |
| nationale Langfriststrategien über 2050 hinaus einzufordern, um eine | |
| bessere Orientierung für ambitionierte nationale Beiträge und die | |
| internationale Klimafinanzierung zu bieten. | |
| Wesentliche Lösungsansätze sind somit bekannt und auch bereits Gegenstand | |
| der internationalen Fachdiskussionen zur Klimapolitik. Gerade die in | |
| Glasgow prominent zur Verhandlung stehenden Themen wie die Marktmechanismen | |
| und die internationale Klimafinanzierung versprechen eine große Schubkraft | |
| für eine entwicklungsgerechte internationale Klimakooperation. Es gilt | |
| dabei, eine globale und langfristige Perspektive einzunehmen, die Planungs- | |
| und damit Handlungssicherheit für die Zukunft ermöglicht: Wir müssen vor | |
| die Welle kommen. | |
| 28 Oct 2021 | |
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| Anna-Katharina Hornidge | |
| Steffen Bauer | |
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