| # taz.de -- Debatte um die Frankfurter Buchmesse: Realitätscheck statt Schnapp… | |
| > Die Aufregung um den Boykottaufruf der Frankfurter Buchmesse hatte wenig | |
| > mit der konkreten Situation vor Ort zu tun. | |
| Bild: Kaum Rechte auf der Buchmesse in Frankfurt, dafür dieser Dinosauerier | |
| Kurz nach Einführung der Maskenpflicht machte der Realitätssinn schlapp. | |
| Kaum sah man im Fernseher Schauspielerinnen sich umarmen oder Küsschen | |
| geben, setzte Schweißausbruch ein. Stumm schrie man den Bildschirm an: | |
| „Stopp! Neiiiiin!! Niiiiicht!!! Du hast keine Maske auf!!!!“ | |
| Eine gruselige Erfahrung für alle, die glauben, sich halbwegs unter | |
| Kontrolle zu haben. Liegt Gefahr in der Luft, brüllen Alarmsirenen | |
| jeglichen Realitätscheck nieder. Die kühle Beurteilung der wirklichen | |
| Gefahrenlage tritt hinter eine peinliche Schnappatmung zurück. | |
| Glücklicherweise schaltet sich ein halbwegs trainierter Realitätscheck | |
| schnell wieder ein, schaut kurz nach, ob noch alles dran und da ist, wo es | |
| sein soll, und denkt: „Puh! Ajajaj! Wow! Erst mal durchatmen.“ | |
| Im Rahmen der diesjährigen Frankfurter Buchmesse kam es ein weiteres Mal zu | |
| einer Kurzschlusskampagne, die den Realitätscheck vollständig | |
| niederbrüllte, was nun eine absurde Realitätsverdrehung zur Folge hat: Es | |
| gibt jetzt angeblich keinen Unterschied mehr zwischen der Buchmesse und dem | |
| Baumblütenfest in Werder. | |
| Oben auf dem Hügel sitzen die Bürger in Kaschmirschals, schlürfen Weiß- | |
| oder Kirschwein, gucken in die Landschaft und in ihre Bücher, während zu | |
| ihren Füßen der rechte Pöbel sturzbesoffen Schwarze durch die Gassen und | |
| Hallen jagt. | |
| ## Subjektive Beurteilung oder unumstößliche Tatsache? | |
| Wer nicht auf der Messe war, musste diesen Eindruck bekommen haben. | |
| Innerhalb weniger Stunden, nachdem [1][die Autorin und Twitteraktivistin | |
| Jasmina Kuhnke] ihre Teilnahme an der Messe absagte, weil sie der Meinung | |
| war, dorthin zu gehen sei wegen anwesender Rechter für sie | |
| „lebensbedrohlich“, fantasierte der Twitteraktivismus, dass auf der Messe | |
| nicht nur die prominente Autorin, sondern niemand mit schwarzer Hautfarbe | |
| mehr sicher sei. Jede schwarze Person sei auf sich alleine gestellt und | |
| ungeschützt den Nazis ausgesetzt. | |
| Den Höhepunkt dieses Kulissenschiebens lieferte dann die Frankfurter | |
| Stadtverordnete Mirrianne Mahn. Ausgerechnet bei [2][der Verleihung des | |
| Friedenspreises des Deutschen Buchhandels] an die schwarze Autorin Tsitsi | |
| Dangarembga behauptete die Grünen-Politikerin: „Schwarze Frauen waren auf | |
| der Buchmesse nicht willkommen“. | |
| Anstatt mal kurz zu gucken, was der Realitätscheck anzubieten hat („Ich | |
| glaub, das reicht noch nicht. Wir brauchen mehr Beweise“), wurde innerhalb | |
| von wenigen Tagen aus einer subjektiven Beurteilung einer Gefahrenlage die | |
| unumstößliche Tatsache, dass die komplette Buchmesse zu einer rassistischen | |
| Veranstaltung verkommen sei. Nach dem Motto: Bäm! Buchmesse oder | |
| Baumblütenfest – überall Nazis, aber keine Empathie, und Literaturkritiker, | |
| die sich über schlechten Weißwein beschweren. | |
| ## Das bisschen Widerspruch wird überbrüllt | |
| Wird man wie die Autorin und Twitteraktivistin Jasmina Kuhnke von Nazis | |
| bedroht, ist nachvollziehbar, dass die Alarmglocken nicht aufhören zu | |
| klingeln, dass durchatmen schwerfällt und damit auch der Realitätscheck. | |
| Dass sie ihrem Buch mit der Messeabsage mehr Aufmerksamkeit gönnen wollte, | |
| als sich den begrenzten Platz auf den Messe-Sofas mit Dutzenden anderen zu | |
| teilen, ist genauso nachvollziehbar. | |
| Wäre aber ihre Behauptung, sie würde auf der Messe „gekillt“ werden, aus | |
| einer anderen politischen Richtung gekommen, wäre sie mit Recht als | |
| Verschwörungsfantasie gelabelt worden. | |
| Als habe es jemals in der Geschichte dieser Buchmesse ein auch nur | |
| annähernd so bedrohliches Szenario wie auf werderschen Volksfesten oder | |
| unter Chemnitzer Bürgerbewegten gegeben. Nein, das hat es nicht. | |
| Selbst im Jahr 2017, als die Rechten mit massivem Promi-Aufgebot auf der | |
| Messe waren, gab es diese Stimmung nicht. Die Fotos von den brüllenden und | |
| Fäuste schwingenden Nazis damals entstanden in der Folge von Protesten | |
| gegen ihre Veranstaltungen, und nicht, weil Nazis Baseballschläger | |
| schwingend durch die Gänge gejagt wären. | |
| [3][Der Boykottaufruf in diesem Jahr wegen der Anwesenheit rechter Verlage] | |
| traf übrigens mangels Rechter – es gab nur einen Stand, den die Polizei | |
| dorthin platziert hatte, wo sie ihn am besten überwachen konnte – übrigens | |
| vor allem genau jene Verlage, die die Bücher der größten | |
| Empörungsaktivisten veröffentlichen. Aber ach, das bisschen Widerspruch | |
| wird einfach überbrüllt: Ihr habt keine Empathie. Ihr interessiert euch nur | |
| für Weißwein. | |
| ## Die Buchmesse ist kein Friedensplenum | |
| Die Nazis hingegen haben die Provonummer auf der Messe offenbar ausgespielt | |
| und sich längst auf einen anderen, ihnen viel mehr Aufmerksamkeit | |
| bringenden Weg gemacht – an die polnische Grenze. Um den dort strandenden | |
| Flüchtlingen ohne Buchvertrag, ohne Kolumnenplatz und ohne | |
| Talkshowprominenz zu sagen: Ihr seid hier nicht willkommen. | |
| Klar, es ist nicht ausgeschlossen, dass Schwarze auf der Buchmesse genauso | |
| wie überall anders im Land von Rassisten angepöbelt, bedroht oder gar | |
| tätlich angegriffen werden. Aber würden in einer deutschen Stadt so viel | |
| sicht- und unsichtbare private wie staatliche Sicherheitsdienste wie auf | |
| den Frankfurter Messegängen patrouillieren, würde man mit Recht von | |
| Überwachungsstaat sprechen. | |
| Sicher, die Buchmesse selbst hat einen gehörigen Anteil daran, dass sie so | |
| wahrgenommen wird, als sei sie das globale Frühstücksplenum der | |
| Friedensfreunde dieser Welt. Was sie nicht ist. Die Buchmesse lässt nicht | |
| nur rechte, deutsche Verlage ausstellen, sondern sie lässt auch jeden | |
| Schurkenstaat und jede Diktatur von Russland über Saudi-Arabien bis | |
| Aserbaidschan ihre Propaganda verbreiten. Dass die Messe auch den Kritikern | |
| dieser Diktaturen Podien und Stände bietet, das ist die Meinungsfreiheit, | |
| von der sie spricht. | |
| Da sich die Messe selbst aber als antifaschistische Vorfeldorganisation im | |
| Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit vermarktet und nicht schlicht als | |
| größter Markplatz für alles und jedes Buch, manövriert sie sich – zuletzt | |
| im Jahr 2009, als China Gastland der Buchmesse war – in unauflösliche | |
| Widersprüche. | |
| ## Gratismutiger Boykottaufruf | |
| Nun aber haftet ihr dank des Schnappatmungsaktivismus das Bild an, dass | |
| ihre Stände und Bühnen bloß noch Tarnung seien, hinter denen Nazis ihren | |
| Provokationen und Mordfantasien an Schwarzen ungehindert nachgehen können. | |
| Wo aber bleibt eigentlich die Empathie der Schnappatmungsaktivisten mit all | |
| den Journalisten und Schriftstellerinnen wie Can Dündar oder Aslı Erdoğan, | |
| die von einem ganzen Regime verfolgt werden und für die ein Auftritt auf | |
| der Buchmesse eine Gelegenheit ist, überhaupt öffentlich zu sprechen? | |
| Alle diese Autoren und Autorinnen waren durch den gratismutigen | |
| Boykottaufruf dazu genötigt, ihre Anwesenheit auf der Frankfurter Buchmesse | |
| zu rechtfertigen. Für solche Feinheiten aber reicht die Empathie des | |
| Empörungsaktivismus nicht. Man müsste dazu halt kurz mal den Blick vom | |
| eigenen Bauchnabel abwenden. | |
| Misstrauen gegen die Gesellschaft und die Institutionen dieses Landes, in | |
| dem der NS groß geworden ist und der NSU trotzdem viele Jahre lang unbeirrt | |
| und unbehelligt morden konnte, ist nicht nur berechtigt, sondern geboten. | |
| Doch Rassismusvorwurf und Bedrohungsszenarien laufen Gefahr, wegen | |
| Kurzschlusskampagnen wie dem Buchmessenboykott unter Fiktionsverdacht | |
| gestellt zu werden. | |
| Passt natürlich perfekt zur Buchmesse, wo das Geschäft vor allem mit der | |
| Fiktion gemacht wird. Wie man hört, haben die Buchbranche und ihre Messe | |
| allerdings mit Bedeutungsverlust zu kämpfen. | |
| 31 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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