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# taz.de -- Die Wahrheit: Gut gelaunte Boomer-Greise
> Der Berliner Musikbums Berghain hat neuerdings ein mildtätiges Herz.
> Türsteher Sven Marquardt lässt jetzt auch Boomer und Spießer rein.
Bild: Lässt ab jetzt einfach alles rein: Türsteher Sven Marquardt
Nach der Rückkehr aus dem Urlaub finde ich zu meiner Überraschung einen
bunten Flyer im Briefkasten: „Liebe Boomer …!“ Das sagenumwobene Berliner
Berghain wendet sich direkt an meine Altersgruppe, die man bislang allzu
gern links liegen ließ. Man wollte im Club keine peinlichen Leute, die am
Tresen Fußballlieder singen, in den Ficus göbeln und die hippe
internationale Kundschaft vergraulen.
Doch nach der jüngsten Wiedereröffnung braucht man wohl überhaupt erst
wieder irgendein Publikum, und da kommen wir weitgehend durchgeimpften
Jahrgänge gerade recht. Denn es herrscht 2G, und das heißt heute
Gutgelaunte Greise – herein mit euch, das Berghain ruft zum Tanztee!
Erwartungsfroh stehen wir also an einem Samstagnachmittag in der Schlange
vor dem sagenumwobenen Technoclub in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs.
Hinter uns unterhält sich eine Gruppe Dosenbiertrinker über
Baumarktangebote – da ist wohl gerade der Reisebus aus Helmstedt
eingetroffen.
Zum Glück geht es schnell. Die einst so berüchtigte „härteste Tür der Wel…
gleicht heute eher einem Perlenvorhang. Dresscode: Egal mit Schal. Die
Türsteher kontrollieren im Grunde nur den Impfstatus und reißen dann die
Eintrittskarten ab. Daneben zerrt ein gefesselter und geknebelter Mann in
geblümten Unterhosen mit erstickten Protestrufen vergeblich an den
Kabelbindern. Das muss Sven Marquardt sein, der legendärste Türsteher des
Berghain.
## Hüftsteife Paare im Foxtrott
Weiter geht es durch die Räumlichkeiten – Billardzimmer, Bibliothek,
Bällebad und das Aquarium mit den niedlichen Meeresschildkrötenbabys –, die
sie eigens für uns neu eingerichtet haben müssen. Man buhlt hier offensiv
um unsere Gunst. Im mit Ikea-Möbeln und Sitzsäcken zum gemütlichen
Wohnzimmer umgestalteten ehemaligen Lab.Oratory gibt es Kaffee und Kuchen,
später auch noch einen herzhaften Imbiss.
Über dem Dancefloor, auf dem hüftsteife Paare im Foxtrott schwofen, während
die Rüstigeren einander im ungezügelten Pogo anspringen, hängt eine
Kuckucksuhr, die in einem fort Dreizehn schlägt – das alles zu den besten
Hits der Siebziger, Achtziger und Siebziger. Wir sollen uns schließlich
wohlfühlen, zumindest bis alles wieder normal läuft und der Laden endlich
mit der gewohnten Klientel aus den crazy Vollverstrahlten aller Länder
gefüllt werden kann.
Doch zunächst stehen mittelalte schwäbische Touristen um das DJ-Pult herum.
„Kerle, kansch du mir ‚I wanna know what love is‘ spiele? Weisch, des von
Foreigner. Des kensch doch au?“ Noch vor zwei Jahren hätte man ihn dafür
oben durch die Scheiben der Panoramabar geschmissen – doch hier und jetzt
nickt der zum Selbstschutz komaartig sedierte Aufleger nur noch willenlos
und fadet von Abbas „Dancing Queen“ direkt in das Wunschlied über. Die
Menge tobt, berauscht von echtem Bohnenkaffee, Granu Fink und
Knoblauchpillen. Der Floor kocht von den Hitzewallungen der Wechseljährigen
über. Alle singen mit. Die Stimmung erinnert fast an Weihnachten.
Um halb sechs tritt eine kurze Stille ein – der DJ sagt die
Bundesligaergebnisse durch. Ein Raunen geht durch die Menge: Bayern hat
doch tatsächlich gewonnen. Mit dem Blutdruck steigt die Abenteuerlust ins
Unermessliche. Jetzt wollen wir endlich auch das Allerheiligste des
Berghain sehen: den Darkroom. Dort beginnt in Kürze nämlich der erste
Film, „Vom Winde verweht“, und für die krassen Partybiester, die um 21 Uhr
noch wach sind, läuft dann auch noch Monty Python’s „Sinn des Lebens“, z…
Glück in der Synchronfassung. Vorher aber noch mal unbedingt aufs Klo!
## Würstchen mit Kartoffelsalat
Die Würstchen mit Kartoffelsalat dürfen wir mit reinnehmen, wenn wir
versprechen, vorsichtig zu sein und nicht zu kleckern. Das berühmte
Berghain-Feeling basiert nun mal auf Vertrauen, Verantwortung und
gegenseitige Rücksichtnahme – nur so funktioniert dieser geheimnisvolle
Pakt, den die Feiernden für eine Nacht oder auch mal für ein ganzes
Wochenende schließen; nur so können sich alle safe fühlen und völlig frei
bewegen, für einen sensiblen Bereich wie den Darkroom gilt das natürlich
ganz besonders.
Auch uns Alten hat sich der hier herrschende Spirit schon am ersten Abend
quasi in die DNA eingeschrieben. Die Sessel bleiben sauber, die Pappteller
landen – Senftütchen getrennt – brav im Müll. Als wir lachend, mit einem
Abschieds-Pfeffi im Bauch und einem weiteren im Gepäck, den Kultclub
verlassen, ist es fast schon dunkel.
27 Oct 2021
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Die Wahrheit
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