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# taz.de -- Die Wahrheit: Das Wesentliche und mehr
> Auf die Sprache müsst ihr achten! Ob Menschen derweil, wie jetzt etwa an
> den belarusischen Grenzen, konkret zu Schaden kommen? Ist doch
> schnurzegal!
Bild: Jenseits aller linguistischen Verrenkungen: Die harte Realität an der be…
Im Instagram-Teaser eines Artikels der Süddeutschen Zeitung lese ich
kürzlich den Satz: „Seit Wochen irren Flüchtlinge durch das Grenzgebiet
zwischen Belarus und Polen.“ Darunter wird beschrieben, wie die Menschen
ihre Schuhe beim Durchwaten der Sümpfe im eisigen Urwald von Białowieża
verlieren und sie wie Sondermüll zwischen beiden Ländern hin- und
hergeschoben werden.
Doch das ist Nebensache. Denn ein Leserkommentar unter dem Anreißer bringt
zum Glück das Wesentliche auf den Punkt: „Das Verb ‚irren‘ in Verbindung
mit Geflüchteten zu bringen, finde ich etwas problematisch, zumal es auch
ableistisch ist.“ Genau. Endlich sagt es mal einer. Das Wort „irren“ ist
behindertenfeindlich. Scheiß auf die Flüchtlinge. Um die geht es hier gar
nicht, sondern ausschließlich darum, dass die Leute besser auf die Sprache
achten, so wie er. Sonst kommen wir in Teufels Küche.
Heute benutzen die noch das Wort „herumirren“ für, äh, herum-, äh,
irgendwas mit orientierungslos vielleicht, ach nee, geht auch nicht, da
steckt Orient drin, das kann als stereotyper Verweis auf Muslime gelesen
werden, die sich angeblich nicht auskennen, ach egal, dings eben, und
morgen sagen sie dann schon „Sieg Heil“ statt „Guten Tag“. Wehret den
Anfängen. Und keiner checkt das, außer diesem einen Gerechten. In Zukunft
bitte ein bisschen besser aufpassen: Sprache ist sensibel. Sie outet den
Feingeist ebenso wie den Neandertaler.
Das habe ich nun auch verstanden. Als ich noch zu verbohrt für diese
Zusammenhänge war, hätte ich mich hingegen gefragt, was Leuten seines
Schlags wohl gleichgültiger sein mochte: das Thema insgesamt oder diese
Geflüchteten speziell? Hauptsache, hätte ich noch bis vor Kurzem gedacht,
sie labern wichtig, dann geht es ihnen gut, dann fühlen sie sich in ihrem
Element. Ich glaubte sogar, bei ihnen schon genau zu spüren, wie verbissen
sie für ihre eigene Zukunft üben. Denn aus jungen weißen Männern werden
schließlich alte weiße Männer, aus Nissen werden Läuse.
## Die prägnanten Gedanken der Gegenseite
Und ich bin mit dieser arroganten Haltung offensichtlich nicht allein:
„Hauptsache, gut aussehen beim ‚Weltenretten‘. Ziemlich cringe brudi“,
fasst ein anderer User die Gedanken der Gegenseite kurz und prägnant
zusammen.
Doch Brudi kämpft nun erst recht heldenhaft weiter gegen uns Halbnazis, die
sich zwar nach außen hin empört über die Push-Backs an der weißrussischen
Grenze geben, durch ihre barbarische Wortwahl jedoch ihr wahres Gesicht aus
geheimen Euthanasieplänen, Abriss sämtlicher barrierefreien Einrichtungen
und sonstigen Gewaltfantasien verraten.
„Die diskursive Deutungshoheit privilegierter Menschen gegenüber
Behinderten ist überheblich und herablassend, wie wärs damit?“, schreibt er
den Unachtsamen ins Stammbuch, und auf einmal verstehe ich: Wenn es um
korrekte Sprache geht, ist es doch völlig wumpe, ob jemand erfriert oder im
Wald aus Pfützen trinkt; und wo das große Ganze auf dem Spiel steht, müssen
Einzelschicksale selbstverständlich hintanstehen. Das sollte jeder Person
klar sein, die nicht komplett verblödet ist.
Mit Eselsgeduld klärt der Heiland des bedachten Wortes seine vernagelten
Kritiker über ihr intellektuelles und moralisches Versagen auf: „Das Verb
‚herumirren‘ führt eine Bedeutungsverschiebung ein und blendet die
tatsächlichen Lebensrealitäten von Menschen auf der Flucht damit aus. Zudem
rufen solche Titel/Wortwahl Ängste in der weißen Mehrheitsgesellschaft
hervor, weil das Wort herumirren eine negative Eigenschaft suggeriert …“
## Ein löbliches Ansinnen
Mir schwirrt der Kopf, falls ich das überhaupt so sagen darf. Doch was für
ein löbliches Ansinnen: Die weiße Mehrheitsgesellschaft soll sich
wohlfühlen und die Geflüchteten bitte keine negativen Assoziationen wecken,
danke. Das ist zwar ein gewagter Spagat im Angesicht der vermaledeiten
Fakten, aber wir wünschen uns doch schließlich alle, es wäre eben nicht die
Lebensrealität der Flüchtlinge, hilflos durch das Grenzgebiet am Rande der
EU zu irren. „Fakten“ ist übrigens ebenfalls ein hochproblematisches Wort.
Das verletzt und beleidigt sowieso immer alle, also zwangsläufig auch die
Minderheiten. Öfter mal nachdenken, Freunde, und dann erst losplappern.
Was ist das eigentlich für ein Mensch, der hinter diesen klugen Kommentaren
steckt? Er hat mich neugierig gemacht, und die Antwort ist vielleicht nur
einen Klick entfernt. „Sentimental heart and a skeptical mind“, hat sich
das Genie als Motto in sein Profilpoesiealbum geschrieben. Mir drängt sich
ja eher ein anderer Leitspruch auf, vage irgendwas mit Vollpfosten, Arsch
und Sackgesicht, natürlich gerne auch auf Englisch. Full post, arse and
sack face.
9 Nov 2021
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Die Wahrheit
Ableismus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Geflüchtete
Demokratie
Kolumne Die Wahrheit
Schafe
Die Wahrheit
Kleine Parteien
Taliban
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