# taz.de -- Die Wahrheit: Sonstige an die Macht | |
> Kleine Versuchsanordnung am politischen Hilfsgerät: Für besonders | |
> Unschlüssige erzeugt der Wahl-O-Mat besonders erstaunliche Resultate. | |
Bild: Vetreterin der Sonstigen auf Stimmenfang | |
Ich weiß nicht, für welche Partei ich mich bei der anstehenden | |
Bundestagswahl entscheiden soll. Der Wahl-O-Mat hilft mir kaum weiter. An | |
den ersten acht Positionen erscheinen kommunistische Splittergruppen, von | |
denen ich zum Teil noch nie gehört habe. Schon wenn man bei der sinngemäßen | |
Frage, ob alle Armen sofort getötet werden sollen, auch nur „neutral“ | |
anklickt, landet man offenbar unweigerlich im linksradikalen Spektrum. | |
Doch auch dort fühle ich Bürgerkind mich nicht so richtig abgeholt. Und man | |
sagt ja immer, dass die Wähler sich von einer Partei oder einem Politiker | |
„abgeholt fühlen“ müssen. Wie wenn du von einer langen Reise zurückkommst | |
und schlurfst dann mit deinem Gepäck vollkommen erschöpft durch die Glastür | |
nach draußen in den Ankunftsbereich des Flughafens, und da winkt plötzlich | |
direkt vor dir eine Partei oder Politikerin, ausgeschlafen und gut gelaunt, | |
mit einem Blumenstrauß und einem von einem Kind mit bunten Filzstiften | |
gemalten Willkommensschild, und ruft laut „Hey! Uli!“, und lacht und freut | |
sich; du sagst, sorry, ey, aber ich bin total fertig, bei Qantas sind die | |
Sitzreihen so eng, und eine Verhaltenstherapiegruppe mit Flugangst hat | |
zwanzig Stunden lang nonstop geschrien wie beim Bundeswehrzahnarzt; sie | |
ignoriert das, füllt zwei Plastikbecher (ich weiß, die Natur, nächste Wahl | |
…), drückt dir davon einen in die Hand und ruft laut „Stößchen! Willkomm… | |
daheim! Wähl mich!“, und auf einmal bist du wieder wach, ext die Puffbrause | |
und fühlst dich tippitoppi abgeholt und zu Hause, also die würde ich sicher | |
wählen. | |
## Sagenhafte Prozentzahlen | |
Gibt es aber nicht. Keines der Angebote vermag mich so richtig zu | |
überzeugen. Nur eine Partei interessiert mich noch. Ich weiß nichts über | |
sie, aber das ist hier eher ein Vorteil: Die hat mich – vielleicht auch aus | |
Mangel an Gelegenheit – wenigstens noch nie enttäuscht. Und sie ist | |
definitiv im Kommen. Nicht so eine chancenlose Kleinstpartei. 2017 noch bei | |
3,1 Prozentpunkten, befindet sie sich in den aktuellen Prognosen schon bei | |
sagenhaften 9 Prozent. Das sind Zuwächse, von denen alle anderen nur | |
träumen können. Allein der Name ist ein großes Versprechen an die | |
Unschlüssigen: die „Sonstigen“. | |
Über die würde ich gern mehr erfahren. Was wollen sie und wer sind ihre | |
Gesichter? Leider sieht man nirgendwo Plakate: „Der andere Weg: Sonstige | |
wählen“, „Sei kein Arsch: alle 5 Stimmen Sonstige“ oder „Sozial, Sodan… | |
Sonstige“. Rechnet man den Stimmenanteil hoch, den sie bereits ohne jede | |
Öffentlichkeitsarbeit erzielen, wäre mit ein wenig Werbung die absolute | |
Mehrheit drin. Aber vielleicht ist den potenziellen Wählern gerade dieses | |
Understatement so sympathisch. | |
## Abseitige Themen | |
Vor einem Rathaus findet sich dann doch immerhin ein Wahlstand. Unter einem | |
Schirm in den Parteifarben, einer bunten Palette gern verkannter Nuancen | |
wie Altrosa, Apricot, Petrol, Pavianpurpur und Eiterbeige empfängt mich | |
Susa Anders, Pressesprecherin, Praktikantin und Spitzenkandidatin der | |
„Sonstigen“. „Keine Ahnung, warum wir in den offiziellen Diagrammen immer | |
nur als graue Säule dargestellt werden“, klagt sie und findet dann doch | |
eine simple Erklärung: „Die etablierten Parteien haben Angst vor uns. Und | |
Grau wirkt nun mal harmlos und unauffällig. Die Leute sollen denken, dass | |
es uns gar nicht gibt.“ | |
Zum Parteiprogramm hält sich die unscheinbare Frau bedeckt: „Wir kümmern | |
uns um alles andere.“ Auf die Frage, was dieses „andere“ denn exakt | |
beinhalte, präzisiert sie vage: „Irgendwas. Themen abseits des Mainstreams, | |
an die sonst keiner denkt. Scheinbar Abwegiges. Minderheitenprogramm unter | |
‚ferner liefen‘. Sonstiges eben.“ Im Finden von Synonymen, im | |
Paraphrasieren, Umschreiben und im Double-talk ist Anders stark, doch im | |
Detail verbleibt sie unverbindlich. Auch über das Personal der Sonstigen | |
erfahren wir nichts Konkretes: „Irgendwelche Andersdenkenden, die sonst | |
keiner kennt.“ | |
## Koalition mit den Ungültigen | |
Doch beim Thema Regierungsbeteiligung wird die Sprecherin auf einmal | |
überraschend deutlich. „Wir wollen das Land mitgestalten“, verkündet sie | |
selbstbewusst, „wenn alles gut läuft, stellen wir sogar die | |
Bundeskanzlerin.“ Gleich darauf wird sie schon wieder realistischer: | |
„Natürlich könnten wir uns auch an der Spitze eines noch zu schaffenden | |
Ressorts für,Sonstiges' vorstellen, in einer Koalition zum Beispiel mit den | |
‚Anderen‘, den ‚Ungültigen‘ oder auch den ‚Freien Nichtwählern‘. … | |
letzten Wahl haben die fast 24 Prozent geholt. Normalerweise stellst du mit | |
dem Ergebnis den Außenminister, aber dann wurden ihre Stimmen einfach nicht | |
gewertet. Angesichts einer solchen Verhöhnung des Wählerwillens fragt man | |
sich schon, ob man das überhaupt noch Demokratie nennen kann.“ | |
Ja, das fragt man sich in der Tat. Ein Glück, dass es die „Sonstigen“ gibt. | |
Die legen ordentlich den Finger in die Wunde. | |
14 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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