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# taz.de -- Die Wahrheit: Spiel, Satz und peng, du bist tot!
> Vom Ballerballerspieler zum gnadenlosen Pazifisten: Kindliche
> Auslöschungsfantasien schaden nicht im weiteren Leben.
Analoge Ballerspiele waren in meiner Kindheit unsere nachmittägliche
Hauptbeschäftigung. Computer gab es nicht, oder sie waren für Mondraketen
reserviert und langsamer als ein Taschenrechner. Also behalfen wir uns mit
dem, was Wald und Garten für uns bereithielten: Verschiedene Holzstöcke
waren Gewehre oder Pistolen, Fichtenzapfen waren Handgranaten und eine
Papprolle der Flammenwerfer – dieser Trumpf stach so ziemlich alles andere,
außer vielleicht den Gartenschlauch. Der war fast schon Artillerie, denn
davon wurde man sogar richtig nass.
Das Ziel war stets, die jeweils andere Bande, die Gang, vollständig
auszulöschen. Was auch sonst – die hatten es nicht besser verdient.
Verstecken, auflauern, hervorspringen, so tun, als ob man mit den Zähnen
den Sicherungsring der Zapfengranate zieht, sie zielsicher werfen und
„Bamm, du bist tot!“ schreien.
Dabei gab es verschiedene Grundszenarien: Ganz old school „Indies und
Cowboys“, der Weltkrieg mit „Nazis, Amis und Japsen“, und später dann, d…
heiße Scheiß in den siebziger Jahren, vor allem Baader-Meinhof-Bande versus
Bullen. Erstere waren die Guten.
Ein Kollege hat mal erzählt, wie in seiner Schulzeit die Kinder nach einem
Anschlag der RAF vor Angst geweint hätten. Das kannte ich so gar nicht. Was
zum Geier war das für ein Milieu? Klar, die Propagandamaschine lief auch im
Westen wie geschmiert. Unser Zuhause war nicht gerade ein Hort linker
Utopien, doch so weit, dass man schon Kinder mithilfe künstlich
aufgeblasener Schreckgespenster gegen die Feinde des Kapitalismus
abrichtete, ging es zum Glück nicht.
## Terroristen waren cool
Bei uns hat jedenfalls keiner geweint, wir fanden Terroristen eigentlich
ganz cool. Den Steckbrief am Dorfbahnhof kannten wir auswendig. Obwohl man
extra unvorteilhafte Bilder gewählt hatte, ließen sich noch immer genügend
ikonische Jim-Morrison-, Che-Guevara- oder Jesse-James-Referenzen
hineinträumen. Und neben all den bärtigen Bösewichtern gab es ja auch noch
„die Schöne“. Wenn sie auf uns wartete, bis uns endlich ein paar Haare am
Sack gewachsen wären, würde einer von uns sie garantiert heiraten.
Aber die Reaktion jener anderen Kinder steht exemplarisch für die
überzogene Panik, die der BRD-Staat damals schob, und die er eilfertig in
Maßnahmen goss. Es herrschte de facto Ausnahmezustand. Danach kräht heute
bloß kein Hahn mehr. Wo jetzt der Bürger heult, weil er eine Stoffmaske
tragen soll, wurden mal eben im Dutzend Rechte beschnitten, Sondergesetze
erlassen und ein eigener Hochsicherheitsknast gebaut, wo man die Gefangenen
erst einmauerte, bis sie dort unter Umständen starben, an deren neutraler
Aufklärung man so wenig interessiert war wie Jahrzehnte später an der des
NSU-Komplexes.
Heute ermordet ein rechter, natürlich vollkommen unideologischer
„Einzeltäter“ in zehn Minuten so viele Menschen wie die RAF in zehn Jahren
– es kümmert bloß kein Schwein. Das aufmerksamkeitsökonomische
Missverhältnis erinnert an die Mordsgeschütze, die das gesammelte
bürgerliche Feuilleton heute jedes Mal auffährt, sobald in irgendeiner
kleinen universitären Blase irgendeine dogmatische Extremmeinung aufpoppt.
Dann gebärden sich die in die gefühlte Enge getriebenen Bürger gern wie
Partisanen, doch sie sind tausend Partisanen, die auf freiem Feld mit
voller Hose auf einen einsamen Wehrmachtssoldaten losstürmen.
Apropos. Am schönsten war immer das Sterben. Quentin Tarantino hatte noch
nicht die Stützräder von seinem Kinderfahrrad abgeschraubt, da agierten wir
bereits meisterhaft im Geiste seiner comichaft überinszenierten und so
weitgehend von ihrem Schrecken befreiten Gewaltdarstellung. Verharmlosend
und natürlich auch komplett gedankenlos, na klar. Ob es uns geschadet hat?
Das ist schwer zu sagen, denn zwar sind viele meiner damaligen
Spielkameraden heute tot oder im Gefängnis, ich selbst bin jedoch
überzeugter Pazifist.
## Sterben nach Choreografie
Wer am geilsten starb, am lautesten gurgelte und schrie, sich am
dramatischsten wälzte und wand, wurde beim nächsten Mal vom Cowboy zum
„Indianer“ oder vom Bullen zum Terroristen befördert, und bekam den
Flammenwerfer. Wer wiederum von Letzterem getroffen wurde, dessen
Sterbe-Choreografie bestand aus noch lauterem Geschrei, heftigem Gezappel
und zischenden Brutzelgeräuschen, weil er ja verbrannte. Auch auf diesem
Weg konnte man eine starke B-Note erringen und war in der kommenden Runde
Gudrun Ensslin – im Grunde erklärt das alles prima, wie Buddhismus
funktioniert.
Das Prinzip war zugegebenermaßen schon ein bisschen primitiv. Stöckchen,
Fichtenzapfen, Gartenschlauch, bummbumm und tot. Mehr Plot gab es nicht und
die RAF/Polizei-Konstellation war bereits mit Abstand unsere
avantgardistischste Spielform.
Da eröffnen sich den Kindern heutzutage viel mehr Möglichkeiten. Die
spielen zum Beispiel Relotius und Moreno. Der eine hat seine Reportagen
erfunden und der andere kommt ihm drauf, aber die Chefs vom Spiegel glauben
ihm nicht. Nun heißt es für beide „er oder ich“, denn wer verliert, wird
entlassen. Aber natürlich lassen die Kids die dröge Vorgeschichte weg und
setzen immer gleich beim Showdown ein. „Haha, stirb, Relotius! – Peng! –
Bamm! – Hey, du bist tot! – Bin ich nicht! Ich hab zuerst geschossen! – W…
aber nur Streifschuss! – Nein, war mitten ins Herz! – Na gut: Aaarrrghh!“-
Geschrei.
Oder sie sind Drosten und Streeck. Also die Anführer der beiden Banden aus
Wissenschaftsgläubigen hier und Querdenkern plus Bullen dort. Auch dabei
wird kurzerhand das gesamte Intro geskippt mit Heinsberg-Studie, T-Zellen
und all dem Nerd-Scheiß zum Totgähnen. Stattdessen fliegen die entsicherten
Fichtenzapfen durchs offene Fenster in das strategische Hauptquartier des
RKI, formerly known as Mutters Rasenmäherschuppen. „Bamm! – Dein Bein ist
abgerissen! Du verblutest! – Nein, ich bin rechtzeitig zur Seite! – Bist du
nicht! Drostensau! – Ratatata!“
Bei diesem Spiel gibt es sogar noch einen zusätzlichen Player, denn einer
kriegt die goldenen Gummistiefel und ist Karl Lauterbach. Er ist die Dame
im Schach, der Joker im Kartenspiel, der Ferrari im Autoquartett. Er hat
ein Abo auf den Flammenwerfer, und bald sind alle Bösen tot. Game over.
21 Aug 2021
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Kindheit
Gewalt
Terrorismus
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Die Wahrheit
Kleine Parteien
Taliban
Kolumne Die Wahrheit
Die Wahrheit
Deutschland
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