# taz.de -- Compact Magazin und Lina E.: Kein Verdacht | |
> Seit Monaten veröffentlicht das rechtsradikale Compact Magazin zum Fall | |
> Lina E. Ermittlungsinterna. Im Fokus: ein Ermittler der Soko Linx. | |
Bild: Wer ist hier eine Gefahr für die Gesellschaft? Werbung für Compact | |
Es ist der Tag vor dem [1][Prozessbeginn gegen Lina E. Anfang September,] | |
als auf der Internetseite des stramm rechten Compact-Magazins ein Artikel | |
erscheint. Berichtet wird „über die gefährlichste Linke Deutschlands“, die | |
bei vollem Namen genannt wird: Lina E. Und das Magazin geht noch weiter. | |
Unverpixelt zeigt es Bilder der 26-Jährigen, auch Observationsfotos und | |
Phantombilder der Polizei, sowie ein Privatbild der Leipzigerin mit ihrem | |
Verlobten, der ebenfalls mit vollem Namen benannt wird. | |
Unschuldsvermutung? Schutz von Persönlichkeitsrechten? Hier nicht. Dabei | |
sind das Grundsätze der journalistischen Verdachtsberichterstattung. Für | |
Compact zählt dagegen offenbar etwas anderes: das Ausschlachten des Falls | |
Lina E. für seine politischen Zwecke – und das schon seit Monaten. | |
Schon seit März, noch vor der Anklageerhebung, berichtet Compact – das | |
sonst eher mit rechten Krawallgeschichten statt Recherchen auffällt – über | |
die „brutale Antifa-Hammerbande“ und ihre „mysteriöse Kommandoführerin�… | |
Dass die Bundesanwaltschaft Lina E. vorwirft, eine linkskriminelle Gruppe | |
gegründet zu haben, um mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme zu | |
verüben, passt dem Magazin ins Konzept. Herausgegeben wird es von dem nach | |
rechts abgedrifteten Jürgen Elsässer, es bespielt auch einen 150.000 | |
Abonnenten zählenden Online-TV-Kanal. | |
In mehreren Artikeln und einem ganzen Sonderheft zur „Antifa“ | |
veröffentlicht Compact seitdem Interna aus dem Verfahren. „Der blonde Engel | |
– Terror aus Connewitz“, heißt es da. Benannt werden immer wieder teils | |
volle Namen von Beschuldigten, interne Polizeifotos werden gezeigt, | |
Vorstrafen ausgebreitet, über angebliche „Drogendeals“ geraunt. Zu Lina E. | |
– „roter Nagellack, Minirock“ – fällt der Vergleich mit den | |
„RAF-Terroristinnen wie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin“. Dass hier eine | |
linke Frau angeklagt ist, scheint das rechte Milieu besonders zu triggern. | |
## Als Quelle wird angegeben: Polizei | |
Einer der Autoren: Mario Alexander Müller, einst Aktivist der | |
rechtsextremen Identitären, verurteilt wegen Körperverletzung. Und Compact | |
prahlt, man habe „tausende Seiten Fallakten gesichtet“. Als Quelle für die | |
Fotos aus den Ermittlungsakten wird angegeben: „Polizei“. | |
Das ist heikel. [2][Denn der Verfassungsschutz stuft Compact als | |
rechtsextremen Verdachtsfall ein]. Das Magazin veröffentliche | |
„Fundamentalangriffe auf demokratische Institutionen und | |
Verfassungsorgane“, pflege Kontakte zu Rechtsextremisten und rufe mit | |
„Revolutionsrhetorik“ selbst zum Sturz der Bundesregierung auf, heißt es | |
dort. Und ausgerechnet hier landen Ermittlungsinterna zum Fall Lina E.? | |
## Verfahren wegen Verrats von Dienstgeheimnissen | |
Seit einer Woche nun ist klar: [3][Es wird wegen der Durchstechereien | |
ermittelt]. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz bestätigte der taz, dass im | |
Fall Lina E. ein Verfahren wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen gegen | |
unbekannt eingeleitet wurde. In den Blick genommen werden dafür auch die | |
Ermittler, welche die Vorwürfe gegen Lina E. zusammentrugen: [4][die Soko | |
Linx des LKA Sachsen]. | |
Die Ermittlungsgruppe wurde im November 2019 gegründet, nachdem sich in | |
Leipzig Angriffe auf Baustellen, Polizeireviere und Autos häuften, die der | |
autonomen Szene zugerechnet wurden. Größere Ermittlungserfolge aber blieben | |
aus – bis zur Festnahme von Lina E. Doch die Beweislage in ihrem Fall | |
bleibt wackelig, wie sich im bisherigen Prozessverlauf zeigte. | |
## „Beispiellose Vorverurteilung“ | |
Neben Compact veröffentlichten auch konservative Medien wie Focus oder Welt | |
früh Ermittlungsinterna. Die Verteidiger von Lina E. stellten deshalb | |
bereits im Dezember 2020 Anzeige bei der Bundesanwaltschaft wegen der | |
strafbaren Weitergabe von Akten durch Ermittlungsbehörden. Auch zu | |
Prozessbeginn vor dem Oberlandesgericht Dresden kritisierten sie die | |
Durchstechereien scharf: Diese sorgten für eine „beispiellose | |
Vorverurteilung“. Offenbar solle das Verfahren „für rechte politische | |
Interessen genutzt“ werden. | |
Im Prozess äußerte der Richter den Verdacht, dass die Informationen von | |
Anwälten der angegriffenen Neonazis weitergetragen worden sein könnten, die | |
dort als Nebenkläger sitzen. Tatsächlich sind diese einschlägig vertreten: | |
[5][durch Frank Hannig etwa, der zuletzt den Lübcke-Mörder Stephan Ernst | |
verteidigte], oder [6][Martin Kohlmann, Chef des rechtsextremen „Pro | |
Chemnitz“]. Dass ihr Draht zur rechtsextremen Szene kurz ist, zeigte sich | |
gleich zu Prozessbeginn: Noch im Saal machte Kohlmann ein Foto der | |
Angeklagten – das umgehend der NPD-Aktivist Sebastian Schmidtke auf Twitter | |
veröffentlichte. | |
## Gibt die Soko Linx direkt Infos weiter? | |
Die VerteidigerInnen – und nun auch die Staatsanwaltschaft Chemnitz – haben | |
dagegen den Verdacht, dass die Soko Linx auch ganz direkt Informationen an | |
Compact weitergibt. Und eine Person gerät dabei besonders in den Fokus: | |
Soko-Ermittler Patrick H. Vor einer Woche war der Enddreißiger im Prozess | |
gegen Lina E. geladen, sollte zu den Ermittlungen zum Fall des | |
angegriffenen Ex-NPD-Mann Enrico Böhm aussagen. Überraschend erschien | |
Patrick H. aber mit einem Anwalt – und berief sich auf einige Fragen | |
plötzlich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, da möglicherweise | |
Ermittlungen gegen ihn liefen. | |
Und diese laufen tatsächlich. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz bestätigte | |
der taz, dass seit wenigen Tagen gegen Patrick H. wegen Verrats von | |
Dienstgeheimnissen ermittelt werde. Ursache ist ein anderer Ermittlungsfall | |
der Soko gegen einen Leipziger: der von Henry A. Dem 33-Jährigen wird | |
vorgeworfen, im September 2019 an einem Angriff von linken Chemie | |
Leipzig-Fans auf rechte Anhänger des FC Lokomotive Leipzig beteiligt | |
gewesen zu sein – was Henry A. vehement bestreitet und bis heute unbewiesen | |
ist. Die Lok-Fans wurden damals in einer S-Bahn mit Pyrotechnik beschossen, | |
eine Person leicht verletzt. | |
## Der Fall Henry A. | |
Ende April erfolgten deshalb Durchsuchungen im Leipziger Stadtteil | |
Connewitz gegen fünf Beschuldigte. Nur einen Tag später berichtete erneut | |
Compact dazu „exklusiv“ Ermittlungsinterna. Als erste benannte es Henry A. | |
als Beschuldigten, seine Arbeitsstelle bei der Stadtverwaltung und die | |
Dauer der Razzia. Wenige Wochen später legte das Magazin nach, | |
veröffentlichte nun auch ein Observationsfoto von Henry A. und interne | |
Polizeiberichte über ihn. Der reagierte mit einer Strafanzeige, ebenso wie | |
Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) als oberster Dienstherr und | |
das LKA Sachsen selbst. Compact löschte darauf beide Artikel über Henry A. | |
aus dem Internet. | |
Laut Staatsanwaltschaft steht Patrick H. nun im Verdacht, im Fall Henry A. | |
Dateien aus einem beschlagnahmten Handy verschickt zu haben. Der Anwalt von | |
Henry A. übermittelte der Behörde dafür einen Schriftsatz mit Indizien. Den | |
Leipziger kennt Patrick H. gut: Schon vor Jahren war er nach | |
taz-Informationen maßgeblich an den Ermittlungen gegen Henry A. und mehrere | |
BSG Chemie-Fans beteiligt, die verdächtigt wurden, als kriminelle Bande | |
Angriffe auf Rechtsextreme verübt zu haben. Patrick H. schrieb dabei auch | |
Personenberichte zu Henry A.. | |
## Rund 200 Personen abgehört | |
Der Fall geriet zum Skandal: Rund 200 Personen wurden damals abgehört, auch | |
Gespräche mit Journalist:innen oder Anwält:innen – das Verfahren | |
2017 ergebnislos eingestellt. Und es gäbe auch ein aktuelles Motiv: Denn | |
Henry A. genehmigte in der Stadtverwaltung im Frühjahr ein Bauprojekt in | |
der Nachbarschaft von Patrick H. – das eine Bürgerinitiative, an der sich | |
laut A. der Polizist und seine Frau beteiligten, ablehnten. Mehrmals habe | |
H.s Frau sich deshalb auch direkt telefonisch bei ihm beschwert. Sollte | |
Henry A. öffentlich und bei seinem Arbeitgeber diskreditiert werden, um das | |
Bauprojekt noch zu stoppen? | |
Henry A. selbst jedenfalls beklagt eine „jahrelange Kampagne“ gegen sich. | |
„Dass das LKA dafür nun offenbar mit dem rechten Compact paktiert, ist | |
unfassbar“, sagte er der taz. | |
Ist es Ermittler Patrick H., der auch im Fall Lina E. Informationen an | |
Compact weitergab? Die Staatsanwaltschaft verweist hier darauf, dass gegen | |
unbekannt ermittelt werde. Compact wie das LKA Sachsen schweigen dazu auf | |
taz-Nachfragen. Man unterstütze die Aufklärung, sagt ein LKA-Sprecher | |
lediglich. Was an den Vorwürfen dran sei, werde sich am Ende zeigen. | |
## Journalistenverband rügt Compact | |
Der Deutsche Journalistenverband rügt Compact dagegen schon heute scharf. | |
Medien hätten sich daran zu halten, dass Angeklagte bis zu einem Urteil als | |
unschuldig gelten, betont Sprecher Hendrik Zörner. „Die Veröffentlichung | |
ungepixelter Fotos und die Verdachtsberichterstattung von Compact sind aber | |
nichts anderes als eine Vorverurteilung.“ Auch müssten die | |
Ermittlungsbehörden beantworten, wie Compact an die Fotos der Beschuldigten | |
gelangte. | |
Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Lina E., kündigt presserechtliche | |
Schritte gegen Compact an. „Die Artikel zu unserer Mandantin werden wir so | |
nicht stehen lassen.“ Schon im Mai hatte Compact eine | |
Unterlassungserklärung kassiert. Zuvor hatte es über angebliche Kontakte | |
der Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel zu einem Beschuldigten im | |
Lina E.-Verfahren berichtet. Nagel bestritt das unter Eid – und bekam vom | |
Leipziger Landgericht recht. Wird die Aussage nun wiederholt, droht Compact | |
ein Strafgeld von 250.000 Euro oder sechs Monate Haft für Herausgeber | |
Elsässer. | |
Auch in diesem Verfahren hatte Elsässer indes behauptet, man habe sich die | |
Information von einem LKA-Ermittler namens Christian M. bestätigen lassen. | |
Das Gericht hielt das für nicht überzeugend. Für Lina E.-Verteidiger von | |
Klinggräff wäre es dagegen „ein echter Skandal“, wenn sich bestätigt, da… | |
Ermittler Aktendetails an rechtsradikale Medien weitergaben. „Das stärkt | |
den Verdacht, dass hier politisch orientiert ermittelt wurde. Hinter die | |
vorgelegten Beweise setzt das ein nochmal viel größeres Fragezeichen.“ | |
9 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Lina-E-vor-Gericht/!5794248 | |
[2] /Compact-Magazin-in-der-Krise/!5676890 | |
[3] /Interna-im-Fall-Lina-E-durchgestochen/!5805155 | |
[4] /Soko-Linx-in-Sachsen/!5723937 | |
[5] /Prozess-um-den-Mord-an-Walter-Luebcke/!5743213 | |
[6] /Pro-Chemnitz-und-Gegendemos/!5620534 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Andreas Speit | |
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