# taz.de -- AfD-Wahlkampf in Sachsen: Heimspiel im Osten | |
> Auf der Zielgeraden des Wahlkampfs treten die AfD-Spitzen in Görlitz auf | |
> – das Publikum ist begeistert. Dennoch war der AfD-Wahlkampf | |
> durchwachsen. | |
Bild: Könnten in Sachsen stärkste Kraft werden: AfD-Spitzen Alice Weidel und … | |
GÖRLITZ taz | Die Gegendemo singt die „Ode an die Freude“. 30 bis 40 | |
überwiegend junge Menschen mit Regenbogenflaggen und FFP2-Masken haben sich | |
direkt neben der AfD-Wahlkampfkundgebung am frühen Mittwochabend in Görlitz | |
aufgebaut, getrennt von einer handvoll Polizist*innen und einem | |
Streifenwagen. Hinter einem Banner mit der Aufschrift „Nationalismus ist | |
keine Alternative“ singt eine Frau die Europahymne von Beethoven ins | |
Megaphon. | |
Ein Mann auf der AfD-Demo fühlt sich davon offenbar provoziert und beginnt, | |
die erste Strophe des Deutschland-Liedes zu singen. Er trägt einen weißen | |
Pullover mit einem Adler auf der Brust, in Fraktur steht Preußen auf dem | |
Ärmel, ebenso auf seiner Schirmmütze. In der Hand hält er eine | |
Schlesien-Flagge, mit einem Adler auf weiß-gelbem Grund. | |
Als er schon fast bei der zweiten Strophe ist, kommt ein Ordner aus der | |
AfD-Demo zu ihm und sagt, dass er das lassen soll. Der Mann wird wütend: | |
„Ich lasse mir von niemandem verbieten, das Deutschlandlied zu singen!“, | |
schreit er aufgebracht. | |
In der Nähe der Gegenkundgebung stehen auch ein paar tätowierte Schränke | |
mit Kurzhaarfrisuren. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt der rechtsextremen | |
Kampfsport-Marke Label 23, auf dem ein Kampfhund abgebildet ist. Um die | |
Hüfte hat der Mann einen Thor-Steinar-Pullover gebunden. Er ist damit nicht | |
der Einzige hier. Die Gruppe trinkt breitbeinig Flaschenbier und schaut | |
immer wieder amüsiert in Richtung Gegendemo. AfD-Wahlkampf in Görlitz. Ganz | |
normal. | |
## Bürgerliche Leute | |
Die AfD ist hier nach einem durchwachsenen Wahlkampf mit stagnierenden | |
Umfragewerten zu einem Heimspiel angetreten. Direkt vor der Bühne, wo die | |
Spitzenkandidat*innen Alice Weidel und Tino Chrupalla erwartet | |
werden, bekommt man von der Gegendemo kaum etwas mit. | |
Vor der AfD-Tribüne auf dem Marienplatz der Altstadt von Görlitz ist es | |
proppevoll. Ein Polizist schätzt die Kundgebung später auf 500 Personen, | |
Masken trägt niemand. Als von der Bühne gesagt wird, dass ein Abstand von | |
1,5 Metern eingehalten werden solle, wird nur verächtlich gelacht. | |
Gekommen sind, abgesehen von den Thor-Steinar-Stiernacken und einigen | |
Jungalternativen mit strammem Scheitel, überwiegend bürgerlich aussehende | |
Leute. Die meisten sind zwischen 40 und 70 Jahre alt, tragen | |
Funktionskleidung oder Camp David-Sachen. Männer sind in der Überzahl, aber | |
es sind auch Omis mit Föhnfrisuren gekommen und sogar jüngere Pärchen mit | |
Kindern, die AfD-Werbeartikel herumtragen. Man grüßt sich, macht Fotos für | |
den Whats-App-Status. Vor der AfD-Bühne in Görlitz trifft sich ein | |
Querschnitt der Bevölkerung. | |
Ein Tabu ist es hier in Görlitz nicht, auf dieser Kundgebung zu sein. Kein | |
Wunder: Der Wahlkreis ist einer von dreien, den die AfD bei der vergangenen | |
Bundestagswahl direkt gewonnen hat. Damals setzte sich Tino Chrupalla gegen | |
den CDU-Kandidaten Michael Kretschmer durch, der mittlerweile | |
Ministerpräsident in Sachsen ist. [1][Nach einer aktuellen Umfrage] ist die | |
AfD sogar in ganz Sachsen stärkste Kraft, ähnliches könnte auch in | |
Thüringen oder Sachsen-Anhalt passieren. | |
Tags zuvor war Chrupallas CDU-Gegenkandidat aus dem Wahlkreis hier, Florian | |
Oest, zusammen mit Kretschmer und Friedrich Merz. Es wurde ein Reinfall: | |
Sie wurden von [2][Rechtsextremen der „Freien Sachsen“ ausgepfiffen und | |
bepöbelt]. | |
Chrupalla dagegen wird freundlich empfangen: Hier kommt der ehemals | |
selbstständige Malermeister mit seiner Inszenierung als bodenständiger | |
Handwerker an – trotz seines 7er BMWs als Dienstwagen. Und ob [3][Chrupalla | |
ein Gedicht rezitieren kann], interessiert hier niemanden. Die Menge vor | |
der Bühne buht oder jubelt während Chrupallas Rede aufs Stichwort. | |
Am meisten Applaus bekommt der 46-Jährige immer dann, wenn er im Sound des | |
[4][vorgeblich aufgelösten, rechtsextremen Flügels] spricht. Etwa, wenn er | |
fordert, das Asylrecht abzuschaffen oder Staatsschulden tilgen will, indem | |
„Asylanten“ keine Transferleistungen mehr gezahlt werden. Und natürlich, | |
als er den CDU-Ostbeauftragten der Bundesregierung, [5][Marco Wanderwitz], | |
„den Ostbeschimpfungsbeauftragten“ nennt. Wanderwitz steht für eine | |
konfrontative Abgrenzung gegen AfD-Wähler*innen und ist eine Reizfigur in | |
der extremen Rechten. | |
Der Auftritt in Görlitz könnte glatt darüber hinwegtäuschen, dass es für | |
die AfD in diesem Wahlkampf alles andere als gut läuft. Die rechtsradikale | |
Partei stagniert gegenüber den 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 auf | |
10 bis 12 Prozent. Die AfD hat in diesem Wahlkampf kein Gewinnerthema wie | |
die Flüchtlingspolitik nach 2015. Die Partei ist nicht im Fokus der | |
medialen Aufmerksamkeit und dringt außerhalb ihrer eigenen Facebook-Bubble | |
kaum durch. | |
Auf Themen wie die Klimakrise, Wohnungsnot und Corona hat sie keine | |
ernstzunehmende Antwort und erreicht nur ihre radikalisierte | |
Kernwählerschaft – trotz verordneter Selbstverharmlosungskur gemäß des | |
Wahlkampfslogans „Deutschland. Aber normal.“ Vielleicht ist das auch der | |
Grund, warum sie nicht vom Schmelzen der CDU profitieren kann. | |
Beunruhigend bleibt bei alledem, dass die AfD trotz mäßiger Performance | |
ihrer Spitzenkandidat*innen in den Umfragen noch immer zweistellig | |
ist. Die AfD hat eine Stammwählerschaft, die nicht von ihr abzurücken | |
scheint. Egal, wie weit sich die Partei noch radikalisiert, wie sehr | |
[6][innerparteiliche Grabenkämpfe] toben, in wie vielen Bundesländern der | |
[7][Verfassungsschutz sie als rechtsextrem einstuft] und wie viele | |
[8][Spendenskandale] noch aufgedeckt werden. | |
Auf dem Marienplatz in Görlitz verfängt sich sowieso jedes Thema: Auch | |
Weidel erntet viel Applaus mit einer eher kurzen Rede. „Nie mehr Lockdown“ | |
forderte sie und „Hände weg von unseren Kindern“. [9][Beim Wahlkampfauftakt | |
in Schwerin] vor ein paar Wochen hatte sie noch von ihrer | |
gleichgeschlechtlichen Partnerschaft geredet – das war beim Publikum nicht | |
besonders gut angekommen. Den Teil ließ sie dieses Mal weg. | |
Chrupalla legte zur Corona-Politik nach: Er warf der amtierenden | |
Bundesregierung vor, eine kollektive und multimediale „Angstindustrie“ zu | |
befeuern – „mit dem Panikorchester Drosten und Lauterbach“. Der mutmaßli… | |
Mord eines offenbar [10][rechtsextremen Querdenkers in Idar-Oberstein] kam | |
zu keinem Zeitpunkt zur Sprache – stattdessen fabuliert Chrupalla von | |
Milliarden, die im Kampf gegen Rechts für „Taugenichtse“ aus linken | |
Vereinen verschwendet würden. | |
Am Ende seiner Rede feiert ihn das Publikum mit „Tino, Tino, | |
Tino“-Sprechchören. Interviews will er heute keine geben. Dafür bilden sich | |
nach dem Auftritt Menschentrauben, die mit Chrupalla und Weidel Selfies | |
machen wollen. | |
Man merkt, dass sowohl Weidel als auch Chrupalla sich im Spektrum des | |
völkischen Flügels zuhause fühlen. Im Osten dominiert die rechtsextreme | |
Parteiströmung die Landesverbände. Den Thüringer Landeschef Björn Höcke | |
darf man einen Faschisten nennen – und er hat maßgeblich Einfluss auf das | |
im Frühjahr verabschiedete radikale Parteiprogramm genommen. Chrupalla war | |
früher [11][häufig bei Pegida] und gab dem extrem rechten Compact Magazin | |
und dem Holocaust-leugnenden Youtuber Nikolai Nerling Interviews. | |
Entsprechend verwundert es nicht, dass die Forderung vom sächsischen | |
Landeschef und Schlussredner Jörg Urban nach dem EU-Austritt Deutschlands | |
ebenso mit Applaus quittiert wird wie die Forderung nach einer „nationalen | |
Sozialpolitik“. | |
Den Sozialwissenschaftler und Rechtsextremismus-Experten David Begrich | |
schockt der radikale Wahlkampfauftritt nicht mehr. Er sagt der taz dazu: | |
„Hier muss die AfD keine Kreide fressen.“ Er zweifelt die [12][These der | |
Forschungsgruppe Wahlen] an, deren Vorstand Matthias Jung vermutet, dass | |
neben Wähler*innen mit geschlossenem rechtsradikalen Weltbild immer noch | |
Protestwähler bei der AfD im Osten eine Rolle spielen, die sich durch | |
taktisches Abstimmen einen wirtschaftlichen Vorteil wie die Angleichung von | |
Löhnen und Renten erwarteten. | |
Angesichts des stabilen Niveaus der AfD im Osten hält Begrich das für | |
fragwürdig: „Ein Großteil der AfD-Wähler wählt die Partei, weil sie dem | |
Programm zustimmen“, sagt er. Ebenso dürfte nach seiner Einschätzung neben | |
Rassismus die radikale Systemopposition ein Faktor für die Wahl der AfD | |
sein. | |
Einen weiterer Grund könnte seiner Einschätzung nach die zunehmende lokale | |
Verankerung der AfD ausmachen. Begrich lebt in Magdeburg, ist aber auch | |
häufiger in Görlitz, wie er sagt: „Der Normalisierungsprozess der AfD im | |
kommunalpolitischen Raum hat sich hier längst vollzogen.“ Nicht ohne Grund | |
versuche Chrupalla, seine Herkunft aus der ostdeutschen Handwerkerschaft | |
auszuspielen. | |
„Man muss dringend die Auseinandersetzung führen, wie man sich in | |
Kreistagen und Stadttagen mit der AfD auseinandersetzen kann, ohne dass sie | |
davon profitiert“, so Begrich. Weil man das in Vergangenheit nicht getan | |
hat, werde man am Wahlsonntag wieder erleben, „wie alle geschockt auf die | |
Wahlkreise in Sachsen starren werden.“ | |
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nachträglich geändert. Aussagen des | |
Landtagsabgeordneten Sebastian Wippel waren missverständlich wiedergegeben | |
worden. | |
23 Sep 2021 | |
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[1] https://www.rnd.de/politik/bundestagswahl-2021-darum-wird-im-osten-afd-gewa… | |
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[11] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/alice-weidel-und-tino-chrupalla… | |
[12] https://www.rnd.de/politik/bundestagswahl-2021-darum-wird-im-osten-afd-gew… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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