# taz.de -- Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen: Zwischen Bibbern und Augenreiben | |
> Bei der CDU herrscht Frust, das ist unübersehbar. Die SPD hingegen kann | |
> ihr Glück kaum fassen. Eindrücke vom Straßenwahlkampf in NRW. | |
Köln/Leverkusen/Essen taz | Serap Güler kämpft. Nordrhein-Westfalens | |
Staatssekretärin für Integration will mit CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet | |
nach Berlin, hofft auf ein Bundestagsmandat. Am Samstagnachmittag läuft die | |
40-Jährige deshalb mit schnellen Schritten durch die Waldsiedlung in | |
Leverkusen-Schlebusch und wirft eigenhändig Flyer in die Briefkästen. Seit | |
dem Morgen ist Güler im Wahlkampfeinsatz, immer freundlich, immer | |
zugewandt, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Druck, unter dem sie | |
acht Tage vor der Wahl steht, ist ihr nur selten anzumerken. „Im Moment bin | |
ich froh, wenn ich auf fünf Stunden Schlaf komme“, sagt sie dann. | |
Hier in der Waldsiedlung sind kaum Menschen auf den Straßen zu sehen – | |
trotzdem ist der kilometerlange Marsch für die im nördlichen Ruhrgebiet | |
geborene Tochter türkischer Arbeitsmigrant:innen ein Heimspiel: „Die | |
meisten hier wählen Sie sowieso“, sagt ihr ein Mann, der ihre Wahlwerbung | |
durch die heruntergelassene Scheibe seines Pkw entgegennimmt. | |
Die Waldsiedlung, das ist der gediegene Wohlstand der alten rheinischen | |
Bundesrepublik. Der Fluss ist nur wenige Kilometer entfernt, die Gärten | |
sind groß, der Baumbestand alt. Besuch wird dezent auf Abstand gehalten: | |
Die Klingeln finden sich nicht an den Häusern, sondern schon an der | |
Grundstücksgrenze. „Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr haben wir hier | |
45 Prozent geholt“, sagt Jonas Dankert, Kreisvorsitzender der Jungen Union | |
Leverkusens, der Serap Güler auf ihrem Haustürwahlkampf begleitet. „Wenn | |
die uns hier nicht mehr wählen“, sagt der 25-Jährige – und bricht den Satz | |
dann lieber schnell ab. | |
Was Dankert treibt, ist die Angst, die die Christdemokraten überall in | |
Deutschland befallen hat. Seit Wochen schon liegt die SPD in Umfragen mit | |
25 bis 26 Prozent vorn, dümpeln CDU und CSU bei miesen 20 bis 22 Prozent. | |
Erstmals seit 2005 sind die Oppositionsbänke in Sicht. | |
## Die drohende Selbstzerfleischung der CDU | |
Der Union, die sich immer als die Regierungspartei der Bundesrepublik | |
begriffen hat, droht damit mehr als ein Machtverlust: Sollte ihr | |
Kanzlerkandidat am Sonntag tatsächlich krachend scheitern, stehen heftige | |
Machtkämpfe an zwischen dem liberalen Merkelflügel Laschets und den | |
Konservativen rund um den neoliberalen Hardliner Friedrich Merz, der selbst | |
in der heißesten Wahlkampfphase laut über einen Arbeitsdienst für | |
Langzeitarbeitslose nachdachte. Die CDU könnte sich selbst zerfleischen. | |
Auf welcher Seite Serap Güler steht, ist klar: [1][Sie gilt in der CDU als | |
Laschet-Ultra]. Am Sonntag sitzt sie mit den Christdemokraten Volker | |
Bouffier und Thomas Strobl im Fanblock, der Laschet nach dem dritten | |
TV-Duell wie einen strahlenden Sieger begrüßt. | |
Für Laschet hat die Bergmannstochter aus Marl schon als Referentin | |
gearbeitet, als der noch Deutschlands erster Integrationsminister war. 2009 | |
ist Güler in die CDU eingetreten, 2017 ernannte Laschet sie zur | |
Staatssekretärin. Für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten ist seine | |
Vertraute das Symbol einer neuen, weltoffenen Union, wählbar auch für | |
Menschen mit Migrationshintergrund und urbane Mittelschichten. | |
[2][„Konservativ, liberal, sozial“ sei sie, sagt Güler selbst] – und ist | |
damit quasi die Parteilinke. Ihr Auftritt in der Waldsiedlung ist der | |
Versuch, kurz vor der Wahl wenigstens möglichst viele Stammwähler:innen | |
zu mobilisieren, um wieder auf Augenhöhe zur SPD zu kommen – und so ihren | |
Förderer Laschet zu retten. | |
Denn dass ihr Wahlkampf da, wo sie eigentlich punkten soll, nicht rund | |
läuft, weiß Güler selbst. Sie tritt im Wahlkreis Leverkusen – Köln IV an. | |
Dazu gehören Viertel wie Dellbrück, Buchforst und soziale Brennpunkte wie | |
der Wiener Platz: Früher wurde hier viel CDU gewählt, heute immer mehr | |
Grün. Schon am Morgen war Güler hier unterwegs – und ist gewarnt worden: | |
„Für Sie ist hier nichts zu holen“, sagt ihr eine pensionierte Lehrerin in | |
Buchforst, die sich als CDU-Wählerin zu erkennen gibt. „Ich wohne hier. Die | |
SPD könnte einen Besenstiel aufstellen – und der würde gewählt.“ | |
Güler, die für die doppelte Staatsbürgerschaft ebenso kämpft wie für ein | |
Bundesintegrationsministerium, das Einwanderung organisieren und | |
Deutschlands massiven Fachkräftemangel von 400.000 jährlich fehlenden | |
Arbeitskräften bekämpfen soll, stellt sich trotzdem unter die orangenen | |
Sonnenschirme ihrer CDU. Auf weißen Stehtischchen liegen Flyer mit ihrem | |
Foto, dazu Kugelschreiber, Flaschenöffner und Buntstifte als | |
Werbegeschenke. | |
„Mein Name ist Serap Güler, ich bin ihre Wahlkreiskandidatin von der CDU“, | |
spricht sie ein Paar im Rentenalter an. Er hat als Anästhesist, sie als | |
Krankenschwester gearbeitet. „Sehr entzückend“ finde sie „Frau Güler“, | |
erklärt die 70-Jährige prompt – Migration habe sie immer als „Bereicherun… | |
wahrgenommen. Gewählt haben die beiden schon per Briefwahl, aber nicht die | |
CDU. | |
Stattdessen gingen ihre Zweitstimmen an die Grünen, erzählen sie – und die | |
Erststimmen an Gülers starken SPD-Konkurrenten im Wahlkreis. Der ist einer | |
der bekanntesten Sozialdemokraten, in der Coronakrise auf allen Kanälen, in | |
den sozialen Netzwerken fast omnipräsent: der Gesundheitsexperte Karl | |
Lauterbach. „30 Jahre lang“ habe die CDU „die Klimakatastrophe | |
verschlafen“, erklärt das Rentnerpaar – deshalb grün. Und der Mediziner | |
Lauterbach, der sei „in der Pandemie so angefeindet worden, der muss | |
einfach gestärkt werden“, sagt der pensionierte Anästhesist. | |
Viermal schon hat Lauterbach den Wahlkreis seit 2005 per Erststimme erobert | |
– und zumindest laut der Prognose des Portals election.de wird der | |
Sozialdemokrat auch in diesem Jahr direkt gewählt werden. Zwar ist Güler | |
selbst über Platz 8 der CDU-Landesliste relativ komfortabel abgesichert: In | |
den Bundestag könnte sie es wohl auch schaffen, wenn die Union am Sonntag | |
ihre demütigendste Niederlage seit Gründung der Bundesrepublik einführe. | |
## Handwerkliche Schwächen der CDU-Kampagne | |
Für Laschet aber wäre eine Niederlage Gülers gegen Lauterbach ein weiteres | |
Symbol seines Scheiterns, gerade im bevölkerungsreichsten | |
Nordrhein-Westfalen, das für die Bundestagswahl entscheidend ist. Zwischen | |
Rhein und Weser leben mehr als 18 Millionen Menschen – das sind rund 21 | |
Prozent der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik. | |
Dass Laschet mit seinem merkwürdigen Lachanfall mitten im Flutgebiet, mit | |
seinen vielen schrägen TV-Auftritten selbst riesige Fehler gemacht hat, | |
weiß Güler. Als sie aus ihrem Wahlkampfmobil aussteigt, einem mit ihrem | |
Foto beklebten und Wahlwerbung vollgestopften Elektroauto, versucht sie | |
trotzdem, ihren Förderer zu verteidigen. „Ich bin von Laschet überzeugt“, | |
sagt sie tapfer. Allerdings: Die Frage, ob der Kandidat richtig verkauft | |
werde, die sei schon „berechtigt“. Es scheint Frust aus ihr | |
herauszubrechen. | |
Simpelste handwerkliche Schwächen habe die CDU-Kampagne. „Wissen Sie, wie | |
viele Plakate mit dem Foto Laschets wir für ganz Köln bekommen haben? 30!“, | |
ärgert sich die Wahlkämpferin, die sich jetzt fragen lassen muss, ob sie | |
den vermeintlichen Verlierer genauso gezielt verstecke wie etwa | |
Parteifreunde im Saarland. „Dies ist der zähste Wahlkampf, seit ich 2009 in | |
die Partei eingetreten bin“, seufzt Güler. „Der Sonntag endet entweder mit | |
einer riesigen Niederlage für die CDU – oder für die Demoskopen.“ | |
Zwar gibt es derzeit keine aktuellen Umfragen, in denen das Abschneiden der | |
Parteien bei der Bundestagswahl allein in Nordrhein-Westfalen ermittelt | |
wurde. Erhoben worden seien ihre Stichproben bundesweit, erklären die | |
Institute. Der Inhaber von election.de, Matthias Moehl, nennt dagegen | |
Zahlen – und danach ist auch in Laschets Heimat keinerlei Durchmarsch | |
seiner Christdemokraten in Sicht. „In Nordrhein-Westfalen sehen wir die SPD | |
relativ weit vorn“, sagt Moehl. Von den 64 Wahlkreisen könne die SPD bis zu | |
40 erobern – die CDU werde den Erhebungen nach dagegen nur etwa 24 | |
Direktmandate erringen. | |
Insgesamt gingen die Projektionen von election.de von insgesamt 168 | |
Bundestagssitzen aus, die allein in NRW per Erst- und Zweitstimme vergeben | |
werden könnten. Und von diesen könnten laut Moehl 55 an die SPD und 37 an | |
die CDU gehen. In ihrem einstigen Stammland an Rhein und Ruhr wären die | |
Sozialdemokraten plötzlich wieder die Platzhirsche, die sie jahrzehntelang | |
waren. | |
Trotzdem sind das nur Annäherungswerte – schließlich liegen auch die | |
bundesweiten Umfragen bei Fehlertoleranzen von 2,5 bis 3 Prozent. „Bis zum | |
Wahlabend bleibt vieles offen – die Demoskopie, die Prognosen kommen an | |
ihre Grenzen“, sagt Moehl. | |
„Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die SPD auf Platz eins liegen | |
wird“, glaubt auch der Politikwissenschaftler Stefan Marschall, der an der | |
Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität einen Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt | |
„Politisches System Deutschlands“ hat. Allerdings basiere der Vorsprung | |
Sozialdemokraten vor allem auf den hohen Kompetenz- und Sympathiewerten | |
ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. „Auf dem Wahlzettel stehen aber nicht | |
die Namen von Kandidaten, sondern von Parteien“, warnt Marschall. „Wirklich | |
einschätzen können wir das Wahlergebnis erst am Sonntag um 18:01 Uhr.“ | |
Laschet setzt deshalb auf das Prinzip Hoffnung – wer jetzt verzagt wirkt, | |
hat schon verloren. In einer „Aufholjagd“, sei die Union, beteuert der | |
CDU-Kanzlerkandidat deshalb immer wieder, „das Rennen“ sei „offen wie nie | |
zuvor“. Auch Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder hofft auf ein | |
„Wimpernschlagfinale“ – dabei hatte der Mann in München über Monate imm… | |
wieder klargemacht, dass er sich selbst weiter für den besseren | |
Kanzlerkandidat hält. Sticheleien, ins Kanzleramt komme man nicht im | |
Schlafwagen, zielten direkt auf Laschet. Wenige Tage vor der Bundestagswahl | |
sieht Söder jetzt „die Talfahrt der letzten Wochen gestoppt“, immerhin. | |
In der Union aber gilt allein schon die Vorstellung eines | |
Kopf-an-Kopf-Rennens mit der SPD als größte vorstellbare Katastrophe, sorgt | |
für Wut – und schon heute für Schuldzuweisungen. „Schlecht organisiert“, | |
„schlecht gemacht“ sei der Wahlkampf, stöhnen deshalb Christdemokraten in | |
Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Blick haben sie das | |
Konrad-Adenauer-Haus, die CDU-Parteizentrale in Berlin. Geführt wird die | |
von dem aus dem sauerländisch-westfälischen Iserlohn stammenden | |
Generalsekretär Paul Ziemiak. Die mögliche Selbstzerfleischung der Union – | |
sie wird schon Tage vor der Wahl spürbar. | |
„Nichtssagend“, inhaltsleer, nicht auf den einst als liberal und auf | |
sozialen Ausgleich bedachten Laschet zugeschnitten sei die eigene Kampagne, | |
heißt es am Rhein von CDUlern, die nicht genannt werden möchten: „Wir | |
erzählen keine Geschichte, warum wir nach 16 Jahren Merkel weitere 4 Jahre | |
den Kanzler stellen müssen.“ | |
Doch für Frust und Wut gerade unter progressiveren Christdemokraten sorgt | |
auch Laschet selbst. Nicht wenige seiner Unterstützer:innen fühlen | |
sich durch die Personalauswahl ihres Kanzlerkandidaten übergangen – und | |
giften über das [3][„Zukunftsteam“], das Laschet nach viel Hin und Her | |
Anfang September vorgestellt hat. Dessen prominentestes Mitglied Friedrich | |
Merz, bringt sich für den Fall einer Niederlage schon heute als Kandidat | |
für den Vorsitz von Bundestagsfraktion und Bundespartei in Stellung. Und | |
zur sächsische Kultusministerin, die in Laschets schon fast wieder | |
vergessenem „Zukunftsteam“ die Bereiche „Soziales und gleichwertige | |
Lebensverhältnisse“ abdecken soll, heißt es in NRW nur: „Kennen Sie Frau | |
Klepsch?“ | |
Die Sozialdemokraten dagegen können ihr Glück kaum fassen. Deutlich wird | |
das bei einer Tour mit Karl Lauterbach. Der viermal direkt gewählte | |
Abgeordnete wirkt fast schüchtern, als er begleitet von Sicherheitsleuten | |
in Köln-Dellbrück aus einem schwarzen Auto steigt. Mit seinen Warnungen vor | |
den Gefahren der Pandemie ist der Talkshow-Dauergast zum Hassobjekt von | |
Coronaleugnern geworden, steht nach Morddrohungen und Angriffen unter | |
Personenschutz. | |
Unter seinem grauen Jackett trägt Lauterbach ein hellblaues, silber | |
getupftes Hemd und einen roten Pullover, dazu schwarze Jeans. Mit seiner | |
selbst zusammengetackerten doppelten FFP2-Maske wirkt der 58-Jährige ein | |
wenig wie ein Nerd. Vorsichtig und zurückhaltend geht er über die | |
Dellbrücker Hauptstraße, während sein Parteifreund Horst Noack für ihn | |
Werbung macht. „Hier ist er, der Professor“, sagt der 72-Jährige, der seit | |
40 Jahren in der SPD ist und elf Jahre Stadtrat war, zu einer Seniorin. | |
„Ich weiß, ich hab ihn schon gewählt“, kontert die trocken. | |
In Leverkusen-Opladen ist Lauterbach dagegen nicht selten ein Star. Eine | |
grauhaarige Seniorin verbeugt sich vor ihm, eine andere bittet um ein | |
Autogramm. Zur Frage, warum ihn die SPD mit dem aussichtslosen Listenplatz | |
23 abgespeist hat, ob er also in der Partei unbeliebt sei, will Lauterbach | |
trotzdem nichts sagen. „Kein Kommentar“, presst er nur hervor – und erkl�… | |
schnell, er sei „sehr optimistisch“, den Wahlkreis auch zum fünften Mal | |
direkt zu gewinnen. | |
Unwahrscheinlich ist das nicht. Zum großen Unmut seiner Konkurrentin Serap | |
Güler wird Lauterbach von Prominenten wie BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken, | |
dem Investigativjournalisten Günter Wallraff und dem Star-Pianisten Igor | |
Levit unterstützt. Auch das Netzwerk Campact trommelt für Lauterbach – und | |
gegen Güler. | |
Dabei gilt der Corona-Experte längst nicht überall als Teamplayer. Für die | |
SPD-Bundestagsfraktion etwa spricht in Sachen Gesundheitspolitik offiziell | |
Sabine Dittmar – doch mit seiner Medienpräsenz hat Lauterbach die weithin | |
unbekannte Abgeordnete aus Unterfranken an die Wand gespielt. Die Frage der | |
taz, ob er nach der Wahl Gesundheitsminister werden möchte, beantwortet er | |
wohl auch deshalb nicht. Auf Youtube wird Lauterbach deutlicher: „Ich wäre | |
gern Gesundheitsminister geworden. Vielleicht klappt es ja noch.“ | |
In Leverkusen wirkt der Mediziner locker, wenn er über Sachthemen reden | |
kann. Dem 30-jährigen Altenpfleger David Tworek erklärt er, dass die SPD | |
für Entlastung durch bessere Bezahlung und damit mehr Personal stehe. Als | |
ein Coronaskeptiker das Ende aller Schutzmaßnahmen fordert, kontert er mit | |
der Belastung der Krankenhäuser: „Im Uniklinikum Köln müssen schon heute | |
wieder Herzoperationen verschoben werden.“ | |
Doch selbst Lauterbach, der so gern als One-Man-Show auftritt, nutzt die | |
Sympathie, die Olaf Scholz genießt: Einer jungen Frau, die keine bezahlbare | |
Wohnung findet, erklärt er den Vorschlag des SPD-Kanzlerkandidaten, | |
jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen zu lassen. „Machbar ist das. 1973 und | |
1974 wurden sogar doppelt so viele Wohnungen gebaut.“ | |
Der bisherige Vizekanzler wird von den Wähler:innen offenbar für | |
kompetent gehalten. „Olaf Scholz ist in einer viel komfortableren Situation | |
als Armin Laschet“, sagt Norbert Kersting, Professor für vergleichende | |
Politikwissenschaft an der Universität Münster. Durch sein „Image als | |
Bewahrer von Kontinuität“ könne der Sozialdemokrat „wie der Vertreter ein… | |
Regierungspartei“ auftreten – während Laschet „wie ein | |
Oppositionspolitiker“ wirke. Innerparteiliche Kritik am eigenen Kandidaten | |
ist in der SPD deshalb gerade nirgendwo zu hören: „Die Sozialdemokraten | |
halten im Gegensatz zur Union die Füße still“, sagt der | |
Politikwissenschaftler Kersting – „schließlich verspricht Scholz, die SPD | |
zu ihrem größten Sieg seit Jahrzehnten zu führen.“ | |
Wie sehr Scholz zieht, ist auch im Ruhrgebiet zu spüren. Im Wahlkreis Essen | |
III hat der weithin unbekannte Sozialdemokrat Gereon Wolters keine | |
schlechten Chancen, dem Bundestagsabgeordneten Matthias Hauer das einzige | |
Direktmandat abzunehmen, das die Christdemokraten 2017 in einer der | |
Kernstädte des Ruhrgebiets erobern konnten. | |
Laut election.de liegen die Chancen des christdemokratischen Rechtsanwalts, | |
das Direktmandat zu verteidigen, nur bei 17 Prozent. Der 55-jährige | |
SPD-Mann Wolters dagegen wagt zu hoffen. Bundestagsabgeordneter zu werden, | |
sei für ihn „ein Lebenstraum“, sagt Wolters. Er ist Professor für | |
Strafrecht an der Ruhr-Universität Bochum – und stellvertretendes Mitglied | |
des NRW-Verfassungsgerichts in Münster. Als Newcomer setzt er erst einmal | |
auf lokalpolitische Themen: Die Autobahn A40, die Essens Mitte | |
zerschneidet, will er unter einem Deckel verschwinden lassen. Der | |
öffentliche Nahverkehr sei im ganzen Ruhrgebiet „lächerlich“ schlecht | |
ausgebaut – dabei müsse Essen möglichst schnell klimaneutral werden. | |
Sozialpolitisch sei ein Mindestlohn von 12 Euro längst überfällig. | |
Dass Wolters tatsächlich punkten könnte, zeigt sich im Wahlkampf in Essens | |
mit Abstand reichsten Viertel Bredeney. Vor einem auf edel gemachten Edeka | |
verteilt der Sozialdemokrat Rosen und Infomaterial. In der Tiefgarage | |
stehen teure Autos, darunter ein riesiges SUV im Wert von 197.800 Euro. | |
Nicht unbedingt die klassische SPD-Klientel, könnte man meinen. Trotzdem | |
stößt der Professor von der SPD auch hier nicht nur auf Ablehnung. | |
## Scholzʼ Strahlkraft wirkt bis Essen-Bredeney | |
„Erst einmal müssen alle Sozialleistungen auf den Prüfstand“, fordert zwar | |
der 82 Jahre alte Udo Burger, Steuerberater im Ruhestand – SPD werde er | |
„nie“ wählen. „Ich bin bei einem großen Unternehmen im Management“, s… | |
dagegen eine 41-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. | |
Trotzdem sei ihr die „soziale Komponente“ wichtig: „Ich bin gegen prekäre | |
Beschäftigung“, erklärt sie. Deshalb schwanke sie zwischen Grünen und SPD. | |
„Ich hoffe, Herrn Laschet zu verhindern.“ Scholz sei ihr dagegen | |
„sympathisch“. Die Strahlkraft des SPD-Kandidaten – sie wirkt selbst im | |
Nobelstadtteil Bredeney. | |
CDU-Kandidat Hauer geht Scholz deshalb direkt an. Am Montag und am Dienstag | |
ist der 43-jährige Rechtsanwalt nicht wie geplant im Wahlkampf in Essen | |
unterwegs, sondern in Berlin. Ein fest vereinbartes Treffen mit der taz | |
platzt deshalb. | |
Denn im Bundestags-Finanzausschuss hat Hauer einen Namen. In der Hauptstadt | |
will er klarmachen, dass der SPD-Kanzlerkandidat für „Versäumnisse bei der | |
Geldwäsche-Einheit FIU“ verantwortlich sei. Die Kölner Behörde, die Scholz | |
formal untersteht, soll bei kriminellen Geldverschiebungen weggeschaut | |
haben. In einer spektakulären Aktion hat die Staatsanwaltschaft Osnabrück, | |
geführt vom Christdemokraten Bernard Südbeck, das Bundesfinanzministerium | |
deshalb durchsuchen lassen. Ob die Aktion nötig war oder ob ein | |
Oberstaatsanwalt, der in der CDU gut vernetzt ist, Laschet | |
Wahlkampfmunition liefern wollte, ist umstritten. | |
Der Essener Christdemokrat Matthias Hauer jedenfalls ist mit Eifer an der | |
Sache dran: „Das mediale Interesse ist groß“, sagt er am Telefon. Auf den | |
Vizekanzler der Großen Koalition hat er sich schon seit Monaten | |
eingeschossen: Auch für das Versagen der Bankenaufsicht Bafin im | |
Wirecard-Skandal trage der Finanzminister „die politische Verantwortung“, | |
schreibt Hauer auf seiner Homepage – jetzt will er dem SPD-Kandidaten mit | |
den Geldwäschevorwürfen entscheidende Prozentpunkte abnehmen: „Das ist dem | |
nicht so lieb, dass das vor der Wahl noch einmal Thema wird“, freut sich | |
der unter Druck stehende Christdemokrat. | |
Berlin statt Essen, Kampagne statt Straßenwahlkampf. Die Zerstörung von | |
Scholz – [4][für die CDU ist das die letzte Chance]. | |
23 Sep 2021 | |
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Andreas Wyputta | |
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