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# taz.de -- Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen: Zwischen Bibbern und Augenreiben
> Bei der CDU herrscht Frust, das ist unübersehbar. Die SPD hingegen kann
> ihr Glück kaum fassen. Eindrücke vom Straßenwahlkampf in NRW.
Köln/Leverkusen/Essen taz | Serap Güler kämpft. Nordrhein-Westfalens
Staatssekretärin für Integration will mit CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet
nach Berlin, hofft auf ein Bundestagsmandat. Am Samstagnachmittag läuft die
40-Jährige deshalb mit schnellen Schritten durch die Waldsiedlung in
Leverkusen-Schlebusch und wirft eigenhändig Flyer in die Briefkästen. Seit
dem Morgen ist Güler im Wahlkampfeinsatz, immer freundlich, immer
zugewandt, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Druck, unter dem sie
acht Tage vor der Wahl steht, ist ihr nur selten anzumerken. „Im Moment bin
ich froh, wenn ich auf fünf Stunden Schlaf komme“, sagt sie dann.
Hier in der Waldsiedlung sind kaum Menschen auf den Straßen zu sehen –
trotzdem ist der kilometerlange Marsch für die im nördlichen Ruhrgebiet
geborene Tochter türkischer Arbeitsmigrant:innen ein Heimspiel: „Die
meisten hier wählen Sie sowieso“, sagt ihr ein Mann, der ihre Wahlwerbung
durch die heruntergelassene Scheibe seines Pkw entgegennimmt.
Die Waldsiedlung, das ist der gediegene Wohlstand der alten rheinischen
Bundesrepublik. Der Fluss ist nur wenige Kilometer entfernt, die Gärten
sind groß, der Baumbestand alt. Besuch wird dezent auf Abstand gehalten:
Die Klingeln finden sich nicht an den Häusern, sondern schon an der
Grundstücksgrenze. „Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr haben wir hier
45 Prozent geholt“, sagt Jonas Dankert, Kreisvorsitzender der Jungen Union
Leverkusens, der Serap Güler auf ihrem Haustürwahlkampf begleitet. „Wenn
die uns hier nicht mehr wählen“, sagt der 25-Jährige – und bricht den Satz
dann lieber schnell ab.
Was Dankert treibt, ist die Angst, die die Christdemokraten überall in
Deutschland befallen hat. Seit Wochen schon liegt die SPD in Umfragen mit
25 bis 26 Prozent vorn, dümpeln CDU und CSU bei miesen 20 bis 22 Prozent.
Erstmals seit 2005 sind die Oppositionsbänke in Sicht.
## Die drohende Selbstzerfleischung der CDU
Der Union, die sich immer als die Regierungspartei der Bundesrepublik
begriffen hat, droht damit mehr als ein Machtverlust: Sollte ihr
Kanzlerkandidat am Sonntag tatsächlich krachend scheitern, stehen heftige
Machtkämpfe an zwischen dem liberalen Merkelflügel Laschets und den
Konservativen rund um den neoliberalen Hardliner Friedrich Merz, der selbst
in der heißesten Wahlkampfphase laut über einen Arbeitsdienst für
Langzeitarbeitslose nachdachte. Die CDU könnte sich selbst zerfleischen.
Auf welcher Seite Serap Güler steht, ist klar: [1][Sie gilt in der CDU als
Laschet-Ultra]. Am Sonntag sitzt sie mit den Christdemokraten Volker
Bouffier und Thomas Strobl im Fanblock, der Laschet nach dem dritten
TV-Duell wie einen strahlenden Sieger begrüßt.
Für Laschet hat die Bergmannstochter aus Marl schon als Referentin
gearbeitet, als der noch Deutschlands erster Integrationsminister war. 2009
ist Güler in die CDU eingetreten, 2017 ernannte Laschet sie zur
Staatssekretärin. Für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten ist seine
Vertraute das Symbol einer neuen, weltoffenen Union, wählbar auch für
Menschen mit Migrationshintergrund und urbane Mittelschichten.
[2][„Konservativ, liberal, sozial“ sei sie, sagt Güler selbst] – und ist
damit quasi die Parteilinke. Ihr Auftritt in der Waldsiedlung ist der
Versuch, kurz vor der Wahl wenigstens möglichst viele Stammwähler:innen
zu mobilisieren, um wieder auf Augenhöhe zur SPD zu kommen – und so ihren
Förderer Laschet zu retten.
Denn dass ihr Wahlkampf da, wo sie eigentlich punkten soll, nicht rund
läuft, weiß Güler selbst. Sie tritt im Wahlkreis Leverkusen – Köln IV an.
Dazu gehören Viertel wie Dellbrück, Buchforst und soziale Brennpunkte wie
der Wiener Platz: Früher wurde hier viel CDU gewählt, heute immer mehr
Grün. Schon am Morgen war Güler hier unterwegs – und ist gewarnt worden:
„Für Sie ist hier nichts zu holen“, sagt ihr eine pensionierte Lehrerin in
Buchforst, die sich als CDU-Wählerin zu erkennen gibt. „Ich wohne hier. Die
SPD könnte einen Besenstiel aufstellen – und der würde gewählt.“
Güler, die für die doppelte Staatsbürgerschaft ebenso kämpft wie für ein
Bundesintegrationsministerium, das Einwanderung organisieren und
Deutschlands massiven Fachkräftemangel von 400.000 jährlich fehlenden
Arbeitskräften bekämpfen soll, stellt sich trotzdem unter die orangenen
Sonnenschirme ihrer CDU. Auf weißen Stehtischchen liegen Flyer mit ihrem
Foto, dazu Kugelschreiber, Flaschenöffner und Buntstifte als
Werbegeschenke.
„Mein Name ist Serap Güler, ich bin ihre Wahlkreiskandidatin von der CDU“,
spricht sie ein Paar im Rentenalter an. Er hat als Anästhesist, sie als
Krankenschwester gearbeitet. „Sehr entzückend“ finde sie „Frau Güler“,
erklärt die 70-Jährige prompt – Migration habe sie immer als „Bereicherun…
wahrgenommen. Gewählt haben die beiden schon per Briefwahl, aber nicht die
CDU.
Stattdessen gingen ihre Zweitstimmen an die Grünen, erzählen sie – und die
Erststimmen an Gülers starken SPD-Konkurrenten im Wahlkreis. Der ist einer
der bekanntesten Sozialdemokraten, in der Coronakrise auf allen Kanälen, in
den sozialen Netzwerken fast omnipräsent: der Gesundheitsexperte Karl
Lauterbach. „30 Jahre lang“ habe die CDU „die Klimakatastrophe
verschlafen“, erklärt das Rentnerpaar – deshalb grün. Und der Mediziner
Lauterbach, der sei „in der Pandemie so angefeindet worden, der muss
einfach gestärkt werden“, sagt der pensionierte Anästhesist.
Viermal schon hat Lauterbach den Wahlkreis seit 2005 per Erststimme erobert
– und zumindest laut der Prognose des Portals election.de wird der
Sozialdemokrat auch in diesem Jahr direkt gewählt werden. Zwar ist Güler
selbst über Platz 8 der CDU-Landesliste relativ komfortabel abgesichert: In
den Bundestag könnte sie es wohl auch schaffen, wenn die Union am Sonntag
ihre demütigendste Niederlage seit Gründung der Bundesrepublik einführe.
## Handwerkliche Schwächen der CDU-Kampagne
Für Laschet aber wäre eine Niederlage Gülers gegen Lauterbach ein weiteres
Symbol seines Scheiterns, gerade im bevölkerungsreichsten
Nordrhein-Westfalen, das für die Bundestagswahl entscheidend ist. Zwischen
Rhein und Weser leben mehr als 18 Millionen Menschen – das sind rund 21
Prozent der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik.
Dass Laschet mit seinem merkwürdigen Lachanfall mitten im Flutgebiet, mit
seinen vielen schrägen TV-Auftritten selbst riesige Fehler gemacht hat,
weiß Güler. Als sie aus ihrem Wahlkampfmobil aussteigt, einem mit ihrem
Foto beklebten und Wahlwerbung vollgestopften Elektroauto, versucht sie
trotzdem, ihren Förderer zu verteidigen. „Ich bin von Laschet überzeugt“,
sagt sie tapfer. Allerdings: Die Frage, ob der Kandidat richtig verkauft
werde, die sei schon „berechtigt“. Es scheint Frust aus ihr
herauszubrechen.
Simpelste handwerkliche Schwächen habe die CDU-Kampagne. „Wissen Sie, wie
viele Plakate mit dem Foto Laschets wir für ganz Köln bekommen haben? 30!“,
ärgert sich die Wahlkämpferin, die sich jetzt fragen lassen muss, ob sie
den vermeintlichen Verlierer genauso gezielt verstecke wie etwa
Parteifreunde im Saarland. „Dies ist der zähste Wahlkampf, seit ich 2009 in
die Partei eingetreten bin“, seufzt Güler. „Der Sonntag endet entweder mit
einer riesigen Niederlage für die CDU – oder für die Demoskopen.“
Zwar gibt es derzeit keine aktuellen Umfragen, in denen das Abschneiden der
Parteien bei der Bundestagswahl allein in Nordrhein-Westfalen ermittelt
wurde. Erhoben worden seien ihre Stichproben bundesweit, erklären die
Institute. Der Inhaber von election.de, Matthias Moehl, nennt dagegen
Zahlen – und danach ist auch in Laschets Heimat keinerlei Durchmarsch
seiner Christdemokraten in Sicht. „In Nordrhein-Westfalen sehen wir die SPD
relativ weit vorn“, sagt Moehl. Von den 64 Wahlkreisen könne die SPD bis zu
40 erobern – die CDU werde den Erhebungen nach dagegen nur etwa 24
Direktmandate erringen.
Insgesamt gingen die Projektionen von election.de von insgesamt 168
Bundestagssitzen aus, die allein in NRW per Erst- und Zweitstimme vergeben
werden könnten. Und von diesen könnten laut Moehl 55 an die SPD und 37 an
die CDU gehen. In ihrem einstigen Stammland an Rhein und Ruhr wären die
Sozialdemokraten plötzlich wieder die Platzhirsche, die sie jahrzehntelang
waren.
Trotzdem sind das nur Annäherungswerte – schließlich liegen auch die
bundesweiten Umfragen bei Fehlertoleranzen von 2,5 bis 3 Prozent. „Bis zum
Wahlabend bleibt vieles offen – die Demoskopie, die Prognosen kommen an
ihre Grenzen“, sagt Moehl.
„Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die SPD auf Platz eins liegen
wird“, glaubt auch der Politikwissenschaftler Stefan Marschall, der an der
Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität einen Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt
„Politisches System Deutschlands“ hat. Allerdings basiere der Vorsprung
Sozialdemokraten vor allem auf den hohen Kompetenz- und Sympathiewerten
ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. „Auf dem Wahlzettel stehen aber nicht
die Namen von Kandidaten, sondern von Parteien“, warnt Marschall. „Wirklich
einschätzen können wir das Wahlergebnis erst am Sonntag um 18:01 Uhr.“
Laschet setzt deshalb auf das Prinzip Hoffnung – wer jetzt verzagt wirkt,
hat schon verloren. In einer „Aufholjagd“, sei die Union, beteuert der
CDU-Kanzlerkandidat deshalb immer wieder, „das Rennen“ sei „offen wie nie
zuvor“. Auch Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder hofft auf ein
„Wimpernschlagfinale“ – dabei hatte der Mann in München über Monate imm…
wieder klargemacht, dass er sich selbst weiter für den besseren
Kanzlerkandidat hält. Sticheleien, ins Kanzleramt komme man nicht im
Schlafwagen, zielten direkt auf Laschet. Wenige Tage vor der Bundestagswahl
sieht Söder jetzt „die Talfahrt der letzten Wochen gestoppt“, immerhin.
In der Union aber gilt allein schon die Vorstellung eines
Kopf-an-Kopf-Rennens mit der SPD als größte vorstellbare Katastrophe, sorgt
für Wut – und schon heute für Schuldzuweisungen. „Schlecht organisiert“,
„schlecht gemacht“ sei der Wahlkampf, stöhnen deshalb Christdemokraten in
Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Blick haben sie das
Konrad-Adenauer-Haus, die CDU-Parteizentrale in Berlin. Geführt wird die
von dem aus dem sauerländisch-westfälischen Iserlohn stammenden
Generalsekretär Paul Ziemiak. Die mögliche Selbstzerfleischung der Union –
sie wird schon Tage vor der Wahl spürbar.
„Nichtssagend“, inhaltsleer, nicht auf den einst als liberal und auf
sozialen Ausgleich bedachten Laschet zugeschnitten sei die eigene Kampagne,
heißt es am Rhein von CDUlern, die nicht genannt werden möchten: „Wir
erzählen keine Geschichte, warum wir nach 16 Jahren Merkel weitere 4 Jahre
den Kanzler stellen müssen.“
Doch für Frust und Wut gerade unter progressiveren Christdemokraten sorgt
auch Laschet selbst. Nicht wenige seiner Unterstützer:innen fühlen
sich durch die Personalauswahl ihres Kanzlerkandidaten übergangen – und
giften über das [3][„Zukunftsteam“], das Laschet nach viel Hin und Her
Anfang September vorgestellt hat. Dessen prominentestes Mitglied Friedrich
Merz, bringt sich für den Fall einer Niederlage schon heute als Kandidat
für den Vorsitz von Bundestagsfraktion und Bundespartei in Stellung. Und
zur sächsische Kultusministerin, die in Laschets schon fast wieder
vergessenem „Zukunftsteam“ die Bereiche „Soziales und gleichwertige
Lebensverhältnisse“ abdecken soll, heißt es in NRW nur: „Kennen Sie Frau
Klepsch?“
Die Sozialdemokraten dagegen können ihr Glück kaum fassen. Deutlich wird
das bei einer Tour mit Karl Lauterbach. Der viermal direkt gewählte
Abgeordnete wirkt fast schüchtern, als er begleitet von Sicherheitsleuten
in Köln-Dellbrück aus einem schwarzen Auto steigt. Mit seinen Warnungen vor
den Gefahren der Pandemie ist der Talkshow-Dauergast zum Hassobjekt von
Coronaleugnern geworden, steht nach Morddrohungen und Angriffen unter
Personenschutz.
Unter seinem grauen Jackett trägt Lauterbach ein hellblaues, silber
getupftes Hemd und einen roten Pullover, dazu schwarze Jeans. Mit seiner
selbst zusammengetackerten doppelten FFP2-Maske wirkt der 58-Jährige ein
wenig wie ein Nerd. Vorsichtig und zurückhaltend geht er über die
Dellbrücker Hauptstraße, während sein Parteifreund Horst Noack für ihn
Werbung macht. „Hier ist er, der Professor“, sagt der 72-Jährige, der seit
40 Jahren in der SPD ist und elf Jahre Stadtrat war, zu einer Seniorin.
„Ich weiß, ich hab ihn schon gewählt“, kontert die trocken.
In Leverkusen-Opladen ist Lauterbach dagegen nicht selten ein Star. Eine
grauhaarige Seniorin verbeugt sich vor ihm, eine andere bittet um ein
Autogramm. Zur Frage, warum ihn die SPD mit dem aussichtslosen Listenplatz
23 abgespeist hat, ob er also in der Partei unbeliebt sei, will Lauterbach
trotzdem nichts sagen. „Kein Kommentar“, presst er nur hervor – und erkl�…
schnell, er sei „sehr optimistisch“, den Wahlkreis auch zum fünften Mal
direkt zu gewinnen.
Unwahrscheinlich ist das nicht. Zum großen Unmut seiner Konkurrentin Serap
Güler wird Lauterbach von Prominenten wie BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken,
dem Investigativjournalisten Günter Wallraff und dem Star-Pianisten Igor
Levit unterstützt. Auch das Netzwerk Campact trommelt für Lauterbach – und
gegen Güler.
Dabei gilt der Corona-Experte längst nicht überall als Teamplayer. Für die
SPD-Bundestagsfraktion etwa spricht in Sachen Gesundheitspolitik offiziell
Sabine Dittmar – doch mit seiner Medienpräsenz hat Lauterbach die weithin
unbekannte Abgeordnete aus Unterfranken an die Wand gespielt. Die Frage der
taz, ob er nach der Wahl Gesundheitsminister werden möchte, beantwortet er
wohl auch deshalb nicht. Auf Youtube wird Lauterbach deutlicher: „Ich wäre
gern Gesundheitsminister geworden. Vielleicht klappt es ja noch.“
In Leverkusen wirkt der Mediziner locker, wenn er über Sachthemen reden
kann. Dem 30-jährigen Altenpfleger David Tworek erklärt er, dass die SPD
für Entlastung durch bessere Bezahlung und damit mehr Personal stehe. Als
ein Coronaskeptiker das Ende aller Schutzmaßnahmen fordert, kontert er mit
der Belastung der Krankenhäuser: „Im Uniklinikum Köln müssen schon heute
wieder Herzoperationen verschoben werden.“
Doch selbst Lauterbach, der so gern als One-Man-Show auftritt, nutzt die
Sympathie, die Olaf Scholz genießt: Einer jungen Frau, die keine bezahlbare
Wohnung findet, erklärt er den Vorschlag des SPD-Kanzlerkandidaten,
jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen zu lassen. „Machbar ist das. 1973 und
1974 wurden sogar doppelt so viele Wohnungen gebaut.“
Der bisherige Vizekanzler wird von den Wähler:innen offenbar für
kompetent gehalten. „Olaf Scholz ist in einer viel komfortableren Situation
als Armin Laschet“, sagt Norbert Kersting, Professor für vergleichende
Politikwissenschaft an der Universität Münster. Durch sein „Image als
Bewahrer von Kontinuität“ könne der Sozialdemokrat „wie der Vertreter ein…
Regierungspartei“ auftreten – während Laschet „wie ein
Oppositionspolitiker“ wirke. Innerparteiliche Kritik am eigenen Kandidaten
ist in der SPD deshalb gerade nirgendwo zu hören: „Die Sozialdemokraten
halten im Gegensatz zur Union die Füße still“, sagt der
Politikwissenschaftler Kersting – „schließlich verspricht Scholz, die SPD
zu ihrem größten Sieg seit Jahrzehnten zu führen.“
Wie sehr Scholz zieht, ist auch im Ruhrgebiet zu spüren. Im Wahlkreis Essen
III hat der weithin unbekannte Sozialdemokrat Gereon Wolters keine
schlechten Chancen, dem Bundestagsabgeordneten Matthias Hauer das einzige
Direktmandat abzunehmen, das die Christdemokraten 2017 in einer der
Kernstädte des Ruhrgebiets erobern konnten.
Laut election.de liegen die Chancen des christdemokratischen Rechtsanwalts,
das Direktmandat zu verteidigen, nur bei 17 Prozent. Der 55-jährige
SPD-Mann Wolters dagegen wagt zu hoffen. Bundestagsabgeordneter zu werden,
sei für ihn „ein Lebenstraum“, sagt Wolters. Er ist Professor für
Strafrecht an der Ruhr-Universität Bochum – und stellvertretendes Mitglied
des NRW-Verfassungsgerichts in Münster. Als Newcomer setzt er erst einmal
auf lokalpolitische Themen: Die Autobahn A40, die Essens Mitte
zerschneidet, will er unter einem Deckel verschwinden lassen. Der
öffentliche Nahverkehr sei im ganzen Ruhrgebiet „lächerlich“ schlecht
ausgebaut – dabei müsse Essen möglichst schnell klimaneutral werden.
Sozialpolitisch sei ein Mindestlohn von 12 Euro längst überfällig.
Dass Wolters tatsächlich punkten könnte, zeigt sich im Wahlkampf in Essens
mit Abstand reichsten Viertel Bredeney. Vor einem auf edel gemachten Edeka
verteilt der Sozialdemokrat Rosen und Infomaterial. In der Tiefgarage
stehen teure Autos, darunter ein riesiges SUV im Wert von 197.800 Euro.
Nicht unbedingt die klassische SPD-Klientel, könnte man meinen. Trotzdem
stößt der Professor von der SPD auch hier nicht nur auf Ablehnung.
## Scholzʼ Strahlkraft wirkt bis Essen-Bredeney
„Erst einmal müssen alle Sozialleistungen auf den Prüfstand“, fordert zwar
der 82 Jahre alte Udo Burger, Steuerberater im Ruhestand – SPD werde er
„nie“ wählen. „Ich bin bei einem großen Unternehmen im Management“, s…
dagegen eine 41-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Trotzdem sei ihr die „soziale Komponente“ wichtig: „Ich bin gegen prekäre
Beschäftigung“, erklärt sie. Deshalb schwanke sie zwischen Grünen und SPD.
„Ich hoffe, Herrn Laschet zu verhindern.“ Scholz sei ihr dagegen
„sympathisch“. Die Strahlkraft des SPD-Kandidaten – sie wirkt selbst im
Nobelstadtteil Bredeney.
CDU-Kandidat Hauer geht Scholz deshalb direkt an. Am Montag und am Dienstag
ist der 43-jährige Rechtsanwalt nicht wie geplant im Wahlkampf in Essen
unterwegs, sondern in Berlin. Ein fest vereinbartes Treffen mit der taz
platzt deshalb.
Denn im Bundestags-Finanzausschuss hat Hauer einen Namen. In der Hauptstadt
will er klarmachen, dass der SPD-Kanzlerkandidat für „Versäumnisse bei der
Geldwäsche-Einheit FIU“ verantwortlich sei. Die Kölner Behörde, die Scholz
formal untersteht, soll bei kriminellen Geldverschiebungen weggeschaut
haben. In einer spektakulären Aktion hat die Staatsanwaltschaft Osnabrück,
geführt vom Christdemokraten Bernard Südbeck, das Bundesfinanzministerium
deshalb durchsuchen lassen. Ob die Aktion nötig war oder ob ein
Oberstaatsanwalt, der in der CDU gut vernetzt ist, Laschet
Wahlkampfmunition liefern wollte, ist umstritten.
Der Essener Christdemokrat Matthias Hauer jedenfalls ist mit Eifer an der
Sache dran: „Das mediale Interesse ist groß“, sagt er am Telefon. Auf den
Vizekanzler der Großen Koalition hat er sich schon seit Monaten
eingeschossen: Auch für das Versagen der Bankenaufsicht Bafin im
Wirecard-Skandal trage der Finanzminister „die politische Verantwortung“,
schreibt Hauer auf seiner Homepage – jetzt will er dem SPD-Kandidaten mit
den Geldwäschevorwürfen entscheidende Prozentpunkte abnehmen: „Das ist dem
nicht so lieb, dass das vor der Wahl noch einmal Thema wird“, freut sich
der unter Druck stehende Christdemokrat.
Berlin statt Essen, Kampagne statt Straßenwahlkampf. Die Zerstörung von
Scholz – [4][für die CDU ist das die letzte Chance].
23 Sep 2021
## LINKS
[1] /CDU-Politikerinnen-mit-Zukunft/!5782308
[2] /Serap-Gueler-ueber-Vorstoss-aus-Berlin/!5747792
[3] /Kanzlerkandidat-Laschet-stellt-Koepfe-vor/!5798942
[4] /CDU-und-Rot-Rot-Gruen/!5794069
## AUTOREN
Andreas Wyputta
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