| # taz.de -- Armut in Deutschland: No money, no Zins | |
| > Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht die Vermögensbildung durch | |
| > Niedrigzinspolitik gefährdet. Und erzielt so einen Propagandaerfolg. | |
| Bild: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Sollzinsbindung“ | |
| Vor ein paar Jahren kursierte im Freundeskreis eine Liste. Es ging darum, | |
| was man noch unternehmen kann, wenn gar kein Geld mehr da ist: also zum | |
| Beispiel sich in die Bibliothek setzen (soweit keine Pandemie das | |
| verhindert) oder gar ein Buch ausleihen (soweit die Ausweisgebühr bezahlt | |
| ist). | |
| Für viele Menschen ist das Total-abgebrannt-Sein nur eine Phase, die zum | |
| Erwachsenwerden dazugehört und auf die man im gesetzteren Alter sentimental | |
| zurückblickt. Für andere ist die Dauerpleite Lebensbegleiter. [1][Zu den | |
| Promis dieser Kategorie gehört etwa der Dichter Dante Alighieri], dessen | |
| siebenhundertsten Todestags wir, wie es der Zufall will, nächste Woche am | |
| 14. September gedenken können. Dante spricht, in den höchsten denkbaren | |
| Höhen, also im Paradies angekommen, davon, wie versalzen die einem von den | |
| Reichen hingeworfenen Brotbröckchen schmeckten und welch bitterer Weg es | |
| sei, als ewiger Bittsteller die Treppen anderer erst hoch- und dann wieder | |
| hinuntersteigen zu müssen. | |
| [2][Deutschland ist bekanntlich eine Klassengesellschaft.] Deswegen ist | |
| Hellhörigkeit angesagt, wenn ein von den Arbeitgebern finanzierter | |
| Thinktank sich in einer Studie plötzlich Sorgen um ärmere Haushalte macht. | |
| Erstellt hat die diese Woche erschienene Studie [3][„Der Einfluss der | |
| EZB-Geldpolitik auf die Vermögensverteilung in Deutschland“] das | |
| Institut der deutschen Wirtschaft (IW), herausgegeben wurde sie von der | |
| Stiftung Familienunternehmen. | |
| Das IW ist im Nebenberuf übrigens auch zuständig für die | |
| arbeitgeberfinanzierte Propagandaorganisation Initiative Neue Soziale | |
| Marktwirtschaft (INSM). Die INSM fiel jüngst durch ihre mindestens | |
| geschmacklose, wenn nicht „antisemitische Anspielungen in Kauf“ nehmende – | |
| [4][so der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn] – | |
| Negativkampagne gegen die Grünen im Wahlkampf auf. | |
| ## Keine Vereinigung netter Mittelständler | |
| In der Studie kommen die Verfasser zu dem Schluss, die niedrigen Zinsen im | |
| Euroraum erschwerten den „Vermögensaufbau und die Altersvorsorge für | |
| diejenigen Haushalte, die aufgrund ihrer niedrigen Einkommen und niedrigen | |
| Vermögen auf risikoarme Anlageformen angewiesen sind“. Oder noch mal anders | |
| formuliert: „Nachteile ergeben sich vor allem für Haushalte, die nicht in | |
| eine Immobilie investiert haben beziehungsweise konnten und ihre | |
| Vermögensanlage über Zinsprodukte gestalteten.“ | |
| [5][Da die aus solchen Sätzen generierte und unbeschwert durch die Medien | |
| schwingende Botschaft] die ist, dass die EZB schuld daran sei, wenn „arme“ | |
| Familien kein Vermögen aufbauten oder kein Häuschen mehr bauen könnten, | |
| muss noch nachgetragen werden, dass es sich bei der Stiftung | |
| Familienunternehmen mitnichten um eine Vereinigung netter Mittelständler | |
| handelt, sondern um eine – selbstverständlich gemeinnützige – | |
| [6][Lobbyorganisation von Superreichen], die unermüdlich gegen Mindestlohn | |
| und höhere Erbschaftsteuern kämpft. | |
| Wenn wir nun zu den einleitenden Worten zurückkehren, dann ist zumindest | |
| eines klar: Wer kein Geld hat, bekommt auch keine Zinsen drauf. „Das | |
| reichste Zehntel in Deutschland verfügt über 67,3 Prozent des gesamten | |
| Nettovermögens. Für den großen Rest der Bevölkerung bleibt also wenig | |
| übrig, und die ärmere Hälfte besitzt fast nichts“, kommentierte [7][Ulrike | |
| Herrmann] in der taz die 2020er-Zahlen des – zu einem Großteil öffentlich | |
| finanzierten – Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. | |
| Wem nichts zum Sparen bleibt, wer wie sehr viele Menschen nichts hat außer | |
| Kleidung, ein paar Haushaltsgeräten und, wenn es gut läuft, einem zur | |
| Hälfte abbezahlten Auto oder, wenn es schlecht läuft, einem zu bedienenden | |
| Kredit – wem es so ergeht, der wird der EZB eher dankbar sein müssen, dass | |
| sie durch den Niedrigzins wenigstens den Arbeitsmarkt am Laufen hält. Die | |
| lockere Geldpolitik stütze Wirtschaft und Konjunktur und sorge so für eine | |
| Verringerung der Arbeitslosigkeit und höhere Einkommen: Z[8][u diesem | |
| Schluss kommt jedenfalls die Notenbank selbst.] Von der Senkung der | |
| Arbeitslosenquote profitiere das einkommensschwächste Fünftel der Haushalte | |
| in besonderem Maße. | |
| ## Worum es eigentlich geht | |
| Wer jetzt kein Haus hat, baut sich angesichts des spekulationsbedingt | |
| völlig losgelösten Immobilienmarkts keines mehr. Wer zur Miete wohnt, ist | |
| einem System ausgeliefert, das es nicht schafft, Wohnraum zu angemessen | |
| Preisen zur Verfügung zu stellen. | |
| Aber auch wer eine – also genau eine – Immobilie besitzt, kann sie nicht | |
| einfach verkaufen und Reibach machen, denn irgendwo will Mensch ja auch | |
| noch wohnen. „Für einen erschwinglichen Immobilienerwerb“, heißt es in der | |
| IW-Studie zum Thema, „ist vor allem eine Ausweitung der Bautätigkeit | |
| erforderlich. Dadurch würde ein höheres Angebot an Immobilien entstehen und | |
| die Immobilienpreise senken.“ | |
| Das ist nicht nur sprachlich auf niedrigem, sondern auch auf gegenwärtigem | |
| SPD-Kampagnen-Niveau (Plakat: „Mehr Wohnungen – bezahlbare Mieten“). Ein | |
| Gang durch eine inzwischen fast schon beliebige deutsche Gegend zeigt aber, | |
| dass es haufenweise spekulativen Leerstand gibt; und ein Blick in die | |
| Immobilienportale beweist, dass jede Menge Wohnungen verfügbar wären, nur | |
| nicht die, die tatsächlich gebraucht werden. | |
| Selbstverständlich ist es legitim, die europäische Zinspolitik kritisch zu | |
| untersuchen. Unter falscher Flagge segelt allerdings, wer in ihr den Grund | |
| festmachen will für die obszöne soziale Spaltung; und jedenfalls einen | |
| propagandistischen Erfolg hat verbucht, wer es mit dieser unreflektiert | |
| wiedergegebenen Einschätzung in die „Tagesschau“ [9][und den | |
| Deutschlandfunk schafft]. | |
| Am Schluss der Studie wird dann noch deutlich, worum es eigentlich geht: Es | |
| soll „von der Einführung einer Vermögensteuer abgesehen werden“. Da sind | |
| wir dann gleich mitten im Wahlkampf; und wenn nicht alles täuscht, dann hat | |
| dieser zuletzt eine bemerkenswerte Wendung erfahren. Fragen der | |
| Besteuerung, der Verteilung, ja der Enteignung stehen im sonst so | |
| geldscheuen Deutschland auf ungewohnte Art im Mittelpunkt: Wenn sogar Dante | |
| im Paradies die unerträgliche Arroganz der Reichen einen Vers wert war, | |
| sollten wir hier auf Erden nicht zurückstehen. | |
| 9 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zum-750-Geburtstag-Dante-Alighieris/!5203203 | |
| [2] /Ungleichheit-bei-Vermoegen-in-Deutschland/!5695967 | |
| [3] https://www.familienunternehmen.de/media/public/pdf/publikationen-studien/s… | |
| [4] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wahlkampf-antisemitismus-emck… | |
| [5] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/ezb-niedrigzinsen-vermoegen-1… | |
| [6] https://www.lobbycontrol.de/2016/09/erbschaftssteuer-wer-sind-die-lobbyiste… | |
| [7] /Studie-zu-Verteilung-von-Vermoegen/!5695974 | |
| [8] https://www.faz.net/aktuell/finanzen/ezb-niedrigzinsen-verschaerfen-die-ung… | |
| [9] https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaftsgespraech.3668.de.html | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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