# taz.de -- Afghanische Geflüchtete in Russland: Kein Weg zurück nach Kabul | |
> Afghan*innen in Russland warten ewig auf die Anerkennung als | |
> Flüchtling. Die Machtübernahme durch die Taliban macht ihre Lage noch | |
> prekärer. | |
Bild: Geflüchtete an der norwegisch-russischen Grenze in der Region Murmansk | |
MOSKAU taz | Was aus ihm nun wird, das weiß er noch nicht. Das weiß niemand | |
hier im Raum, in diesem Hochhaus im Norden Moskaus, wo Baburschah, ein | |
25-jähriger Afghane, samt seinem blauen Rucksack auf Anraten seiner | |
Bekannten auf Hilfe wartet. Auf Adressen, ein paar Worte der Unterstützung, | |
irgendetwas. Die Dozent*innen konnten ihm, der vor zwei Jahren aus Kabul | |
zum Studium nach Russland gekommen war, nicht helfen, weil auch sie nicht | |
wissen, wie ihr Student weiter studieren soll. | |
Die Behörden sind ebenfalls ratlos, was sie mit den etwa 500 afghanischen | |
Studierenden im Land tun sollen. Baburschahs Visum läuft in dieser Woche | |
ab. Er müsste zurückfliegen, um ein neues zu beantragen, so sind die | |
Regeln. Zurück [1][nach Afghanistan]. „Zum Sterben?“ | |
So wird Baburschah in diesen Stunden vom Studenten an der Fakultät für | |
Internationale Beziehungen zum Geflüchteten. Einem, mit dem sich Russland | |
schwertut. Wie es sich stets schwer damit tut, Flüchtlinge als solche | |
anzuerkennen. Russische Menschenrechtler*innen sprechen von mehreren | |
Hunderttausenden Geflüchteten in ihrem Land. Offiziell haben lediglich 455 | |
Menschen diesen Status. | |
Der [2][Kreml hat die Taliban] – nach russischem Gesetz als | |
Terrororganisation eingestuft und daher eigentlich verboten – als „neue | |
Realität“ in Afghanistan jedoch längst akzeptiert. Moskau hatte bereits in | |
den vergangenen Jahren keine Scheu, die bärtigen Mullahs zu empfangen, und | |
sagt auch in diesen Tagen, die Taliban hätten sich geändert und | |
gewährleisteten die Sicherheit. | |
## Sich selbst überlassen | |
Afghan*innen, die auch die russische Staatsbürgerschaft besitzen, müssen in | |
den meisten Fällen derzeit selbst schauen, wie sie aus Kabul herauskommen. | |
In Russland sind sie sich ebenfalls selbst überlassen. Da sie hier keine | |
Bleibe haben, kein Konto, keinen Job, kein Geld, anfangs nicht einmal eine | |
Registrierung, bleibt oft nur der Gang zu Menschenrechtsorganisationen, mit | |
der geradezu verzweifelten Bitte: „Helfen Sie uns!“ | |
Die Hilfe aber hängt meistens an den Finanzen und an offiziellen | |
Anlaufstellen, die klaren Regeln folgen müssten, wer Asyl beantragen kann, | |
wer ein „vorläufiges Asyl“ für ein Jahr bekommt oder einen unbefristeten | |
Flüchtlingsstatus erhält. | |
„Doch mit wem können wir noch sprechen? An wen können wir uns wenden?“, | |
fragt [3][Swetlana Gannuschkina], die Mitbegründerin und Vorsitzende der | |
NGO „Bürgerlicher Beistand“ und Trägerin des alternativen Nobelpreises, | |
fast schon rhetorisch. Die 79-Jährige setzt sich seit den 1980er Jahren für | |
Flüchtlinge und Vertriebene ein, einst saß sie im Menschenrechtsrat beim | |
Präsidenten der Russischen Föderation – einer Einrichtung, die Staat und | |
Zivilgesellschaft zusammenbringen sollte. | |
Der Rat arbeitete auch an Gesetzen mit, die die Rechte von Geflüchteten | |
stärken sollten. Längst ist er allerdings zu einem Feigenblatt verkommen, | |
kritische Mitglieder mussten ihn aufgrund eines Dekrets von Präsident | |
Wladimir Putin verlassen. Das gilt auch für Swetlana Gannuschkina. Im Jahr | |
2015 hat die russische Justiz ihre Nichtregierungsorganisation zudem zu | |
einem sogenannten [4][ausländischen Agenten] abgestempelt. „Bürgerlicher | |
Beistand“ bekommt Projektgelder aus dem Ausland. | |
„Den Behörden fehlen Direktiven von ganz oben. Erst wenn es solche | |
Weisungen gibt, handeln sie“, sagt sie in ihrem Büro, an dessen Wänden | |
Urkunden aus verschiedenen Ländern für ihr Engagement hängen und in deren | |
Regalen sich Bücher zur Lage von Geflüchteten und Vertriebenen stapeln. | |
„Unser Land wird durch Signale von oben geführt. In allen Bereichen“, sagt | |
sie ruhig. | |
## Bildung nur mit den „richtigen“ Papieren | |
Signale, wie mit Menschen, die in Russland Asyl suchen, mit Syrer*innen, | |
Afghan*innen, Kongoles*innen, Nigerianer*innen, Iraner*innen umzugehen | |
sei, fehlten seit Jahren. Und so lässt die NGO Menschen, die sich an sie | |
wenden, mehrmals die gleichen Anträge ausfüllen, damit sie bis zur | |
Entscheidung wenigstens im Land bleiben können. | |
Die Mitarbeiter*innen kümmern sich schon einmal um Kleidung und Essen | |
für Geflüchtete, organisieren eine Art Schule für die Kinder von | |
Flüchtlingen und Migrant*innen, weil der russische Staat für alle | |
Ausländer*innen den Zugang zur Bildung schwer macht. | |
Gannuschkina holt ein Büchlein aus ihrer Tasche. „Artikel 43“, liest sie | |
vor. „Der Staat garantiert jedem im Land das Recht auf Bildung, steht in | |
unserer Verfassung. Jedem! Was macht unser Staat? Er hält alle, die nicht | |
das richtige Papier in der Tasche haben, von der Bildung ab.“ | |
Seit die Verwaltung immer digitaler wird, fällt Ausländer*innen der | |
Zugang zu gewissen Angeboten im Land immer schwerer. Konnten Eltern oder | |
Organisationen früher direkt mit der Schule um einen Platz verhandeln, | |
fallen sie nun aus dem digitalen System ganz heraus. Sie bleiben | |
unsichtbar. Das Zimmer nebenan ist gefüllt mit Menschen aus Zentralasien, | |
aus Iran, aus dem Kaukasus. So mancher hält ein Schulbuch in der Hand, die | |
meisten einen Stapel Papiere von unterschiedlichen Behörden. | |
## Kampf für das Recht, zu bleiben | |
„Ohne Dokumente kannst du nicht leben, du existierst nur, irgendwie“, sagt | |
Feroz Mohammad Fahim. 1986 war er aus Kabul nach Moskau gekommen, damals | |
noch Sowjetunion. Er studierte Ingenieurwissenschaften, in der Hauptstadt, | |
in Charkiw (heute in der Ukraine). | |
Dann kamen die Mudschaheddin in Afghanistan an die Macht. „Bleib bloß weg, | |
wir brauchen dich lebend“, sagten seine Eltern in Kabul. Feroz Mohammad | |
Fahim wurde zum Gestrandeten. 1991 hat er Afghanistan zum letzten Mal | |
gesehen, seine Brüder leben in Norwegen und in Australien. Seine Tochter | |
ist Russin, weil ihre Mutter Russin ist. Der 53-Jährige aber kämpfte 22 | |
Jahre, um als Flüchtling in Russland anerkannt zu werden. Und noch einmal | |
vier Jahre, um russischer Staatsbürger zu werden. | |
„Die Gesetze sind gut hier, alles wunderbar geschrieben. Aber die Umsetzung | |
…“ Er schaut um sich, er kennt die Lage der Menschen, die hierher, in die | |
Nähe der armenischen Kirche kommen, weiß, wie viele von ihnen „hier und da�… | |
hausten, schwarz arbeiteten, irgendwie durchkämen. | |
Bis heute hat er mehrere Jobs, arbeitet auch als Persisch-Übersetzer bei | |
„Bürgerlicher Beistand“. „Ich kann meinen Verwandten [5][in Afghanistan] | |
gerade nicht helfen, Verwandten, die voller Angst in ihren Häusern | |
ausharren und sich kaum rauswagen. Aber ich kann den Menschen hier helfen.“ | |
Menschen wie dem 25-jährigen Baburschah. Schon bald wird sein Visum | |
ungültig sein. Die Migrationsbehörde wird ein Gespräch mit ihm fordern. | |
„Irgendwann.“ | |
1 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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