# taz.de -- Neuer militanter Islamismus nach 9/11: Hinter Gittern wächst Nachs… | |
> Al-Qaida ist im politischen Abseits, der IS militärisch besiegt. Aber in | |
> den Gefängnissen der Region manifestiert sich neuer militanter | |
> Islamismus. | |
Bild: US-Gefangenenlager Camp Bucca (Irak) 2009 | |
„An den Früchten, nicht an den Wurzeln erkennt man den Baum“, lautet ein | |
arabisches Sprichwort: Es gibt Dinge, die tut man, ohne die Konsequenzen zu | |
kennen. So hatte US-Präsident George Bush Senior vor fast drei Jahrzehnten | |
nicht geahnt, dass zehn Jahre später 19 Attentäter, darunter 15 Saudis, | |
drei US-Verkehrsmaschinen in Waffen verwandeln würden – als Konsequenz der | |
Stationierung von [1][US-Soldaten auf der arabischen Halbinsel.] | |
Die Wurzeln des Kampfs von Al-Qaida liegen in der arabischen Welt sowie in | |
Bushs Entscheidung von 1991, eine halbe Million US-Soldaten zur Operation | |
Wüstensturm am Golf zusammenzuziehen, um das vom Irak besetzte Kuwait zu | |
befreien. Erstmals hatte Saudi-Arabien das Angebot angenommen, US-Truppen | |
im Königreich zu stationieren, auch aus Angst, Saddam Hussein könnte in | |
Richtung der saudischen Ölfelder vorrücken. | |
Das war für Osama bin Laden und die Seinen der entscheidende Tabubruch: | |
Truppen der „Ungläubigen“ im Land der heiligen Stätten Mekka und Medina. | |
Nachdem seine Krieger die Sowjets dank massiver CIA-Hilfe erfolgreich aus | |
Afghanistan vertrieben hatten, sah er jetzt seine nächste Aufgabe. Der Rest | |
ist Geschichte. Am 11. September schlugen die Flugzeuge ein. | |
Für manche Araber war Bin Laden eine radikale Antwort auf ihre gefühlte | |
Machtlosigkeit gegenüber den eigenen Regimen und dem Westen, der in der | |
Region nach Belieben ein- und ausmarschierte. Bin Laden hatte diese | |
Ohnmächtigen durch einen spektakulären Anschlag für einen Moment zu | |
vermeintlich Mächtigen gemacht. | |
Doch an der Situation der Araber änderte sich nichts. Al-Qaida, die auch | |
angekündigt hatte, die „ungläubigen arabischen Regime“ zu stürzen, über… | |
zwar die gesamte arabische Welt mit Terror, der dort ungleich mehr Opfer | |
forderte als die wenigen spektakulären Anschläge im Westen. Aber die | |
korrupten Autokraten blieben an der Macht; und die USA griffen 2003 Irak | |
an, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. | |
## Antithese zu Bin Laden bei den Aufständen von 2011 | |
Es waren die Aufstände von 2011, die Al-Qaida ins politische Abseits | |
katapultierten. Als Antithese zu Bin Laden demonstrierten die Araber | |
friedlich bis zum Sturz ihrer Regime für Brot, Würde und Demokratie. In | |
wenigen Wochen hatten die Tunesier und Ägypter ihre Ohnmacht abgelegt und | |
waren in der gesamten [2][arabischen Welt zum Symbol der Veränderung] | |
geworden. Bin Laden starb 2011 politisch auf dem Kairoer Tahrirplatz, bevor | |
er in Pakistan von US Navy Seals tatsächlich erschossen wurde. | |
Doch im Gefangenenlager Camp Bucca, in der Nähe der südirakischen Stadt | |
Basra, war bereits ein neuer Keimling entstanden. Hier war bis 2009 alles | |
versammelt, was gegen die US-Truppen in Irak Widerstand geleistet hatte | |
oder im Verdacht stand, das getan zu haben: Die Dschihadisten Al-Qaidas in | |
Irak, und viele tausend militärisch ausgebildete Ex-Offiziere von Saddams | |
einstiger Armee, die von den US-Besatzern aufgelöst worden war. Einer der | |
Gefangenen war der spätere IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi. Camp Bucca war der | |
Brutkasten für die gesamte Führungsriege des sogenannten Islamischen | |
Staats. | |
Der IS war ein Aufbäumen der alten arabischen Welt. Mit seiner | |
anachronistischen Weltsicht versprach er, alles werde gut, wenn ein Kalifat | |
entstünde, das die Epoche des Propheten Mohammed kopiere. Gleichzeitig | |
erlebten wir die Neuauflage autokratischer Regime, etwa wie in Ägypten, wo | |
man die Rettung im bereits gescheiterten Konzept der Allmacht der Militärs | |
sah. Und dann waren da noch die Golfmonarchien, die mit reichlich | |
Petrodollars ihre überalterten Strukturen retteten. | |
Am Ende war der IS militärisch besiegt und dessen Kalifat Geschichte. Am | |
23. März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Territorium befreit. Am 27. | |
Oktober verkündete US-Präsident Trump dann, IS-Chef al-Baghdadi sei getötet | |
worden. „Er ist wie ein Hund gestorben. Er ist wie ein Feigling gestorben“, | |
verkündige Trump triumphierend. | |
Aber bedeutete das auch das Ende der militanten Islamisten? Wir erinnern | |
uns an den Tod des Al-Qaida-Chefs in Irak, Abu Musab al-Zarkawi, oder | |
später Bin Laden selbst: Manchmal lebt die Organisation mit neuen Chefs | |
weiter. Manchmal, wie beim Tod Bin Ladens, verlagert sich der militante | |
Islamismus auf andere, oft noch skrupellosere Organisationen. | |
Solange die Bedingungen bestehen, die es militanten Organisationen leicht | |
machen, Anhänger zu rekrutieren, werden sie nicht aussterben. Im Kern | |
speisen sie sich aus den täglichen Ungerechtigkeiten in der Region. Der IS | |
ist in den US-Gefangenenlagern im besetzten Irak und im syrischen | |
Bürgerkrieg entstanden. Die Saat für die nächste militante Organisation ist | |
schon in den IS-Gefangenenlagern in Nordostsyrien gesät worden, deren | |
Verwaltung der Westen komplett den Kurden überlässt. | |
Fast fünf Jahre lang hatten allein die USA bei der militärischen Bekämpfung | |
des IS täglich 12,5 Millionen Dollar ausgegeben. Die Kosten des gesamten | |
von George W. Bush 2002 ausgerufenen Antiterrorkampfes werden auf 2,4 | |
Billionen Dollar geschätzt. Umso verwunderlicher, dass nach dem Ende des | |
IS-Kalifats kaum mehr in die dringenden Probleme der Nach-IS-Zeit | |
investiert wurde, um sicherzustellen, dass keine neue militante Bewegung | |
entsteht. | |
Dass die islamistische Militanz in der arabischen Welt nicht auf absehbare | |
Zeit aussterben wird, hat aber nicht nur mit den Restposten des IS zu tun. | |
In den zahlreichen Kerkern der Region, in denen die arabischen Autokraten | |
jeglichen Dissens wegsperren, wächst Neues nach. Wie lautete das | |
Sprichwort? „An den Früchten, nicht an den Wurzeln erkennt man den Baum“. | |
11 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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