# taz.de -- Über Existenz und Menschlichkeit: Eine Prise bewusste Sterblichkeit | |
> In ihrer letzten Kolumne appelliert unser Autorin daran, sich bewusster | |
> mit dem Tod auseinanderzusetzen. Auch für eine bessere Gesellschaft. | |
Bild: Das nächste Mal, wenn Sie Cappuccino trinken, denken Sie dran: Sie werde… | |
Heute lesen Sie hier [1][meine letzte Kolumne]. Nicht traurig sein. Ich | |
gehe, doch der Tod bleibt. Denn wissen Sie was: Sie sterben. Der Kellner im | |
Café, der Ihnen gerade Ihren Cappuccino gebracht hat, auch. Ihre beste | |
Freundin, die Ihnen gegenübersitzt und von ihrem letzten Date erzählt. Die | |
Busfahrerin auf Ihrem Nachhauseweg. Alle Menschen, die sie im Rückspiegel | |
ein- und aussteigen sieht. Die Flaschensammlerin in Ihrer Straße. Die | |
Nachbarin im Erdgeschoss, die den ganzen Tag nach draußen schaut, mit | |
Häkelkissen auf dem Fensterbrett. | |
Und Ihre Katze auch. Das Beste, worauf Sie hoffen können, ist, dass es eine | |
Handvoll Leute gibt, die noch eine Zeitlang freundlich an Sie denken, ein | |
Bild oder zwei von Ihnen in ihr Wohnzimmer stellen. Ihre Kinder vielleicht, | |
bis auch die sterben. [2][Der Tod bleibt] Ihnen erhalten als größtmögliche | |
Kränkung, als ultimativer Super-GAU für Ihr Ego, das Ihnen jeden Tag | |
einflüstern will, Ihr Leben hätte irgendeine Bedeutung. Klingt hart? Finde | |
ich gar nicht. | |
Meine Rechnung geht so: Eine Prise bewusste Sterblichkeit minus eine | |
Portion Ego ist gleich eine bessere Gesellschaft. Wenn wir aufhören würden, | |
dermaßen angestrengt in eine andere Richtung zu schauen, wenn wir anfangen | |
würden zu begreifen, dass der Tod eines der wenigen Dinge ist, die wir alle | |
gemeinsam haben, könnte das zu echter existenzieller Solidarität führen. | |
Vielleicht wäre es dann keine Frage mehr, ob wir Menschen helfen, die in | |
Lebensgefahr sind. Vielleicht würden wir verstehen, dass wir keine | |
Kontrolle haben, dass unsere Welt brüchig und das Leben fragil ist, dass | |
man es nun Glück oder Zufall nennen kann, wenn man nicht zu jenen gehört, | |
die sich in [3][Kabul an ein Flugzeug klammern] oder in überfüllten | |
Gummibooten [4][übers Mittelmeer kommen]. Weil Menschlichkeit die einzige | |
Bedeutung ist, die wir unserer sinnlosen Existenz abringen können. | |
Wenn wir den großen, finalen Abschied im Blick hätten, könnten wir | |
vielleicht auch gelassener auf all die kleinen Abschiede schauen. Wir | |
könnten uns darin üben, Veränderung zuzulassen. Uns von einer Sprache | |
verabschieden, die andere Menschen ausschließt. Von Urlaubsreisen, während | |
einer Pandemie. Von Wachstumsgläubigkeit im [5][Angesicht des | |
Klimawandels]. Von heteronormativen Familienmodellen. | |
Zugegeben, das ist groß gedacht. Ich will auch nicht sagen, dass der Tod | |
alles besser macht. Im Gegenteil. Mir macht er genauso viel Angst wie | |
Ihnen. Oder um es mit den Worten des von mir sehr verehrten Schorsch | |
Kamerun zu sagen: Ich find Tod trotzdem scheiße. Doch ich bin mir sicher: | |
Der Konfrontation mit der Vergänglichkeit wohnt eine politische Kraft inne, | |
die wir nutzen sollten. Vielleicht denken Sie mal bei Ihrem nächsten | |
Cappuccino an mich. Dann recken wir gemeinsam die Faust und schmettern | |
unserer Todesfeigheit entgegen: Schluss jetzt! | |
23 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Caroline Kraft | |
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