| # taz.de -- Über ein wenig umgängliches Gefühl: Angst ist so lästig | |
| > Wie es ist, sich hormonell vollgepumpt vor'm Klima und dem Wahlkampf zu | |
| > fürchten? Was, wenn sich ein Vielficker in der U-Bahn prügelt? Ein | |
| > Erfahrungsbericht. | |
| Bild: Angst und Bange: Albtraum Klimawandel | |
| Ich gebe es wirklich nicht gerne zu, aber: In dieser Woche herrscht in | |
| meinem Hirn ziemliche Leere. Kein schlauer Gedanke, nur Verzweiflung. Das | |
| Klima: im Arsch, nicht zu retten. [1][Zwei Grad Erwärmung sind eigentlich | |
| schon das Mildeste, auf das wir hoffen dürfen.] Dann sind es zur | |
| Abwechslung mal wieder Islamofaschisten, die Frauen, Männer und Kinder in | |
| Angst, Elend und Tod stürzen, beziehungsweis Islamofaschist:innen, Sprache | |
| ändert schließlich unser Bewusstsein, wie uns auch dieser trübselige | |
| Wahlkampf nicht vergessen lässt. | |
| An den mag ich sonst gar nicht denken. Wen soll ich bitte wählen? Keinem | |
| der drei Kandidaten (sorry, Baerbock, fühlen Sie sich bitte mitgemeint, | |
| solange Sie nichts für die [2][Frauen in Afghanistan] tun, brauchen Sie | |
| deswegen nicht rumheulen) traue ich bei der Abschwächung des Klimawandels | |
| oder im außenpolitischen Kampf für Menschenrechte viel zu. Und | |
| innenpolitisch? Ja mei, seien wir ehrlich, wie viel wird sich da nach der | |
| Wahl schon ändern? Bisschen mehr oder weniger soziale Gerechtigkeit, | |
| bisschen mehr oder weniger Verfolgung und Aufarbeitung rechtsextremer | |
| Straftaten, bisschen mehr oder weniger Tropfen ins überhitzte globale | |
| Klima. | |
| Bin ich abgestumpft? Nee, ich habe eine Scheißangst. Nicht nur vor dem, was | |
| klimatisch ansteht, auch vor der Angst an sich. Denn ich sehe ja an meinem | |
| – zugegeben hormonell frisch aufgepumpten – Mutterhirn, dass Angst nicht | |
| gerade ein umgängliches Gefühl ist. Ich kenne es noch aus meiner Schulzeit, | |
| als ich die Angst – damals waren es Atomtod, Rinderwahn, Balkankrieg und | |
| ganz normale Autofahrten – zu meiner zentralen Lebensaufgabe machte. Also | |
| einer hübschen Zwangsstörung, die ich durch die richtige Anzahl von Licht | |
| an- und ausknipsen, Türen auf- und zumachen und einer sehr, sehr weirden, | |
| pustenden Ausatmetechnik versuchte in Schach zu halten vermochte. | |
| Wer weiß, vielleicht haben Sie es meinen schlaflosen Nächten zu verdanken, | |
| dass kein zweites Tschernobyl passiert ist! Damals fühlte es sich | |
| jedenfalls so an, als läge das Wohl der Welt in meinen Händen. Das meiner | |
| Familie sowieso; warum die trotzdem Auto fuhren – trotz meiner | |
| eindringlichen Warnungen –, war mir unverständlich. | |
| ## Man muss sich rauswagen | |
| Neben dieser schweren Verantwortung war irgendwann nach der Grundschule – | |
| die nahm ich noch locker nebenbei mit – nicht mehr so viel Kraft und Luft | |
| in meinem Kopf für Binär-, Oktal- oder Hexadezimalsystem oder lateinische | |
| Verben. Schade, sonst wäre ich vielleicht doch Psychotherapeutin statt | |
| Journalistin geworden. Dass das schlau gewesen wäre, sehe ich jetzt, wo ich | |
| Mutter bin. | |
| Während ich überall Bilder von den Wänden stürzen, den Kopf meiner Tochter | |
| zwischen den Bettchenstäben eingeklemmt und Viren springen sehe, sind die | |
| Therapeuten, die ich kenne, mit ihren Kindern wahnsinnig tiefenentspannt. | |
| Die nehmen ihre Babys auf dem Fahrrad mit, machen keine Ideologie aus | |
| Muttermilch und sind überhaupt so cool, wie ich mich selbst als Mutter | |
| immer gesehen habe – bevor ich es wurde. | |
| Es kann also nicht stimmen, was ich die ganze 9. Klasse zusammen mit Janis | |
| Joplin sang: Freedom is just another word for nothing left to lose. Mal | |
| abgesehen von der Frage, ob das wirklich erstrebenswert sein kann. | |
| Freiheit, auch die von lähmender Angst, muss möglich sein, auch wenn man | |
| alles zu verlieren hat. Sonst ist es keine Freiheit, sondern ordinärer | |
| Selbstschutz. Man muss sich rauswagen, reinstürzen in all die Beziehungen | |
| die man bekommt, gerade weil sie zerbrechlich sind. Sonst hat man nicht | |
| gelebt. | |
| Daran musste ich kurz denken, als ich neulich seit Längerem mal wieder | |
| Zeuge einer Schlägerei in der S-Bahn wurde. Das heißt, erst war es nur eine | |
| Schreierei zwischen einem Pärchen und einer Gruppe junger Mädchen. Beim | |
| Aussteigen aber schlug die Pärchenfrau einem der Mädchen auf dem Kopf. Im | |
| darauf folgenden Gerangel trat der Mann – der die Mädchen kurz vorher noch | |
| lautstark daran erinnert hatte, dass man sich „hier in Deutschland benimmt“ | |
| – nochmal zu. | |
| Bis dahin hatte ich nicht verstanden, worum es überhaupt ging. Das wurde | |
| mir erst klar, als er sich nochmal umdrehte und brüllte: „Und ich habe | |
| viele Frauen gefickt!“. Also wieder mal einer, der sich in dieser – zwar | |
| quälend zögerlich und nur auf bestimmte Regionen beschränkt – vielleicht | |
| doch langsam etwas gerechter werdenden Welt aus Angst um seine Männlichkeit | |
| in die Hosen macht. Und das hinter Gewalt versteckt. Bevor ich meine | |
| Tochter und mich aus der Trittlinie gebracht hatte und die Polizei rufen | |
| konnte, war er verschwunden. | |
| Vielleicht müssten ich und viele andere weniger Angst haben, wenn Typen wie | |
| der Vielficker (und all die Trumps und [3][Taliban]) über ihre | |
| Entmannungsängste redeten. Wenn Schisshaben für niemanden mehr eine Schande | |
| wäre. Meine Tochter kann das schon ganz gut. Angst vor peinlichen | |
| Situationen sind ihr fremd. Sie macht sich lautstark in die Hosen und lacht | |
| noch lauter dabei. | |
| 21 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ariane Lemme | |
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