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# taz.de -- Armut und Bildungschancen: Wenn die Zukunft verbaut wird
> Armut und schlechte Bildungschancen hängen eng zusammen. Ein Bericht über
> die bildungsferne Kindheit und den heutigen Job im Jugendgefängnis.
Bild: Wer hier sitzt, hat schon mal eine wichtige Hürde geschafft: Rupprecht-G…
Als ich in der Grundschule war, zog bei uns gegenüber eine neue Familie
ein. Das Mädchen, nennen wir sie Bianca, war ungefähr so alt wie ich –
klare Sache, dass wir uns sofort anfreundeten. Biancas Mutter hatte sie mit
siebzehn bekommen, arbeitete bei Aldi an der Kasse und war sowohl mit
Argusaugen als auch mit gelegentlichen Ohrfeigen hinterher, dass Bianca
auch bloß in der Schule mitkam.
Auf den ersten Blick hatten wir [1][exakt die gleichen Chancen,] eine
hoffnungsvolle Karriere (was immer das sein mag) hinzulegen oder krachend
zu scheitern. Ich war weder schlauer als Bianca noch verfügte ich über eine
stabilere Persönlichkeit. Mein Elternhaus hatte sich nicht in einer
intellektuellen Poleposition befunden, von der aus direkt die akademische
Laufbahn beginnt. Meine Eltern stammten aus dem gleichen Arbeitermilieu.
Eins hinter die Ohren war auch bei uns zu Hause oft erzieherisches Mittel.
Der einzige Unterschied zwischen uns war, dass Bianca das Lebensgefühl „wir
sind arm“ bereits im Grundschulalter inhaliert hatte. Und, dass sie
verhaltensauffällig war. Sie log, klaute, prügelte sich – bei mir hatte es
sich so ergeben, dass ich, weil ich schüchtern war, mich mit Büchern vor
der Welt verkroch und so nicht weiter dumm auffiel.
Verhaltensoriginelle Kinder – ob hochbegabt, traumatisiert oder solche, die
mit größtmöglichem Tamtam ein bisschen Aufmerksamkeit möchten, werden heute
als Störer des sozialen Friedens betrachtet. Ein*e Pädagog*in ist
aufgrund einer Klassengröße von bis zu 23 Kindern zur totalen
Aufmerksamkeitsökonomie gezwungen – es muss also Ruhe herrschen, um
Unterrichtsstoff vermitteln zu können. Dass da sehr viel zu kurz kommt,
liegt auf der Hand.
## Systemische Vernachlässigung
Es gibt in Deutschland bisher keinen verpflichtenden Kitabesuch, doch
zumindest seit 2014 eine „vorschulische Sprachstandsfeststellung“ zwei
Jahre vor Grundschuleintritt. Wenn dabei Förderbedarf festgestellt wird,
werden die Eltern vom Schulamt dazu verdonnert, dem auch nachzukommen. Die
kinderärztlichen U-Untersuchungen (Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung
von Krankheiten oder Entwicklungsstörungen, Anm. d. Red.) von Kleinkindern
sind bisher allerdings nur in wenigen Bundesländern wirklich verpflichtend.
Das bedeutet, dass Kinder, [2][die vernachlässigt werden,] sich mit Chips
und Cola vollstopfen und eine Zahnbürste oder Vitamine vielleicht höchstens
mal von Weitem gesehen haben, denen niemand vorliest und stattdessen rund
um die Uhr die Glotze läuft, die vielleicht Gewalt erfahren oder
Desinteresse – oft übersehen werden.
Selbst wenn es jemand bemerkt, gibt es dafür so gut wie keinen
zuverlässigen Hebel, um in fatale Verläufe früh hineinzugrätschen und in
eine andere Bahn zu lenken, was ansonsten mit hoher Wahrscheinlichkeit im
Graben landet.
Das Bildungssystem kann also erst mit dem schulpflichtigen Alter auf diese
Kinder Einfluss nehmen. Mit sechs ist die frühkindliche Prägung allerdings
weitestgehend abgeschlossen, und leider kommt es viel zu oft vor, dass
Pädagog*innen trotz aller Bemühungen nur noch der Job des
Insolvenzverwalters zukommt. Das meine ich keineswegs zynisch.
Es sind nicht nur Bücher und pränatale Englischkurse, die ein Kind für die
eigene Zukunft ausstatten. Es sind auch die Ernährung, Hygiene und ein
Mindestmaß an Ansprache – von der Vermittlung von Werten mal ganz zu
schweigen. Liebe und Bildung sind der Schlüssel zu einem einigermaßen
unfallfreien Leben.
## Biografien im Jugendknast ähneln sich
Eigentlich braucht es also nicht viel. Manche Eltern sind natürlich
verdammte, egoistische Idioten, aber die meisten haben ihr Bestes gegeben
und es einfach nicht besser gekonnt. Gleichzeitig nimmt die spätere
berufliche Laufbahn schon im zarten Alter von neun oder zehn Jahren Fahrt
auf. Selten genug gibt es noch eine gemeinsame Förderstufe als zweijährige
Verlängerung der Grundschule.
Und ja, es existieren immer noch genügend Kreise, die bisher erfolgreich
abzuwenden wussten, dass Mohammed und Mandy gemeinsam mit Sophie und
Maximilian später um die raren Studienplätze konkurrieren. In Hamburg gab
es sogar einen Volksentscheid, der genau diese gemeinsame Förderstufe
bislang vehement verhindert hat. In diesem Alter entscheidet sich bereits
für ein Kind, wohin die Reise mal gehen wird. Das ist fatal.
Inzwischen arbeite ich in einem Jugendknast, und die Jungs, die ich
betreue, haben die unterschiedlichsten Straftaten begangen: meistens
Drogendealereien und Körperverletzung der verschiedensten Schweregrade. Ich
kenne ihre Biografien, ohne jemals ihre Akte gelesen zu haben: Oft nicht
existente Väter, überforderte Mütter, Hartz IV. Womit ich keineswegs meine,
dass man als ALG-II-Empfänger automatisch kriminell werden muss – aber es
ist der stabilste Sargnagel bei der Beerdigung einer wie auch immer
gearteten bürgerlichen Existenz.
Wenn Menschen mit ständigem Mangel aufwachsen, dass dieses oder jenes, was
für andere Kinder selbstverständlich zu sein scheint, nicht drin ist – von
den geilen Turnschuhen über den Besuch einer Pizzeria bis zum Erlernen
eines Instruments – und dann noch Scham über die eigene Armut und Angst vor
Schikanen dazukommen, entsteht schnell der Eindruck:
Der bundesdeutschen, legalen Welt ist nur bedingt zu trauen. Und sie ist
kein guter Ort. Man kommt überhaupt nur einigermaßen über die Runden, wenn
man hier ein bisschen trickst, da mal was verschweigt – und bescheißen
nicht eigentlich alle?
## Großer Gangster statt abgezockter Banker
Wenn man nicht an der Steuer vorbei irgendwo putzen geht oder beim Onkel im
Kiosk aushilft, dann ist die dringend nötige Winterjacke für die Kids
genauso wenig drin wie einmal mit der Familie ganz sorglos auf dem Rummel
Achterbahn zu fahren.
Das macht krank und auf Dauer schrecklich müde, und wenn meine Jungs etwas
von Herzen wollten, was sie sich sowieso nicht hätten leisten können, dann
haben sie es eben geklaut. In der Schule mangelte es an Konzentration, und
zu Hause hat es oft nicht interessiert, ob sie vielleicht die ganze Nacht
am Handy daddeln statt zu schlafen.
Und weil man sich das Versagergefühl, das einen sowieso schon so lange
begleitet, nicht auch noch in der Schule abholen will, weil man in der
Klasse gepennt hat, gar nicht versteht, was die hier eigentlich von einem
wollen und sowieso ganz andere Sorgen hat, dann geht man irgendwann einfach
gar nicht mehr hin. Wenn man ohne Schulabschluss schon kein großer Forscher
oder kein abgezockter Manager wird, dann wenigstens ein großer Gangster.
Einer, vor dem sich alle wegducken, statt ihn zu schikanieren. Das eint
eigentlich alle meine Jungs, so unterschiedlich ihre Straftaten gewesen
sein mögen. Sie haben eine soziale Hornhaut gebildet, eine coole
Benutzeroberfläche, um die eigenen Verwundungen nicht ständig zur Schau
tragen zu müssen.
## Aushilfsjob oder dealen?
Ich kenne diese Geschichten auch aus meiner eigenen Familie: Mein Vater ist
bei einer Pflegemutter aufgewachsen, hat seine Lehre hingeschmissen und saß
wegen Einbruchs im Knast. Wir besaßen trotzdem immer neue Geräte, die
irgendwo „vom Laster gefallen“ waren, wie mein Vater so schön sagte.
Tricksen, bescheißen, nicht ganz legal über die Runden kommen – all das
kenne ich von frühester Kindheit an.
Manchmal denke ich: Wenn ich ohne Schulabschluss und Aussicht auf eine
Lehrstelle die Wahl hätte, irgendwo als Aushilfe zu malochen oder als
Kleindealer an der Ecke zu stehen und damit endlich mal die Kohle zu
verdienen, mit der ich tatsächlich einen minimalen Lebensstandard
bestreiten könnte, ich bin nicht sicher, wie ich mich entscheiden würde.
Bianca ist jetzt übrigens [3][alleinerziehende Mutter] und lebt von Hartz
IV. Ich kann bis heute nicht sagen, warum es uns auf so unterschiedliche
Wege verschlagen hat.
Vielleicht war es meine große Leidenschaft für Bücher und meine verbissene
Renitenz, die mich gerettet hat. Wahrscheinlich habe ich einfach nur Glück
gehabt. Es ist immer noch so, dass ich mich manchmal dabei erwische, mir
beim Arbeiten im Knast wie eine Hochstaplerin vorzukommen. Eigentlich fühlt
sich die andere Seite der Gitterstäbe mitsamt ihrer Insassen viel
vertrauter an.
18 Aug 2021
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## AUTOREN
Maria Ozols
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