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# taz.de -- Managerin über soziale Schichten: „Selbstbewusstsein ist relativ…
> In ihrem Buch „Wir von unten“ erzählt Natalya Nepomnyashcha die
> Geschichte ihres sozialen Aufstiegs und fordert echte Chancengleichheit
> für alle.
Bild: Natalya Nepomnyashcha
taz: Frau Nepomnyashcha, Sie sind in einem armen Haushalt aufgewachsen und
gehören jetzt zu den Top-Verdienenden. Fühlen Sie sich noch unten oder
schon oben?
Natalya Nepomnyashcha: Beides. Wenn ich mich hier in meiner
Fünfzimmerwohnung mit Garten umschaue, fühle ich mich eher oben. Aber wenn
ich an meine Kindheit denke, mit meinen Eltern telefoniere oder sie sehe,
fühle ich mich unten. Meine Eltern leben immer noch in dem sozialen
Brennpunkt, aus dem ich komme.
Haben Sie den Weg nach oben trotz oder mit Hilfe des deutschen
Bildungssystems geschafft?
Ein bisschen mehr trotz statt mit Hilfe. Es ist super, dass die Schule in
Deutschland kostenlos ist. Ich habe eine sehr gute Ausbildung genossen auf
der Realschule, auf der ich war. Aber das [1][mehrgliedrige Schulsystem]
hat mir den Aufstieg enorm erschwert. Wäre ich direkt auf einer
Gemeinschaftsschule oder einem Gymnasium gewesen, hätte ich
hundertprozentig Abitur gemacht und hätte dann selbstverständlich
studiert.
Sie haben stattdessen nach Ihrem Realschulabschluss erst eine Ausbildung
zur Fremdsprachenkorrespondentin und dann zur Übersetzerin gemacht und
konnten an diese ein Studium in Großbritannien anschließen …
Während meiner ersten Ausbildung bekam ich nur [2][200 Euro Bafög]. Hätte
ich an einer Hochschule studiert, hätte ich den Höchstsatz bekommen. Es
grenzt fast an ein Wunder, dass ich einen Masterabschluss habe.
Jetzt fordern Sie die Abschaffung der mehrgliedrigen Schulausbildung.
Absolut. Es gibt auch Studien, die diese Forderung unterstützen. Die
[3][Iglu-Studie] hat gezeigt, dass – bei gleichen Fähigkeiten! – Kinder aus
nichtakademischen Familien eine zweieinhalbfach geringere Chance auf eine
Gymnasialempfehlung haben. Dieses Schulsystem manifestiert soziale
Schichten. Es ist ein Skandal, dass sehr viele Kinder und Jugendliche aus
unteren sozialen Schichten nie erkennen werden, wo ihre Stärken sind, weil
sie nicht entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert, sondern abgestempelt
werden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihren eigenen Werdegang. Dafür haben Sie auch
mit Ihren alten Lehrerinnen gesprochen, Erinnerungen und Einschätzungen
abgeglichen. Was hat Sie da am meisten überrascht?
Das Gespräch mit meiner Hauptschullehrerin Frau Mengele hat mich sehr
berührt. Auch sie ist gegen das mehrgliedrige Schulsystem, weil es Kindern
das Gefühl gibt, Verlierer*innen zu sein. Und sie sagte mir, dass meine
Eltern mich einfach für das Gymnasium hätten anmelden können, aber dass sie
selbst das nicht gewusst habe damals. Das zeigt die Willkür des Systems.
Jahrelang habe ich mich minderwertig gefühlt und dachte, dass ich nicht
schlau genug bin, dass ich einfach nicht so viele Fähigkeiten habe wie die
Kinder und Jugendlichen auf dem Gymnasium.
Eine Ihrer Thesen lautet, dass Deutschland einem Großteil der Menschen
systematisch Karrieremöglichkeiten vorenthält. Wie genau sieht das aus –
und wie ließe sich das ändern?
Es beginnt mit der Frage, wer überhaupt einen Hochschulabschluss macht.
Ohne Hochschulabschluss kommt man für viele gut bezahlte Jobs gar nicht in
Frage, obwohl man die Fähigkeiten dafür hat. Dann zählen oft gar nicht die
Noten, sondern wo du deinen Uni-Abschluss gemacht hast, welche Menschen du
da kennengelernt hast, welche Praktika du gemacht hast. [4][Viele Praktika
sind aber schlecht oder unbezahlt – die muss man sich leisten können.] Und
dann kommt noch das Thema Habitus dazu. Arbeitgebende denken: Der passt
hier irgendwie nicht rein, ist mir unsympathisch. Man sollte Personalfragen
nicht nach Sympathie treffen.
Wie soll das gehen?
Ich hatte selbst schon einen Fall, wo mir jemand im Gespräch unsympathisch
war und ich dann entschieden habe, dass es weitere Gespräche mit dem Team
geben soll. Und wenn das Team gesagt hat, dass sie die Person spannend
finden und glauben, dass sie einen guten Job machen wird, dann unterbreite
ich ein Angebot. Ich stelle auch allen Bewerbenden immer dieselben Fragen,
so kommt man nicht ins Plaudern, Plaudern stärkt den Sympathieimpuls. Diese
Reflexion von Führungskräften, wonach sie Entscheidungen treffen, ist sehr
wichtig.
Worauf sollten Arbeitgeber noch achten?
Man darf nicht versuchen, jemanden für einen Job zu finden, der wie die
Person ist, die den Job vorher gemacht hat. Hintergrund ist die
Glasschuh-Theorie: Für Jobs werden immer Leute ausgesucht, die in dieselben
Schuhe passen, die schon die Vorgängerin getragen hat. Aber vielleicht sind
das für mich einfach die falschen Schuhe, obwohl ich den Tanz, der getanzt
wird, eigentlich super kann. Ich werde das nur nie zeigen können mit den
falschen Schuhen.
Dieses Nicht-Passen spielt im Berufsalltag dann weiter eine Rolle …
Ja, zum Ankommen braucht es zum Beispiel Hilfestellungen für soziale
Aufsteiger*innen. Das geht über ein Mentoring- oder Buddy-Programm oder
eine andere Möglichkeit, wirklich ganz banale Fragen stellen zu können. Als
ich bei EY angefangen habe, hatte ich so jemanden. Ich konnte die Kollegin
fragen, ob es okay ist, hier roten Nagellack zu tragen. Eine absurde Frage,
aber ich hatte solchen Respekt vor dem Unternehmen und konnte das nicht
einschätzen. Als Aufsteigerin bewegt man sich eben nicht wie ein Fisch im
Wasser.
Und man fühlt sich dadurch auch unwohl. Das wird in der Wissenschaft als
Confidence Gap bezeichnet.
Genau. Selbstbewusstsein ist relativ, ich habe es nicht immer oder nie,
sondern abhängig vom Kontext. Wenn man also in einem Gespräch ist und das
Gefühl bekommt, da sind alle anders als man selbst und sie sind einem nicht
einmal wohlwollend eingestellt, fühlt man sich unwohl und tritt weniger
selbstbewusst auf. Für mein Buch traf ich auch andere soziale
Aufsteiger*innen. Einer von ihnen ist Sebastian. Er hat neben einem
Vollzeitjob in zwei Jahren seinen Bachelor durchgezogen, und dann kam als
Feedback auf eine Jobabsage, er sei nicht selbstbewusst genug aufgetreten.
Das ist hart. Vor allem erlebe ich ihn in seiner gewohnten Umgebung als
sehr selbstbewusst.
Eine andere Lücke, die Sie im Buch erwähnen, ist der Class Pay Gap. Was
beschreibt dieser und wie hoch ist er in Deutschland?
Hier in Deutschland gibt es leider noch keine Zahlen dazu, ich beziehe mich
dabei auf [5][Forschung aus Großbritannien]. Er beschreibt, wie beim
Gender Pay Gap, wie Menschen in vergleichbaren Positionen unterschiedlich
viel verdienen – in diesem Fall diejenigen, die aus einer anderen sozialen
Schicht kommen. Das hat diverse Gründe. Viele verhandeln schlecht und sind
dankbar, überhaupt einen Job zu haben. Auch ich wäre nie auf die Idee
gekommen, bei EY mein Gehalt zu verhandeln.
Sollte die [6][soziale Herkunft als Diskriminierungsmerkmal] ins Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen werden?
Auf jeden Fall, allein wegen der normativen Kraft, die das hätte.
Arbeitgebende müssen sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Und sie
dürfen kulturelle Herkunft nicht mit der sozialen Herkunft gleichsetzen.
Menschen mit Migrationshintergrund können auch aus Akademikerhaushalten
kommen – und tun es auch. Ich kann es deshalb langsam nicht mehr hören,
wenn Unternehmen mir sagen, sie würden was für den sozialen Aufstieg tun,
wenn sie interkulturelle Trainings machen. Diese Trainings sind super, sie
behandeln aber ein anderes Thema.
Ihr Buch appelliert an Arbeitgeber*innen, aber auch an den Gesetzgeber.
Sie lassen Anspielungen in Richtung bestimmter Parteien aber aus. Warum?
Das berührendste Kapitel im Buch ist für mich das Nachwort von meiner
Ko-Autorin Naomi Ryland. Sie reflektiert darin ihre eigene soziale
Herkunft, sie kommt aus privilegierten Verhältnissen – und schreibt: Wir
müssen Koalitionen bilden. Davon bin auch ich absolut überzeugt. Wir müssen
für diese Revolution Menschen aus privilegierten Schichten mitnehmen und
die meisten wollen ja auch Chancengleichheit für alle. Und vielleicht setzt
sich eine Politikerin, die jetzt noch das mehrgliedrige Schulsystem
verteidigt, nach der Lektüre für Gemeinschaftsschulen ein.
5 Jun 2024
## LINKS
[1] /Debatte-Schulsystem/!5149334
[2] /Bafoeg-Reform-der-Ampelregierung/!5994525
[3] https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=4700
[4] https://katapult-magazin.de/de/artikel/nicken-bis-zum-schleudertrauma
[5] https://www.gov.uk/government/news/new-research-uncovers-class-pay-gap-in-b…
[6] /Ex-Hartz-IV-Empfaengerin-ueber-Karriere/!5923281
## AUTOREN
Katrin Gottschalk
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Aufstieg
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Kolumne Schnelle Brille
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