# taz.de -- Debatte Schulsystem: Der deutsche Dinosaurier | |
> Die Hauptschule ist tot, die Sekundarschule ist da. Wird jetzt noch das | |
> Gymnasium reformiert, dann könnte es endlich Elite-Schulen für alle | |
> geben. | |
Bild: An den Hauptschulen machen "Risikoschüler" bis zu drei Viertel der Schü… | |
Das dreigliedrige deutsche Schulsystem ist schon seit Jahren nur noch ein | |
Zombie. Nicht nur weil die klassische Dreifaltigkeit von Haupt-, | |
Realschulen und Gymnasien niemals in Reinform existierte. Derzeit planen | |
auch 10 von 16 Bundesländern zweigliedrige Schulsysteme oder haben sie | |
eingeführt. Jüngstes Beispiel ist Berlin, wo das Abgeordnetenhaus diese | |
Woche beschloss, dass 90 Prozent der Schüler vom kommenden Schuljahr an nur | |
noch zwei weiterführende Schularten besuchen: die Sekundarschule und das | |
Gymnasium. Daneben werkeln noch einige Gemeinschaftsschulen, die aber haben | |
eher Modellcharakter. | |
Und das ist das Problem. Mit der Flucht in die Zweigliedrigkeit entziehen | |
sich die Länder der Debatte darüber, ob Schüler nicht besser gefördert | |
werden könnten, wenn sie möglichst lange zusammen lernen. Stattdessen | |
werden sie weiter im Kindesalter auf Schulformen verteilt, die ihren | |
Begabungen vermeintlich am besten entsprechen. Auch wenn es jetzt nur noch | |
zwei Schultypen sind und nicht mehr drei wie früher. | |
Der Auslesegedanke, der Eltern, kaum dass die Kinder sprechen können, zur | |
Wahl der richtigen Grundschule antreibt, bleibt mit der Existenz des | |
Gymnasiums fest im Schulsystem verankert. Die Gymnasien dürfen weiter | |
leistungsschwächere Schüler nach einer Probezeit relegieren und binden | |
damit die Jahrgangsbesten. In diesem ungleichen Wettlauf um gute Schüler | |
werden die Sekundarschulen zur zweiten Wahl. Das birgt die Gefahr, dass die | |
Trennung in begabte und weniger begabte Schüler vor allem die zuvor | |
existente Trennung in sozial höhere und niedrigere Schichten reproduziert. | |
Die Schule für alle - in Deutschland oft abschätzig Einheitsschule genannt | |
- ist in vielen Ländern Europas etabliert und scheint zu funktionieren. | |
Obwohl die Pisa-Studien keine Schlüsse auf den Einfluss der Schulstruktur | |
auf den Lernerfolg zulassen, ist doch bemerkenswert, dass die neun | |
erstplatzierten Länder von 2000 alle ein "Einheitsschulsystem" haben. | |
Trotzdem hält Deutschland an der Trennung von höheren und niederen | |
Schulformen fest. Als Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts ein | |
dreistufiges Schulsystem mit Elementarschule, Gymnasium und Universität für | |
Preußen entwarf, konzipierte er das humanistische Gymnasium jedoch als | |
einzige weiterführende Schulform, die allen Kindern "klassische" Bildung | |
vermitteln sollte. Eine frühe Aufteilung hatte der Reformer nicht im Sinn, | |
"da […] die Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt", | |
wie er im "Königsberger Schulplan" schreibt. Tatsächlich wurde das | |
Gymnasium erst auf Betreiben der Konservativen in Abgrenzung von der | |
Volksschule für eine gebildete Oberschicht reserviert. | |
Die Verteidiger des humanistischen Gymnasiums von heute verkehren den | |
Humboldtschen Bildungsbegriff also ins Gegenteil. Aus Furcht, die Gymnasien | |
könnten ausbluten, hat die Hamburger Elterninitiative "Wir wollen lernen" | |
unlängst rund 184.500 Unterschriften gegen eine verlängerte Grundschulzeit | |
und für eine Aufteilung nach der vierten Klasse gesammelt. | |
Der Glaube an ein gegliedertes Schulsystem basierte in Deutschland lange | |
Zeit auf der Annahme, dass Schüler, die in verschiedene Leistungsniveaus | |
aufgeteilt werden, besser lernen. Erst die Pisa-Studie im Jahre 2000 | |
entzauberte den deutschen Ausdifferenzierungswahn. Die in Gymnasien | |
konzentrierte Elite war im internationalen Vergleich nur mäßig, geradezu | |
katastrophal schnitten Schüler in den unteren Leistungsgruppen ab: Jeder | |
Fünfte kann in der neunten Klasse kaum oder nur auf Grundschulniveau lesen. | |
An den Hauptschulen machen diese "Risikoschüler" bis zu drei Viertel der | |
Schülerschaft aus. | |
Es ist vor allem dieser nicht zu leugnende Verfall der Hauptschulen zu | |
Restschulen, der die Politiker zum Handeln bewegt. Die Überlegung die | |
Hauptschulen mit anderen Schulformen zusammenzulegen, lag daher nahe: Indem | |
Schulen entstehen, die nicht nur 10, sondern 50 Prozent aller Schüler | |
besuchen, wird die soziale Mischung im Klassenzimmer bunter, die Atmosphäre | |
lernfreundlicher und werden die Abschlüsse besser. | |
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Ob sich diese Erwartungen erfüllen, hängt davon ab, wie die Länder das | |
zweigliedrige System gestalten. In Sachsen, das von Anfang an auf die | |
Mittelschule neben dem Gymnasium setzte, gibt es weiter getrennte Haupt- | |
und Realschulklassen, es ist also ein de facto dreigliedriges System. Wer | |
seine Kinder trotz Mittelschulempfehlung fördern will, steuert | |
Privatschulen an. Berlin will die Sekundarschulen attraktiv machen, indem | |
dort alle Abschlüsse bis zum Abitur möglich sind, auch Hamburg geht bis an | |
die Grenzen des zweigliedrigen Systems. | |
Gleichzeitig wagt es keine Partei, das Gymnasium infrage zu stellen. Zu | |
groß ist die Angst, die eigenen Wähler zu vergraulen. Denn das deutsche | |
Heiligtum ist mittlerweile die beliebteste Schulform. In 11 Bundesländern | |
gehen Schüler mehrheitlich nach der Grundschule aufs Gymnasium, das sind | |
bis zu 40 Prozent eines Jahrgangs. Dabei hat sich hier pädagogisch in den | |
vergangenen Jahren wenig getan. An vielen Gymnasien gilt noch immer das | |
Prinzip "Pauken, pauken", und wer es nicht schafft, der muss eben runter. | |
Eltern sind konservativ. Das entspricht ihrer Rolle als Eltern. Egal | |
welcher Herkunft, gleich ob gelernt, studiert oder ohne Abschluss - sie | |
wollen ihren Kindern eine glänzende Zukunft ermöglichen und sie vor | |
Experimenten bewahren. Diese bewahrende, also konservative Haltung der | |
Eltern macht sie misstrauisch gegen fundamentale Veränderungen. | |
Folglich muss das Gymnasium vorsichtig reformiert werden. Das Marbacher | |
Schiller-Gymnasium etwa bildet Eliten, ohne die vermeintlich | |
fehlplatzierten Kinder abzuschulen. Für dieses Konzept gab es 2007 einen | |
deutschen Schulpreis. Auch die Daten der Pisa-Studien zeigen diese | |
Möglichkeit auf: Die Bildungsbeteiligung an den Gymnasien ist | |
kontinuierlich gestiegen, ohne dass das Leistungsniveau gesunken ist. | |
Gymnasien, die sich darauf einstellen, ihre Schüler individuell statt im | |
Gleichschritt zu unterrichten, könnten die Eliteschulen für alle von morgen | |
sein. Ein später Sieg für den ollen Humboldt. | |
16 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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