| # taz.de -- Geldnot im Studium: Studieren im Tal der Allesfresser | |
| > Ein Studium ist nicht für alle gleich leicht. Unsere Autorin kennt die | |
| > Hürden, die sich ständig auftun, wenn man sich nicht selbst finanzieren | |
| > kann. | |
| Bild: Und dann zum Essen in die Mensa | |
| Ach, das Studium. Welch gute alte Zeit, in der ich gerade lebe. Und dann | |
| auch noch Semesterferien! Die Bachelorarbeit ist bald abgegeben und dann | |
| ist alles vorbei. Bis dahin genieße ich die letzten Momente im Paradies. | |
| Die Finanzierung übernehmen meine Ersatzeltern. Studierendenwerk und | |
| BAföG-Amt heißen sie. Diese Ersatzeltern sind fies, aber sie haben Geld. | |
| Eins habe ich im Studium auswendig gelernt: mich bei meinen fiesen Eltern | |
| einzuschleimen. | |
| Am meisten lieben sie meine Dokumente. Ganz viele davon, 10, 50, 70 Seiten. | |
| Nehmt euch meine Daten, auch wenn ich niemals verstehen werde, welche ihr | |
| braucht! Nehmt euch die Steuererklärung meiner Mutter aus dem Jahr 2018! | |
| Nehmt euch meinen siebten Antrag! | |
| Meine Ersatzeltern haben [1][Prozesse geschaffen, die gemacht wurden, um an | |
| ihnen zu verzweifeln]. Weil ich durchhalte, schicken sie mir im Gegenzug | |
| nach langer Wartezeit 650 Euro im Monat. Das ist lieb von ihnen. Die Kohle | |
| trudelt ein und macht fliegenden Wechsel mit dem Dauerauftrag für die | |
| Miete. Kaum was bleibt, also muss ein Job her. [2][Schaffen, schaffen, | |
| Zimmerle mieten.] | |
| ## Prozesse, an denen man verzweifelt | |
| [3][Die Inflation schleicht sich ein,] doch mit dem Kindergeld reicht es | |
| gerade so. Meine Ersatzeltern melden sich: „Also Valérie, das finden wir | |
| nicht gut, dass du so viel arbeitest. Wir dachten, wir wären dir genug? | |
| Wenn du uns nicht wertzuschätzen weißt, bekommst du nur noch 320 Euro.“ | |
| Zwischen den Zeilen des Bürokratendeutsch steht genau das. Egal, wollte eh | |
| schon immer unabhängiger von euch sein. Leckt mich doch, ihr Ersatzeltern. | |
| Ich mache also noch mehr Stunden. Mehr als die Krankenkasse es erlaubt. | |
| Mein 25. Lebensjahr ist rum, das heißt, das war’s mit Kindergeld. Dann | |
| landet ein Brief der Krankenkasse auf meinem Tisch. „Sie sind 25, Frau | |
| Catil, Familienversicherung geht nicht mehr. Sie müssen jetzt selbst | |
| zahlen. Und, nanu, was haben Sie denn da getan? Etwa gearbeitet? Etwa um | |
| Geld zu verdienen? Spinnen Sie? Das Geld hätten wir jetzt gerne, bitte.“ | |
| Zugegeben, dass ich meine Krankenkasse selbst zahlen muss, weil ich zu | |
| viele Stunden mache, war mir nicht so ganz klar. Diese Obergrenze war mir | |
| unbekannt, weil meine Existenzgrenze fast erreicht war. Rückwirkend muss | |
| ich jetzt in Raten zahlen, und meinen Beitrag von da an natürlich auch. | |
| Also, noch mehr Stunden arbeiten. Aber immer schön unter dem | |
| Steuerfreibetrag bleiben. | |
| [4][Existieren ist eine Gratwanderung.] Und dieser Grat liegt über einem | |
| Tal voller bürokratischer Allesfresser, die das, was mir so aus den Taschen | |
| purzelt, gierig verschlingen. „Das schmeckt ja köstlich dieses Geld, was | |
| Sie für Lebensmittel eingeplant hatten!“, rufen die Allesfresser. | |
| ## Existieren als Gratwanderung | |
| Bei all dem Überleben darf ich das Studieren nicht vergessen. | |
| Regelstudienzeit +2 Semester. Das fanden meine Eltern gar nicht lustig. | |
| Also, BAföG-Amt und Studierendenwerk. „Du musst jetzt auch langsam auf | |
| eigenen Beinen stehen können, Valérie. So geht das nicht weiter“, sagen sie | |
| mir. Adieu, BAföG, das war’s dann wohl. | |
| Noch mehr arbeiten kann ich nicht, aber eine perfide Idee hab ich noch. | |
| Ganz vorsichtig taste ich mich bei meiner Vorgesetzten ran. „Also, ja, ich | |
| arbeite seit ein paar Jahren hier, und ähm, bekomme nur 14 Euro die Stunde | |
| und ähm, vielleicht …“ „Uhhh, ganz großes SORRY, aber eine Lohnerhöhun… | |
| nicht drin. Riesen Sorry. Aber wir schätzen dich sehr wert und außerdem | |
| gibt’s hier doch gefiltertes Wasser und Obst.“ | |
| Mein Studium und das vieler anderer wird davon bestimmt, tausende Dinge | |
| gleichzeitig zu balancieren. Jedes Problem ein Teller, den ich am Ende | |
| eines langen Stabes zu jonglieren versuche. Sobald ich damit hinterher bin, | |
| einen Teller zu drehen, fällt er runter. Beim Versuch, ihn aufzuheben, | |
| fallen die anderen mit. Jetzt sitze ich in den Scherben. | |
| 15 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Valérie Catil | |
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