# taz.de -- Armut unter Studierenden: Von der Intensiv in den Hörsaal | |
> Wegen der hohen Inflation sind heute so viele Studierende armutsgefährdet | |
> wie lange nicht. Die versprochene zweite BAföG-Reform lässt auf sich | |
> warten. | |
Bild: Was können sich Studierende leisten? Anatomievorlesung an der Universit�… | |
BERLIN taz | Ein halbes Jahr mussten Studierende auf die | |
Energiepreispauschale des Bundes warten. [1][Dann ging es plötzlich ganz | |
schnell]. Ab Mitte März durften rund 3,5 Millionen Studierende und | |
Fachschüler:innen die [2][Einmalzahlung von 200 Euro] beantragen – rund | |
zwei Wochen später hatte bereits fast die Hälfte der Berechtigten ihr Geld | |
erhalten. Umstritten ist aber weiterhin, wie sehr die staatliche | |
Unterstützung den Betroffenen überhaupt hilft. | |
Für die Berliner Medizinstudentin Christina ist sie ein „Witz“: „Der Win… | |
ist vorbei, wir haben bereits gefroren – in meiner WG haben wir kein Mal | |
geheizt.“ Von den Heizkostenzuschüssen in Höhe von insgesamt 575 Euro bekam | |
sie nichts, weil diese nur BAföG-Empfänger:innen zustehen. | |
Christina gehört zu den Studierenden, die von Armut gefährdet sind. Diese | |
Gruppe wächst. Zuletzt waren es laut Statistischem Bundesamt schon mehr als | |
ein Drittel. Unter den Studierenden, die nicht mehr zu Hause leben, sind | |
sogar 76 Prozent armutsgefährdet. Die Zahlen klingen alarmierend, | |
allerdings erfassen sie nicht, ob und wie stark die Studierenden vom | |
Elternhaus unterstützt werden. | |
Der Bremer Soziologe Olaf Groh-Samberg hat 2020 für einen Forschungsbeitrag | |
das Einkommen junger Erwachsener und ihrer Eltern miteinander | |
verrechnet. Dadurch schrumpfte die Armutsquote bei von zu Hause | |
ausgezogenen Studierenden von 64 auf 9 Prozent. Die Rechnung basiert aber | |
auf der Annahme, Studierende könnten komplett auf das Geld ihrer Eltern | |
zurückgreifen. Das ist wohl ebenso unrealistisch wie die gegenteilige | |
Vorstellung, dass sie vollkommen unabhängig von ihnen sind. | |
## Angewiesen auf den Nebenjob | |
Wie viele Studierende also tatsächlich von Armut gefährdet sind, ist | |
unklar. Wer aber keine finanzielle Unterstützung erhält, lebt prekär, | |
berichtet Christina: Sie finanzierte ihr Studium in Berlin neben Stipendium | |
und Nebenjob zeitweise zusätzlich durch regelmäßige Plasmaspenden. Dafür | |
bekam sie „instant 30 Euro auf die Hand“, teils mehrmals pro Woche. Dennoch | |
fühlte sie sich schlecht dabei, ihren Körper zu schwächen, um ihr | |
Portemonnaie aufzufüllen. | |
Mittlerweile kann Christina auf das „Blutgeld“ verzichten. Sie wohnt in | |
einem [3][bezahlbaren WG-Zimme]r des Studierendenwerks. Dennoch ist sie | |
noch immer auf ihren lukrativen Nebenjob auf einer Intensivstation | |
angewiesen. Manchmal muss sie direkt nach einer Schicht, während der | |
Menschen gestorben sind, in die Vorlesung gehen. Das zehrt an ihr. | |
Nun kam zu der ohnehin schon schwierigen finanziellen Lage noch die | |
Inflation hinzu. Die Frage, ob sie sich etwas leisten kann, stelle sie sich | |
häufiger, sogar vor dem Gemüseregal im Supermarkt, erzählt Christina. | |
Kleidung kaufe sie kaum, neue Sneaker gar nicht. Stattdessen funktioniere | |
sie kaputte Laufschuhe mithilfe von Nadel, Faden und Kleber um. | |
Auf die Unterstützung ihrer Eltern kann Christina nicht zählen, sie wollten | |
von Anfang an nicht, dass sie studiert. Noch immer erhält sie manchmal kein | |
Kindergeld. Zudem haben ihre Eltern es jahrelang hinausgezögert, notwendige | |
Formulare für den BAföG-Antrag auszufüllen. Sie wünscht sich daher ein | |
elternunabhängiges BAföG, damit weder Wahl noch Erfolg des Studiums vom | |
Wohlwollen der Eltern abhängig sind. | |
Die BAföG-Reformpläne der Bundesregierung beinhalten keine umfassende | |
Elternunabhängigkeit. Laura Kraft, Grünen-Bundestagsabgeordnete und | |
Berichterstatterin ihrer Fraktion für das Thema BAföG, hält die Idee für | |
unrealistisch: „Wie sollen wir das finanzieren? Man muss sich zudem fragen, | |
wen man mit der Unterstützung erreichen will.“ Auch Bildungsökonom Dieter | |
Dohmen ist skeptisch. „Das Thema muss man im Gesamtkontext sehen. Es kann | |
etwa nicht von der Frage losgelöst werden, wie wir in Deutschland mit | |
Erbschaften umgehen.“ Elternunabhängiges BAföG für alle sei in der jetzigen | |
Situation nicht vorrangig. | |
Im Koalitionsvertrag hatte die Ampel versprochen, das BAföG zumindest | |
„elternunabhängiger“ zu machen. Als zentrales Vorhaben soll der | |
Garantiebetrag von 250 Euro – das derzeitige Kindergeld – direkt an | |
Studierende und Auszubildende ausgezahlt werden. In Fällen wie dem von | |
Christina wäre das eine Entlastung. Laut der bildungspolitischen Sprecherin | |
der FDP-Fraktion, Ria Schröder, soll das BAföG außerdem als zinsloses | |
Volldarlehen für alle Studierende geöffnet werden. „So können junge | |
Menschen endlich [4][unabhängig vom Elternhaus] studieren.“ | |
## Strukturelle Verbesserungen sind nötig | |
In der bisherigen Legislaturperiode wurde zudem eine Reihe weiterer | |
Änderungen beschlossen, um mehr Studierenden reguläres BAföG zu | |
ermöglichen. Allen voran wurden die Freibeträge für das Elterneinkommen um | |
rund 20 Prozent erhöht und die Altersgrenze wurde von 30 auf 45 Jahre | |
heraufgesetzt. Im nächsten Schritt soll BAföG-Beziehenden ein weiterer | |
Fachrichtungswechsel erlaubt und die Förderhöchstdauer soll erhöht werden. | |
Derzeit werden Studierende, mit wenigen Ausnahmen, nur bis zum Ende der | |
Regelstudienzeit unterstützt. | |
Um jungen Menschen aus weniger wohlhabenden Haushalten – speziell | |
Nichtakademikerfamilien – den Studienantritt zu erleichtern, soll zudem | |
eine sogenannte Studienstarthilfe geschaffen werden. Diese soll Ausgaben | |
zum Unistart, wie den ersten Semesterbeitrag, die Mietkaution oder einen | |
Laptop mitfinanzieren. Im Koalitionsvertrag ist zudem eine Reduzierung des | |
Darlehensanteils beim BAföG vorgesehen. | |
So ambitioniert sich die Ampel für die Öffnung des BAföGs für mehr | |
Berechtigte einsetzt, so ausbaufähig bleibt jedoch die Höhe der | |
finanziellen Unterstützung. Laut einer Erhebung des Paritätischen | |
Wohlfahrtsverbands waren basierend auf dem Einkommen von 2019 45 Prozent | |
der BAföG-Empfänger:innen armutsgefährdet. Bei dieser Gruppe ist die | |
Statistik aussagekräftiger. | |
Schließlich bekommen nur diejenigen BAföG-Leistungen bewilligt, deren | |
Eltern nicht genug verdienen, um den Unterhalt ihrer studierenden Kinder zu | |
finanzieren. Bisher hat das Bildungsministerium in der aktuellen | |
Legislaturperiode den Höchstsatz von 752 auf 812 Euro angehoben. Wer nicht | |
familienversichert ist, bekommt 934 Euro. Der SPD-Abgeordnete Oliver | |
Kaczmarek will sich für eine weitere Erhöhung einsetzen, sodass der | |
Grundbedarf auf den des Bürgergelds angehoben wird: Das wären dann noch mal | |
gut 50 Euro mehr. | |
Bildungsökonom Dieter Dohmen reicht das nicht. Er hält eine Anhebung der | |
Unterstützung auf etwa 1.050 bis 1.100 Euro für angemessen. „Dies gilt | |
gerade mit Blick auf die deutlich gestiegenen und weiter steigenden | |
Mietkosten.“ | |
Hierzu hatte das Moses Mendelsohn Institut Ende März eine Studie | |
veröffentlicht, die zeigte, dass der Wohnkostenanteil im BAföG von 360 Euro | |
lediglich „für weniger als ein Fünftel der Studierenden und in nur 26 von | |
94 Städten“ ausreicht. Dies liege vor allem an steigenden Energiekosten. | |
Genau dafür gab es zwar den Heizkostenzuschuss und die Einmalzahlung. | |
Insgesamt konnten BAföG-Beziehende ohne Nebenjob dadurch 775 Euro erhalten. | |
Jedoch sind das keine nachhaltigen oder verlässlichen Hilfen. | |
„Der Fokus muss in der angespannten Haushaltslage zukünftig auf | |
strukturellen Verbesserungen liegen, von denen junge Menschen auch in zehn | |
oder zwanzig Jahren noch profitieren“, fordert Ria Schröder von der FDP. | |
Dass der Haushalt des Bildungsministeriums begrenzt ist, betonen alle drei | |
Vertreter:innen der Regierungsparteien. SPD-Mann Kaczmarek meint: | |
„Ausbildungsfinanzierung kostet Geld und ist gut angelegtes Geld. Das | |
müssen wir als Gesellschaft klar haben.“ Doch es brauche „mehr als das, was | |
der Finanzminister zusammenkratzt“ – etwa durch eine höhere Besteuerung von | |
Reichen. Bekanntlich gebe es dafür keinen Konsens in der Koalition. | |
Kaczmarek ist sich dennoch sicher: „Eine bessere Koalition fürs BAföG gibt | |
es derzeit nicht.“ | |
12 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dariusch Rimkus | |
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