# taz.de -- Kabarettistin Jäger über Bodyshaming: „Der Humor stirbt zuletzt… | |
> Auf der Bühne und in Büchern verarbeitet die Hamburgerin Nicole Jäger | |
> erlebte Verletzungen. Ihr hat geholfen, offen und laut darüber zu reden. | |
Bild: Sieht Humor als Kommunikationstool: Nicole Jäger | |
taz: Frau Jäger, wie definieren Sie Scham? | |
Nicole Jäger: Oha! Als ein sehr einnehmendes, sehr schwieriges Gefühl, das | |
fast nirgendwo wirklich Platz hat. | |
Also ein rein destruktives, kein positives? | |
Wenn Sie die hilfreiche Scham meinen, nicht nackt durch die | |
Mönckebergstraße zu laufen, ist es vor allem ein bremsendes, blockierendes | |
Gefühl, sich für das zu schämen, was man ist oder wie man aussieht. Opfer | |
sollten nie Scham empfinden oder sich sonst wie schuldig fühlen für das, | |
was Täter ihnen antun. Scham und Schuldgefühle machen da stumm. | |
Kann man Ihr publizistisches Werk, in dem Sie Ihr Innerstes ständig nach | |
außen kehren, dann so verstehen, dass Sie sich an Ihren Scham- und | |
Schuldgefühlen von Bodyshaming bis Mangel an Selbstwert abarbeiten? | |
Abarbeiten klingt so negativ, irgendwie protestantisch, aber natürlich | |
arbeite ich unablässig daran. Schon vom feministischen Gesichtspunkt aus, | |
den man ja als Frau im Kampf um Selbstbestimmung grundsätzlich einnehmen | |
sollte. Aber auch aus der Perspektive meines Andersseins, über das immer | |
irgendwie komisch gesprochen wird. Insofern bringe ich alles relativ laut | |
auf die Bühnen, weil leise zu sein mich als jemand, der in einer toxischen | |
Beziehung gesteckt hat, nur blockieren würde. Da sind wir wieder bei der | |
Scham, die uns daran hindert, Potenziale zur Entfaltung zu bringen. | |
Wobei Sie nicht nur in aller Öffentlichkeit laut über sehr Persönliches wie | |
Ihre Beziehungen oder den eigenen Körper reden, sondern sich dabei geradezu | |
nackig machen und alles, wirklich alles auf den Tisch packen. | |
Weil es nötig ist! Bevor ich „Unkaputtbar“ geschrieben habe, saß ich oft … | |
Hause, habe mich selbst in Gesellschaft wahnsinnig allein gefühlt und | |
dachte, der einzige Mensch zu sein, dem das in dieser Art geschieht. Ich | |
bin so aufgewachsen, dass Opfer immer schwach sind und immer die anderen | |
sind. Deshalb dachte ich, mir geht’s doch gut, mich kann das nie betreffen. | |
Als es das dann doch tat, bin ich am Ende meiner toxischen Beziehung, die | |
einen psychisch und physisch völlig zermürbt hinterlässt, trotz meines | |
beruflichen Erfolges erst mal verstummt. | |
Offenbar nur kurz. | |
Ja. Weil ich mir vor Augen hielt: Wenn es mir mit diesem harten Upfuck | |
schon so furchtbar ergeht – wie soll es Frauen in schlechterer Position in | |
wirtschaftlicher Abhängigkeit mit Kindern da erst gehen. Da wurde mir klar, | |
offen und laut darüber reden zu müssen. Wenn nicht ich, wer dann? | |
Aber wer ist dann der Adressat Ihrer publizistischen und komödiantischen | |
Offenheit, in der es permanent um Ihre Verletzungen geht: Sie selbst als | |
Teil einer öffentlichen Eigentherapie – oder all die anderen meist | |
weiblichen Opfer im Publikum? | |
Sowohl als auch. Mit Humor als Schwert und Schild. Denn der war nie ein | |
Stilmittel, sondern mein wichtigstes Kommunikationstool, das ich seit jeher | |
benutze. Ich bin so. Trotzdem nutze ich es natürlich, um anderen etwas | |
mitzuteilen. Der Mensch hört nämlich dann am besten zu, wenn er gut, am | |
besten positiv unterhalten wird. Je schlimmer das Thema, desto angebrachter | |
ist Humor, denn er öffnet die Ohren – und zwar nicht nur von denen, die zum | |
Beispiel Opfer von Bodyshaming sind, sondern auch der Täter. Doch obwohl | |
Kunst in jeder Form für mich Heilung bedeutet, kann Sie niemals | |
Therapie-Ersatz sein. | |
Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, Sie setzen Ihre vorherige Tätigkeit | |
als Coach irgendwie in Buch- und Bühnenform fort. | |
Ganz falsch ist das nicht. Gesellschaftskritische Comedy hat ja generell | |
den Anspruch, Dinge durchs Ansprechen zu verbessern, und das gelingt ihr | |
schon deshalb leichter, weil sie schnell ein paar Hundert Leute pro Abend | |
erreicht, während es beim Coaching einer pro Stunde ist. Beim Signieren | |
höre ich dann oft, wie mein Programm die Menschen inspiriert. Dass sie sich | |
Ihrem Partner endlich mal wieder nackt zeigen oder leicht bekleidet unter | |
Leute trauen zum Beispiel. Mein Publikum glaubt mir, weil ich genauso wenig | |
perfekt bin wie sie, aber mich trotzdem auf die Bühne traue. | |
Weil Schwäche zeigen die neue Stärke ist? | |
Finde ich schon. Wobei Schwäche zu zeigen schon immer von Stärke gezeugt | |
hat, aber darin von Konventionen unterdrückt wurde. Das belegen ja schon | |
all die dramatischen Kunstwerke, die oft aus Emotionen wie Trauer, | |
Enttäuschung, Leid entstanden sind und erzählen, dass das Leben nun mal | |
einen harten linken Haken hat und wehtut, aber mit Kunst, besonders der | |
komischen leichter verständlich wird. Reden hilft immer, und Tragik ist | |
Komik in Spiegelschrift – stimmt schon, das Sprichwort. | |
Aber war Ihre Komik zu einer Zeit, als die Scham Sie noch stärker im Griff | |
hatte, nicht auch ein bisschen das Pfeifen im Walde, also eher Panzer als | |
Leichtigkeit? | |
Die lustige Dicke ist ein sehr beharrliches Klischee, aber bei mir war es | |
tatsächlich schon immer so. Mein Vater meinte zu mir, du brauchst weder | |
teure Klamotten noch Statussymbole, sondern ein starkes Rückgrat und ein | |
loses Mundwerk. Humor ist deshalb für mich immer das erste und letzte | |
Mittel der Wahl, um mich mitzuteilen. Die Hoffnung stirbt zuletzt – da | |
glaube ich nicht dran; der Humor stirbt zuletzt. | |
Lacht kaputt, was euch kaputt macht. | |
Dann macht er dich heile! Deshalb bedeutet mir ein lachendes Publikum auch | |
viel mehr als ein applaudierendes, denn Lachen ist echt. Magic Super Power! | |
Aber kann Lachen nicht auch die Ernsthaftigkeit so einlullen, dass sie | |
verloren geht? | |
Manchmal ist Humor auch Eskapismus, keine Frage. Aber selbst das finde ich | |
voll okay, denn Humor und Ernst schließen sich nie aus. Sie bedingen | |
einander und sorgen gerade gemeinsam für ein besseres Verständnis | |
komplizierter Probleme. Humor legt den Finger in die Wunde, ohne richtig | |
wehzutun. | |
Trotzdem kriegen Männer in Ihrer künstlerischen Arbeit unablässig Saures. | |
Üben Sie dabei auch ein wenig Rache? | |
Nein, schon weil ich das Konzept der Rache nie verstanden habe. Ich bin | |
größer als Rache. Und Humor ist es sowieso. Männer – und seltener Frauen �… | |
stellen sich in emotionaler Hinsicht oft so saukomisch bescheuert an, dass | |
es nach Comedy förmlich schreit. | |
Ihre Dick-Pic-Witze darf man also nicht zu ernst nehmen? | |
Doch, das darf man. Aber ich fühle mich – hier spreche ich allerdings nur | |
von mir persönlich – von all den Dick-Pics, die ich kriege, nicht mal | |
richtig belästigt. Die sind einfach affig. Deshalb mach ich darüber Witze, | |
keine Therapien. Rache verleiht der Täterseite Aufmerksamkeit, die sie | |
nicht verdient. | |
Sie kann aber auch als psychiatrisch verordneter Boxsack dienen, in den man | |
seine Wut prügelt. | |
Durchaus, aber ich funktioniere so nicht. Ich versuche mittlerweile mehr, | |
auf mich selbst als andere Bezug zu nehmen. | |
Dennoch schreiben Sie im Buch, es seien „immer ERs, die meine Geschichte | |
prägen“ – also Männer. | |
Weil die in der Tat unfassbaren Einfluss auf mich ausgeübt haben. Meine Ehe | |
ist daran kaputt gegangen, dass mein Mann nicht akzeptieren konnte, weniger | |
im Rampenlicht zu stehen und zu verdienen. Ich bringe Geld nach Hause, bin | |
viel unterwegs, lasse ihm alle Freiheiten, doppeltes Einkommen, keine | |
Kinder, und er fühlt sich kastriert? Wie bescheuert ist das denn! Obwohl | |
ich durch einen extrem dominanten Vater vorgeschädigt bin, lasse ich mich | |
aber von dominanten Männern mittlerweile weniger prägen. | |
Was prägt Sie dann? Wer „Unkapputtbar“ liest, könnte meinen, es sei Ihre | |
Heimatstadt Hamburg, der Sie darin fast eine Liebeserklärung machen. | |
Schön, dass Sie das da herauslesen. Ich bin Hamburgerin aus Leib und Seele. | |
Aber was mich noch mehr prägt, ist die Kunst. Denn die hat mich aus allem | |
rausgeholt. Ich saß mal im Rollstuhl, ich war mal wohnungslos, hatte | |
Minderwertigkeitskomplexe – alles auch überwunden dank meiner Kunst, die | |
mir endlich das Gefühl gab, etwas wirklich gut zu können, damit sogar Geld | |
zu verdienen und nebenbei alles aufarbeiten zu können. Mein nächstes | |
Bühnenprogramm wird auch von häuslicher Gewalt handeln. | |
Und wie macht man die witzig? | |
Wirste sehen! | |
Ist Humor für Sie eine Art Heimatersatz? Im Buch schreiben Sie, nirgends | |
jemals ganz zu Hause gewesen zu sein. | |
Ich bin in der Tat tausendmal umgezogen, habe ständig die Stadt gewechselt | |
und war rastlos, ohne jemals irgendwo anzukommen. Bis ich gemerkt habe, | |
ohne Hamburg nicht sein zu können. Deshalb ist das Haus hier in Winterhude | |
zum ersten Mal so was wie ein Zuhause. Hier riecht es nach mir, hier sieht | |
es nach mir aus, hier bin ich safe. Aber stimmt schon – auch der Humor, die | |
Kunst sind Heimaten für mich. Licht aus, Mikro an, alles gut. | |
Klingt fast, als wären Sie glücklich. | |
Eher zufrieden. Glück wird überschätzt, das ist in der Regel nicht | |
langlebig. Ich fühle mich zurzeit in meinem eigenen Leben willkommen und | |
bei aller Unvollkommenheit voll in Ordnung und angenehm verletzlich. | |
Angenehm verletzlich? | |
Wer sich aus freien Stücken verletzlich zeigt, bietet kaum befriedigende | |
Angriffsflächen zum Reinschlagen, das macht sogar Hasskommentare im | |
Internet erträglich. | |
22 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Jan Freitag | |
## TAGS | |
Kabarett | |
Hamburg | |
Gender | |
Feminismus | |
Beziehung | |
Kolumne Einfach gesagt | |
Upcycling | |
Feminismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Moderne Frauen und ihre Beziehungen: Toxisch, aber muss ja | |
Toxische Beziehungen gehören zu einem emanzipierten Lebensentwurf aus Geld, | |
Karriere und Sex. Wo führt das alles hin? | |
Upcycling von alten Basssaiten: Scheiße isses, besser wird’s nicht | |
Schreien, Wut, Weltschmerz – klar. Aber Punk ist eben auch, wenn man aus | |
alten Basssaiten eine Magnettafel in Do-it-yourself-Optik baut. | |
20 Jahre „Gilmore Girls“: Feminismus der 2000er | |
Als „Gilmore Girls“ vor zwanzig Jahren anlief, galt die Serie als | |
progressiv. Zum Jubiläum fragen wir: Wie gut ist sie gealtert? |