Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Traumatisierte Polizisten in den USA: Im Innern ist es nicht vorbei
> Vier Polizisten, die im Januar im Kapitol eingesetzt waren, haben sich
> selbst getötet. Keine Einzelfälle. Doch in den USA ist das Thema zu oft
> ein Tabu.
Bild: Ein Einsatz mit Folgen: Polizisten postieren sich am 6. Januar in der Nä…
New York taz | Knapp sieben Monate nach [1][dem Sturm auf das US-Kapitol]
verliert die Polizei in Washington zwei weitere Kollegen. Am 6. Januar
hatten die Officer Kyle deFreytag und Gunther Hashida geholfen, Abgeordnete
und Senatoren vor gewalttätigen Trump-Anhängern zu verteidigen. Anfang Juli
nahm sich erst der 26-jährige deFreytag das Leben, Ende Juli tötete sich
sein 43-jähriger Kollege Hashida. Die Öffentlichkeit erfuhr erst jetzt
davon.
[2][Damit steigt die Zahl der Opfer in den Polizeireihen auf fünf.] Ein
Polizist starb am Tag nach dem Sturm auf das Kapitol an einem Schlaganfall.
Vier andere haben sich das Leben genommen.
Die Fälle lenken neue Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Selbsttötungen
unter den rund 800.000 US-Polizisten ein bekanntes Phänomen sind. Es ist
eine häufigere Todesursache für Polizisten als dienstliche Einsätze.
[3][Eine Studie der Ruderman-Stiftung] in Boston zählte im Jahr 2017
landesweit 140 Polizisten-Suizide. Im selben Jahr kamen 129 Polizisten bei
Einsätzen ums Leben.
Die Autorin der Studie, Miriam Heyman, spricht von „Trauma“ als
„regelmäßigem Teil des Jobs von Polizisten“. Dies verursache in dieser
Gruppe mehr Depressionen und posttraumatischen Stress als im Rest der
Bevölkerung. Wegen des Desinteresses der Medien und des gesellschaftlichen
Schweigens, der Scham und der Stigmata sei es gerade für Ersthelfer
besonders schwer, therapeutische Hilfe zu suchen, die ihnen das Leben
retten könnte.
## Gesammelte Traumata
[4][Robert Douglas], einer der Mitarbeiter der Studie, vermutet, dass
Polizisten, die das Kapitol am 6. Januar verteidigt haben, verschiedene,
möglicherweise traumatisierende Fragen im Kopf hatten: „Warum waren wir
nicht vorbereitet? Warum sollten wir möglichst keine Schusswaffe benutzen?
Haben wir genug für die Sicherheit der Abgeordneten getan?“
Douglas, 75 Jahre alt, war 25 Jahre lang im Polizeidienst in Baltimore im
Einsatz. Er arbeitete bei der Drogenfahndung und in Mordkommissionen.
Zugleich war er der Kaplan für 4.000 Polizisten. Seit 27 Jahren ist er im
Bereich Suizidprävention tätig. „Die Polizei zieht Typ-A-Persönlichkeiten
an“, erklärt er. „Sie sind aggressiv, fällen schnelle Entscheidungen und
gehen in die Gefahr hinein, aus der andere weglaufen.“
Nachdem sich 1985 ein befreundeter Kollege das Leben nahm, entdeckte
Douglas, wie häufig Selbsttötungen in seinem Beruf sind. Er gründete die
National Police Suicide Foundation, die er bis heute leitet. Und er fand
heraus, dass es verschiedene Faktoren gibt, die Polizisten dazu treiben,
sich selbst zu töten. Einerseits der schnelle Wechsel zwischen akuten
Stresssituationen – Handgreiflichkeiten, Schießereien, Verfolgungsjagden –
und ruhigem Alltag. Andererseits die Summe von Traumata, die Polizisten im
Laufe ihrer Dienstjahre ansammeln und mit denen sie nicht umzugehen lernen.
Bei seinen Vorträgen für Polizisten, die er überall im Land hält, spricht
er über Tabuthemen wie psychische Gesundheit und die Möglichkeiten,
frühzeitig zu erkennen, wenn ein Kollege „auschecken“ will.
„Es ist ziemlich einfach“, sagt Douglas. Nach seiner Ansicht reicht ein
dreitägiges Training, um Polizisten für dieses Thema zu sensibilisieren.
Aber das Interesse ist nicht groß. Bislang haben nur weniger als fünf
Prozent der insgesamt 18.000 Polizeibehörden in den USA an irgendeiner Form
von Suizidaufklärung teilgenommen.
## „Wenn jemand auschecken will, findet er einen Weg“
„Wir verbringen jedes Jahr viele Stunden beim Training mit Schusswaffen,
obwohl die meisten von uns nie in ihrer Karriere schießen“, sagt Douglas.
„Aber um die Selbsttötungen in unseren Reihen kümmern wir uns nicht“.
Der New Yorker Polizeisoziologe Alex Vitale, der für Reformen bei der
Polizei eintritt, nennt die Schusswaffen einen „Riesenfaktor“ bei der hohen
Suizidrate von Polizisten: „Wenn wir weniger Leute mit Waffen ausstatten
und mehr Sozialarbeiter, Gemeindeaktivisten und Experten für psychische
Gesundheit arbeiten lassen statt der Polizei, dann werden auch die
Selbsttötungen zurückgehen.“
Robert Douglas sieht das anders. Er hat seine Dienstwaffe gekauft, als er
1994 als Polizist in Rente ging. Er wohnt längst in Florida. Aber seine
alte Waffe aus Baltimore liegt weiter neben seinem Bett: „Sie war mein
bester Freund und Partner.“ Er glaubt nicht, dass die Suizidquote sinken
würde, wenn Polizisten weniger Schusswaffen hätten: „Wenn jemand auschecken
will, findet er einen Weg.“
Mehr als 2.000 Kilometer weiter nördlich bereitet sich Jeffrey Carek in
Michigan auf eine lange Radtour vor. Der pensionierte Polizist wird
zusammen mit seiner Frau über 1.000 Kilometer von Detroit nach Washington
radeln – er will damit auf Polizisten-Suizide aufmerksam machen. Als
Polizist hat er auf der Straße und verdeckt gearbeitet, er war oft an
Mordtatorten. Seit er 2016 in Pension gegangen ist, wendet er sich an
Polizisten und wirbt für mehr Bewusstsein für psychische Gesundheit. Seine
Hauptbotschaft an sie – inklusive der Alpha-Männer – lautet: „Es ist oka…
sich nicht okay zu fühlen.“
## Kein gebrochener Arm
Im Laufe seiner Karriere als Polizist in Ann Arbor, Michigan, hat Carek
Erfahrungen gesammelt, die ihm in den Sinn kommen, sobald er die Augen
schließt. Angefangen mit seinem ersten großen Einsatz Mitte der 90er Jahre,
bei dem er einen Verdächtigen bei einem Raubüberfall erschossen hat. „Ich
habe getan, wozu ich ausgebildet worden war“, sagt er. „Aber es beunruhigt
mich immer noch. Ich wurde dazu erzogen, nicht zu verletzen.“
Nach den Schüssen gab es auf der Wache die übliche „Nachbesprechung nach
einem kritischen Zwischenfall“. Es war eine Runde mit den Chefs in einem
großen Raum. Carek traute sich nicht, etwas zu sagen. Der Psychologe, zu
dem er routinemäßig geschickt wurde, befand, dass er einsatzfähig war und
schickte ihn zurück in den Dienst.
Zu Careks traumatischen Erfahrungen gehört auch das vierjährige Mädchen,
das seinem Opa auf die Straße hinterherlief, um ihn zum Abschied zu
umarmen. Der Mann verlor die Kontrolle über die Bremse, das Kind geriet
unter ein Rad des Lasters. Carek war der erste am Unfallort. Stunden später
war er auch der erste, der neben der Metallbahre mit dem toten Kind stand.
Als Carek seinen Vorgesetzten meldete, dass er psychische Probleme habe,
erklärten die ihn umgehend für dienstuntauglich. Er musste Urlaub nehmen
und selbst für die Behandlung zahlen. „Hätte ich mir den Arm im Dienst
gebrochen, wären alle Kosten übernommen worden“, sagt er.
## Vier Stunden mit dem Psychiater
In den 27 Jahren seiner Polizeikarriere hat Carek sieben Suizide von
Kollegen erlebt. Er ist überzeugt, dass posttraumatischer Stress bei
Polizisten als arbeitsbedingte Erkrankung anerkannt werden muss.
Polizisten, denen es psychisch gut ginge, würden auch ihre Arbeit besser
machen und selbst weniger Gewalt einsetzen.
Carek tritt dafür ein, dass Polizisten, die sich selbst töten, an der
Gedenkstätte für Polizisten in Washington gewürdigt werden. Bislang wird
dort nur der 21.183 Polizisten gedacht, die seit der Unabhängigkeit im
Dienst getötet wurden.
Am Ende seiner Karriere war Carek Vizedirektor der Polizeiakademie von
Michigan. Dort gehören heute vier Stunden mit einem Psychiater zu dem
Curriculum der insgesamt 700-stündigen Polizeiausbildung. Das ist mehr
Psychologie als an den meisten anderen Polizeiakademien des Landes.
Über die Polizisten, die am 6. Januar im Kapitol im Einsatz waren, sagt
Carek, dass sie einen „kleinen Bürgerkrieg“ bekämpft haben. Er kann sich
vorstellen, dass einige darüber in innere Konflikte geraten seien:
„Möglicherweise hatten sie Sympathien für die Ideen der Leute, die in dem
Moment für Chaos sorgten. Und plötzlich mussten sie Gewalt gegen sie
einsetzen.“
Was die beiden Washingtoner Polizisten im Juli in den Suizid getrieben hat,
ist nicht bekannt. Über die beiden ersten Officer, die sich kurz nach dem
dramatischen Einsatz im Kapitol das Leben genommen haben, weiß man etwas
mehr.
„Wenn er am 6. Januar nicht zur Arbeit gegangen wäre, würde er leben“, hat
Erin Smith in einem Interview über ihren Mann Jeffrey gesagt. Weil er im
Kapitol mit einer Metallstange auf den Kopf geschlagen worden war, wurde
Jeffrey Smith zunächst krankgeschrieben. Nach einer Woche, in der er nach
Auskunft seiner Witwe nicht mehr der Alte war, sollte er an seine
Dienststelle zurückkehren. Auf dem Weg dorthin erschoss er sich mit seiner
Dienstwaffe.
Howard Liebengood arbeitete nach dem Einsatz im Kapitol, den beteiligte
Polizisten einen „mittelalterlichen Nahkampf“ genannt haben, ohne
Unterbrechung weiter. Nach mehreren langen Schichten nahm er sich das
Leben.
Smiths Witwe will, dass der Suizid ihres Mannes als Tod im Dienst
verstanden wird. Serena Liebengood hat an ihren Abgeordneten geschrieben.
Ihre Forderung: „Es muss mehr für die psychische Gesundheit von Polizisten
getan werden.“
6 Aug 2021
## LINKS
[1] /Sturm-aufs-Kapitol-im-U-Ausschuss/!5787801
[2] /US-Untersuchung-zum-Sturm-aufs-Kapitol/!5790155
[3] https://dir.nv.gov/uploadedFiles/dirnvgov/content/WCS/TrainingDocs/First%20…
[4] https://www.psf.org/about-us
## AUTOREN
Dorothea Hahn
## TAGS
USA
Polizei
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Washington D.C.
Trauma
Suizid
GNS
US-Wahl 2024
US-Demokraten
US-Wahl 2024
Republikaner
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geplante Demo für US-Kapitolstürmer: Washington wappnet sich
Trump-Anhänger wollen am Samstag in der US-Hauptstadt auf die Straße gehen.
Sie fordern „Gerechtigkeit“ für die Kapitolstürmer des 6. Januar.
Sturm aufs Kapitol im U-Ausschuss: Die Gräben vertiefen sich
Der US-Untersuchungsausschuss zum Sturm aufs Kapitol könnte Fakten klären.
Doch es geht nicht darum, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
US-Untersuchung zum Sturm aufs Kapitol: „Ich dachte, ich werde sterben“
Beim Auftakt des Untersuchungsausschusses sprechen vier Polizisten. Der
Angriff auf das Kapitol war für sie gefährlich und traumatisch.
Konservativer Trump-Gegner Kinzinger: Für die Republikaner ein Verräter
Der US-Abgeordnete Adam Kinzinger wurde in den Ausschuss zur Erstürmung des
Kapitols berufen. In seiner Partei steht er mehr denn je in der Kritik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.