# taz.de -- Protest gegen geplante Clearingstelle: Schutz wird komplizierter | |
> Der Senat will das Hilfesystem für bedrohte Frauen und Kinder umbauen: | |
> Eine zentrale Clearingstelle soll die Betroffenen Schutzhäusern zuweisen. | |
Bild: Bedrohte sollen bald nicht mehr direkt in ein Frauenhaus gehen können | |
Berlin taz | Berliner Frauenprojekte im Bereich häusliche und sexualisierte | |
Gewalt schlagen Alarm: Sie sollen schutzsuchende Frauen künftig nicht mehr | |
direkt aufnehmen. Diese Aufgabe will die Senatsverwaltung für Gesundheit, | |
Pflege und Gleichstellung unter Senatorin Dilek Kalayci (SPD) einer neu zu | |
schaffenden Clearingstelle übertragen, die Hilfesuchende Frauenhäusern und | |
Zufluchtswohnungen zuweisen soll. Dies widerspreche den Lebensrealitäten: | |
„Gewaltbetroffene Frauen müssen die Möglichkeit haben, mit ihren Kindern | |
ohne Umwege direkt in ein Frauenhaus einziehen zu können“, heißt es in | |
einem offenen Brief des Berliner Praxisrats, ein Zusammenschluss von 23 | |
Frauenprojekten, an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD). Das | |
sei auch eine Sicherheitsfrage: „Es gibt Personen, für die eine | |
ausschließlich zentrale Vermittlung lebensgefährlich wäre.“ | |
Doch nicht nur für betroffene Frauen sei die Neuregelung eine | |
Verschlechterung, sagt Angelika May von Frauenzimmer e. V., einem Träger | |
von Zufluchtswohnungen, der taz. Auch für die Projekte seien große | |
Nachteile zu erwarten. Denn erweise sich die Clearingstelle, wie zu | |
erwarten sei, als „Nadelöhr“, stünden in Frauenhäusern und | |
Zufluchtswohnungen möglicherweise Betten leer – und den Zufluchtswohnungen, | |
die sich über die Belegung finanzierten und auf eine weitgehende Auslastung | |
angewiesen seien, ginge das Geld aus. „Wir bringen pro Jahr etwa 3.000 | |
Frauen und Kinder unter. Wie groß soll diese Clearingstelle sein, um so | |
viele Menschen schnell aufzunehmen und an uns weiter zu verweisen?“ | |
Eine Sprecherin der Gesundheitsverwaltung erklärte auf taz-Anfrage, die | |
Clearingstelle solle 15 Plätze als „Zielgröße“ haben. Ihr zufolge | |
entspricht eine solche Stelle, die Tag und Nacht erreichbar sein soll, dem | |
„expliziten Wunsch der Träger“. Sinn sei, dass Fachpersonal mit den | |
betroffenen Frauen weitere Schritte erörtern könne, etwa „die Frage, ob ein | |
längerfristiger Aufenthalt in einem der Berliner Frauenhäuser oder in einem | |
anderen Bundesland die bessere Lösung für ein gewaltfreies Leben ist“. | |
In der Tat habe der Träger BIG e V – er unterhält unter anderem die | |
BIG-Hotline, das zentrale Hilfetelefon für von Gewalt betroffene Frauen und | |
Kinder – 2019 selber ein Exposé für eine Clearingstelle vorgelegt, erklärt | |
Sama Zavaree, Mitarbeiterin der Hotline. Es sei in Absprache mit allen | |
Projekten im Praxisrat entstanden und habe keine Exklusivität der | |
Clearingstelle für Zuweisungen in die Frauenhäuser vorgesehen. Zavaree: | |
„Eine Clearingstelle kann sinnvoll sein, um kurzfristig aufzunehmen und zu | |
gucken, ob eine Schutzunterkunft sinnvoll ist.“ Sie dürfe aber nicht | |
exklusiv über die Aufnahme entscheiden, betont sie. „Die Vielfalt der | |
Zugänge muss erhalten bleiben.“ | |
Bislang läuft es in Berlin so: Frauen (selten Männer), die von häuslicher | |
und/oder partnerschaftlicher Gewalt betroffen sind, können sich bei der | |
BIG-Hotline melden (030 6110300). Die weiß von freien Plätzen in Berliner | |
Einrichtungen und informiert entsprechend. Allerdings ist die Hotline nach | |
Kürzungen vor einigen Jahren nicht mehr rund um die Uhr erreichbar, sondern | |
von 8 Uhr morgens bis 23 Uhr abends. | |
Diese „Nachtlücke“ sei Anfang Juni geschlossen worden, berichtet Zavaree. | |
In der Nacht übernehme seither ein Frauenhaus, das von der | |
Arbeiterwohlfahrt (AWO) betrieben wird, die telefonische Vermittlung. Warum | |
die AWO und nicht die BIG-Hotline den Auftrag bekam, weiß sie nicht. „Wir | |
arbeiten mit der AWO gut zusammen“, betont sie – kritisiert aber, dass die | |
Nachtberatung auf Anweisung der Gesundheitsverwaltung nur ins | |
AWO-Frauenhaus oder ins so genannte Stadthotel einweise, eine wegen Corona | |
eingerichtete Notschutzstelle, die ebenfalls von der AWO betrieben wird. | |
Zavaree sagt: „Wir möchten, dass auch nachts in alle freien Plätze | |
vermittelt wird, aber die Senatsverwaltung hat das bislang verneint.“ | |
Früher, sagt May, hätten Frauen nachts direkt in ein Frauenhaus mit freien | |
Plätzen gehen können – durch Vermittlung der Polizei oder indem sie selbst | |
dort anriefen. „Frauenhäuser nehmen grundsätzlich auch nachts auf“, erkl�… | |
sie – seit Langem bestehe allerdings das Problem, dass die Häuser meist | |
voll belegt seien. „Wir sagen daher schon lange, dass wir nach den | |
Empfehlungen der IstanbulKonvention mehr 24/7-Plätze in Berlin brauchen.“ | |
Immerhin: Mehr Plätze werden tatsächlich geschaffen: Das siebte Frauenhaus | |
hat im Frühjahr eröffnet, ein achtes und neuntes werden gerade | |
eingerichtet. | |
Aktuell gibt es laut Gesundheitsverwaltung in Berlin 872 reguläre | |
Schutzplätze, davon 422 in Frauenhäusern. Die anderen sind | |
Zufluchtswohnungen und sogenanntes 2-Stufen-Wohnen. Zusätzlich gibt es noch | |
die 100 Notschutzplätze im Stadthotel. Dies soll aber laut Zavaree Ende | |
September geschlossen werden. Dann könnte es wieder eng werden mit Plätzen, | |
befürchtet sie. „Wir sehen dem mit Besorgnis entgegen.“ | |
## Diskussion nicht erwünscht | |
Was die Pläne der Gesundheitsverwaltung mit der Clearingstelle angeht, | |
kritisieren die Frauenprojekte in dem offenen Brief an Müller auch, dass | |
ihnen dazu bislang weder ein Konzept noch ein Zeitpunkt genannt worden sei. | |
Dennoch sei in den aktuellen Zuwendungsbescheiden der Verwaltung bereits | |
die Auflage erlassen worden, dass sich Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen | |
künftig der Zuweisung durch die Clearingstelle fügen müssten. | |
Die Sprecherin von Kalayci sagte dagegen, die betroffenen Träger seien in | |
die Konzeption eingebunden, sodass ihre Belange Berücksichtigung finden | |
könnten. Es sei aber „selbstverständlich“, dass die Clearingstelle auch | |
„zentrale Erstaufnahme“ für betroffene Frauen sein müsse. „Der Grundsatz | |
der Wirtschaftlichkeit gebietet es, die bisherigen Aufnahmemodalitäten in | |
Bezug auf die Inbetriebnahme einer zentralen Clearingstelle zu | |
modifizieren.“ Auch hierüber sei man mit den Trägern im Gespräch. | |
Doch so richtig ist eine Diskussion wohl nicht erwünscht: Die Verwaltung | |
habe ihnen erklärt, so May, dass gegen die neue Auflage nur eine Klage als | |
Rechtsmittel zulässig sei – und gehe jemand diesen Weg, würden Zuwendungen | |
an den Träger nicht ausgezahlt. Diese Drohung sei rechtsstaatlich nicht in | |
Ordnung, findet sie. „Hier entsteht gerade ein ungutes Tauziehen zwischen | |
der Bewilligungsbehörde und den Zuwendungsempfängerinnen – leider auch zu | |
Lasten der betroffenen Frauen und Kinder.“ | |
3 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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