| # taz.de -- Junge Kunst in Berlin: Schwer verdaulich bleiben | |
| > Zwischen Transparenz und Kontrolle: Ein halbverstopftes Glasrohr spielt | |
| > die Hauptrolle in Inga Danysz’ Ausstellung im Kunstraum Goeben. | |
| Bild: Das Glasrohr von Inga Danysz mit Schmutz- und Staubpartikeln darin | |
| I am the scum in the pipe“ – der Abschaum im Rohr also – „an artist that | |
| pays low taxes, gets fired for drinking on the job. (…) I’m hard for this | |
| immaculate tube to digest“, schreibt Mary Furniss im Begleittext zur | |
| aktuellen Einzelausstellung von Inga Danysz [1][bei Goeben]. Ein Rohr ist | |
| dort tatsächlich zu sehen. „Remedies for Vertigo“ zeigt die gleichnamige | |
| raumspezifische Konstruktion, bestehend aus einem Glasrohr in 16 | |
| Einzelteilen, das sich entlang der Decke in unterschiedlichen Höhen seinen | |
| Weg durch den Ausstellungraum bahnt. | |
| „Scheinbar naiv und unspektakulär versucht das Rohr dem Druck | |
| standzuhalten, sein eigenes Ökosystem aufrechtzuerhalten“, so beschreibt | |
| Danysz ihre Arbeit, „um den Betrachter*innen am Ende nicht mehr als | |
| einen Hauch von Nichts zu bieten.“ Im Inneren einer gebogenen Engstelle des | |
| Glasrohres verbinden sich Staub- und Schmutzreste aus dem Aufbau einer | |
| Gruppenausstellung – „Die Freiheit, die wir meinen“, 2019–2020 im | |
| Kunstverein Bielefeld, in der eine erweiterte Ausführung von „Remedies for | |
| Vertigo“ zu sehen war – mit Überbleibseln aus der Montage der aktuellen | |
| Installation vor Ort. | |
| Das gemeinsame Gemenge aus Relikten verflicht die beiden Orte, nivelliert | |
| aber gleichzeitig ihre unterschiedlichen Kontexte und Herkünfte. An anderer | |
| Stelle bildet sich innerhalb des Rohres eine Art Wirbel aus Glas, der | |
| ausgehend vom Werk- und Ausstellungstitel ein Heilmittel für oder gegen | |
| Schwindel verkörpern könnte, ehe die Glasarbeit in einer Wand im hinteren | |
| Bereich der Ausstellungsfläche verschwindet. Die an der Sichtbetondecke | |
| freiliegenden Heizungsrohre doppeln „Remedies for Vertigo“ auffällig und | |
| legen den Fokus auf jene Systeme, die für gewöhnlich hinter Paneelen, | |
| Kulissen, alltäglichen Gegenständen oder unseren täglichen Entscheidungen | |
| versteckt liegen. | |
| Glas ist ein wiederkehrendes Material im Werk der in Berlin lebenden | |
| Künstlerin. Was sie daran interessiert, ist besonders seine Transparenz und | |
| deren Konnotationen: „Es ist wie eine Art Schatten eines Objektes, der | |
| zeitlos ist und keine Spuren von Alterung zeigt“, erklärt sie in einem | |
| gemeinsamen Gespräch. | |
| Der „gläserne Mensch“ | |
| Als einer der ältesten Werkstoffe der Welt, der bereits im alten Ägypten | |
| für die Herstellung von Schmuck und Gefäßen genutzt wurde, faszinierte die | |
| Menschheit seit jeher seine scheinbare Immaterialität und Durchsichtigkeit, | |
| die auch Danysz „als ein Indiz, eine Idee von etwas, das da sein könnte, | |
| aber nicht ist oder vielleicht mal da war“ reizt. Frühere sakrale | |
| Konnotationen, die dem Material zugeschrieben wurden, wichen mit der | |
| modernen Glasarchitektur Anfang des 19. Jahrhunderts säkularen Ambitionen | |
| und kulminierten später in Metaphern der grenzenlosen Offenheit und | |
| Demokratie. | |
| Auch Danysz interessiert der sozialgesellschaftliche Aspekt, der durch | |
| Transparenz suggeriert wird. In ihrer Einzelausstellung „Impostures“ 2018 | |
| im Ausstellungsraum VIS in Hamburg beispielsweise positionierte sie | |
| Warteschlangenständer, die man für gewöhnlich an Flughäfen, bei | |
| Veranstaltungen oder in Behörden zur Lenkung und Kontrolle von | |
| Menschenmassen verwendet, und ersetzte das ursprüngliche Material durch | |
| Glas. Die Zerbrechlichkeit als eine dem Werkstoff inhärente Eigenschaft | |
| könnte hier eine Metapher des „gläsernen Menschen“ sein, der inzwischen z… | |
| Synonym allumfassender Kontrolle geworden ist, und gleichzeitig auf die | |
| Ketten unserer Gesellschaft – sichtbare, wie transparente – verweisen. | |
| Es sind Formen und Objekte, die durch ihre Reproduzierbarkeit und | |
| Zeitlosigkeit auffallen, aber dennoch eine Art unauffälligen Spiegel des | |
| gesellschaftlichen Zeitgeistes darstellen, die das Werk der Künstlerin | |
| prägen. In „Crawler“ und „Rocket“ (beide 2017), zwei geölten | |
| Stahlskulpturen, die gerade als Teil der Gruppenausstellung | |
| „Bildungsschock“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen sind, | |
| referiert Danysz beispielsweise auf Spielplatzarchitekturen. Bewusst | |
| verzichtet sie dabei auf die bunte Farbgebung der Originalobjekte, um | |
| direkte Assoziationen zum ursprünglichen Gegenstand zu vermeiden und | |
| dadurch den Fokus auf ihre kulturellen und bildungspolitischen Subtexte zu | |
| lenken. | |
| Auch in Textform | |
| Die Transformation von Geschichte(n) und deren Konnotationen interessiert | |
| die Künstlerin jedoch nicht nur in ihrem skulpturalen Material, sondern | |
| auch auf sprachlicher Ebene. In kurzen Essays, wie „Rootless Rocks and | |
| Drifting Stones“ (2017), fiktionalen Publikationen wie „Metamorphosis of | |
| the 21st Century Minotaur“ (2018), oder einer hörbaren Arbeit „The End is | |
| Always at The Beginning“ (2019) addiert sie dem Ausgangsmaterial eine | |
| „Signifikanz“ hinzu, um auf etwas hinzuweisen, das vielleicht übersehen | |
| werden könnte. | |
| Signifikant ist auch der zukunftsweisende Charakter Danysz’ | |
| präpandemischer Arbeiten, die in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen, | |
| Versammlungsverboten, Kontaktverfolgungen und anderen Kontrollmechanismen, | |
| welche das gesellschaftliche Zusammenleben der letzten eineinhalb Jahre | |
| prägten, besonders aktuelle Fragestellungen aufwerfen. Wieso wir jene | |
| Restriktionen, die überhaupt erst zu Krisen führen, nicht brechen oder | |
| die Hindernisse in geschlossenen Strukturen, wie in „Remedies for Vertigo“, | |
| missachten, steht im Werk der Künstlerin zur Disposition. | |
| Der Rolle der Kunst als „the scum in the pipe“ wird in diesem Sinne eine | |
| ganz buchstäbliche Funktion zuteil: schwer verdaulich zu bleiben und | |
| dadurch das Verstopfen des Abflusses zu bewirken, jene verborgenen Systeme | |
| zum Erliegen oder zumindest zur Reparatur zu bringen. | |
| 27 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kunstschau-mit-Trampelpfad-in-Berlin/!5704765 | |
| ## AUTOREN | |
| Sonja-Maria Borstner | |
| ## TAGS | |
| Bildende Kunst | |
| Kunst Berlin | |
| Kunst | |
| Ausstellung | |
| Berlin Ausstellung | |
| zeitgenössische Fotografie | |
| Bildende Kunst | |
| zeitgenössische Fotografie | |
| Kunst Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Leipziger Fotografiefestivals f/stop: Nackt mit Säugling | |
| Vertrauen bestimmt unser Verhalten. Deshalb thematisiert die 9. Ausgabe des | |
| f/stop Vertrauen als Währung des 21. Jahrhunderts. | |
| Ausstellung im Gropius Bau Berlin: Mit Platanen atmen | |
| Wie politisch sind Pflanzen? Und was können wir Menschen von ihnen lernen? | |
| Zheng Bo, Artist in Residence am Gropius Bau, sucht nach Antworten. | |
| Neues Fotobuch bei Spector Books: Eine Scheibe Butterbrot | |
| Laura Bielaus Fotobuch „Arbeit“ ist frei von fotografischen Konventionen. | |
| Und ihre Bildern sind frei von oberflächlicher Attraktivität. | |
| Kunstmarkt Berlin: Testballon für eine Messe | |
| Das ehemalige Amtsgericht Charlottenburg wird zum temporären Kunstraum. 24 | |
| Berliner Galerien laden in den Amtsalon. |