# taz.de -- Queerbaiting in der Popkultur: Die Projektionsflächen | |
> Vermarktet Billie Eilish sich als queer, obwohl sie es vielleicht nicht | |
> ist? Die Frage führt zurück zum Sinn von Diversität und Repräsentation. | |
Bild: Die öffentliche Obsession mit Billie Eilishs Körper und Sexualität dau… | |
Zum [1][Pride Month kommen immer wieder Altes und Neues] zusammen, zum | |
Beispiel politische Kämpfe der Vergangenheit mit aktuellen Bewegungen. | |
Aids-Veteran_innen und die Generation Tiktok. Und so auch die Verhandlung | |
darüber, wo die Grenzen zwischen queerem Gatekeeping und queerfeindlicher | |
Appropriation verläuft. | |
Was gerade neu ist: Das Musikvideo [2][von Billie Eilish] zu ihrem Song | |
„Lost Cause“, in dem sie mit ein paar Frauen eine Pyjama-Party schmeißt und | |
über einen unerwiderten Crush singt. Ob das als Metapher für ein Coming-Out | |
steht? Auf ihrem [3][Instagram veröffentlichte Eilish letzte Woche noch | |
einen Beitrag] mit Fotomaterial hinter den Kulissen. In der | |
Bildunterschrift: „i love girls“. Damit löste sie eine hitzige Debatte | |
darüber aus, ob dieser Move ein süßes Eingeständnis oder doch nur | |
kalkuliertes Queerbaiting sei – schließlich sei sie doch mit einem cis Mann | |
zusammen. | |
An dieser Stelle kommen die nicht mehr ganz so neuen Dinge dazu, an | |
vorderster Stelle die seit Jahren andauernde öffentliche Obsession mit | |
Billie Eilish, insbesondere mit ihrem Körper und ihrer Sexualität. Selbst | |
als sie noch minderjährig war, wurde die Musikerin ständig sexualisiert, | |
ohne durch eine entsprechende Inszenierung damals suggeriert zu haben, zum | |
Sexsymbol avancieren zu wollen. | |
Im Prinzip ging es darum, an ihrem Exemplar zu diskutieren, was Frauen | |
dürfen. Ist es radikal, den Körper durch weite Kleidung unkenntlich zu | |
machen? Begehen Frauen einen Verrat an der feministischen Sache, wenn sie | |
sich doch für figurbetonte oder freizügige Looks entscheiden? Oder jetzt | |
eben: Vermarktet Billie Eilish sich zum Pride Month als queer, obwohl sie | |
es vielleicht nicht ist? | |
## Druck auf öffentliche Personen | |
Keine Ahnung, kann nur sie beantworten. Aber Gegenfrage: Ist man | |
automatisch straight, nur weil man gerade einen Boyfriend hat? Der einzige | |
Weg aus dieser Kritik heraus wäre in diesem Fall ein erzwungenes Outing. | |
Entweder als heterosexuell oder queer. So, wie die Sängerin Kali Uchis | |
schon klarstellen musste, dass sie bisexuell ist, nachdem man auch ihr | |
Queerbaiting vorwarf. Billie Eilish ist es niemandem schuldig, ihre | |
Sexualität zu offenbaren. Überhaupt, wer konnte das mit 19 schon, sein | |
Begehren auf ein Label reduzieren? Als öffentliche Person ist der Druck | |
zudem höher, mit der Definition der Identität bloß richtig zu liegen, das | |
verdeutlicht die bisherige Debatte. Dabei waren wir uns doch schon mal | |
einig, dass Sexualität etwas Fluides ist. | |
Weg von Billie und Kali, hin zu dem größeren Ganzen: Queerbaiting ist ein | |
Phänomen, das es in unterschiedlichen Formen schon seit einer Weile gibt, | |
also eher Kategorie „alt“. In seiner ursprünglichen Definition jedoch | |
bezieht Queerbaiting sich nicht auf die Performance von einzelnen Promis, | |
sondern als eine Vermarktungsstrategie in Serien, Büchern und Filmen. Indem | |
dort queere Plot-Lines und Figuren angedeutet, jedoch nie eindeutig als | |
solche explizit werden, bleibt ein queeres Publikum am Ball, während ein | |
konservatives nicht abgeschreckt wird. | |
Erstere warten sehnsüchtig darauf, dass das Versprechen von queeren | |
Inhalten irgendwann eingelöst wird, und schauen unbefriedigt weiter. Dass | |
das Ausbleiben von expliziter Queerness ein Erfolgsrezept ist, widerlegen | |
Serien wie [4][„Orange Is The New Black“], [5][„Pose“] oder [6][„Sex | |
Education“]. | |
## Lesbischsein als Bandkonzept | |
Während es bei Billie Eilish tatsächlich unklar ist, ob sie nun queer ist | |
oder nicht, gibt es Fälle, in denen es offensichtlicher war. Das wohl | |
bekannteste Beispiel ist das russische Popduo t.A.T.u., das Anfang der | |
2000er durch sein Image als lesbische Schulmädchen bekannt wurden. Diese | |
Zuschreibung war nicht an angedeuteten Symbolen gebunden, sondern war es | |
ein fester Bestandteil des Bandkonzepts. Der Name ist eine Kurzform des | |
russischen Satzes „Та любит ту“, also „Dieses Mädchen liebt das… | |
in ihrem viralen Video zur Single „All The Things She Said“ knutschen sie | |
leidenschaftlich vor schockiertem Publikum herum. Die Gerüchte, ob die | |
beiden Frauen wirklich zusammen waren, räumten sie in guter alter „No | |
Homo“-Manier in einer Doku aus der Welt. Schnell wurde klar: Das ist kein | |
schonungsloses Pop-Beispiel für lesbische Sichtbarkeit, sondern ein | |
klassischer Fall von „Gay For Pay“, eingeführt von ihrem Produzenten Ivan | |
Shapovalov. | |
Über die Jahre äußerten sie sich mehrmals homofeindlich, insbesondere Yulia | |
Volkova. Ihre Kollegin Lena Katina grenzte sich von einigen Aussagen | |
Volkovas ab, doch der Vibe bleibt: Homofeindliche Heteros, die mit | |
lesbischem Image Geld verdienen. Trotzdem: So homofeindlich sie privat | |
sind, t.A.T.u. werden in diesem Leben ihr Image als lesbische Ikonen oder | |
zumindest Projektionsflächen für lesbisches Begehren nicht mehr los. Für | |
sie war die Rebellion vielleicht nur Marketing, doch für ihre | |
Zuschauer_innen war es ein Ausbruch aus den schnöden vorgelebten Optionen | |
von Heterosexualität und Anpassung. Dann gab es Katy Perry und ihre Single | |
„I kissed a girl“. Vor dem männlichen Blick performt sie den Fauxpas, eine | |
Frau geküsst zu haben. Hoffentlich nimmt ihr Freund ihr das nicht übel! | |
Viel höhere Wellen schlug der ikonische Gruppenkuss zwischen Madonna, | |
Britney Spears und Christina Aguilera auf den MTV Video Music Awards 2003. | |
Britney und Madonna haben ja bereits in ihrem Song „Me Against The Music“ | |
fleißig homoerotische Stimmung gemacht, der Dreierkuss war dann der | |
popkulturelle Höhepunkt. Ob das nur Provokation oder ein Statement war, ist | |
auch Jahrzehnte später ungeklärt. | |
## Geheimhalten von Queerness | |
Ausgerechnet, wenn es um Abweichungen von Cis- und Heteronormativität geht, | |
argumentieren Produzent_innen oder Autor_innen damit, Begehren und | |
Identität lieber zu suggerieren anstatt die Dinge auszubuchstabieren. | |
Komischerweise wird diese Diskretion selten auf Heterosexualität | |
angewendet, diese wird dem Publikum eher zwanghaft ins Gesicht gehalten. | |
Dabei hat das Geheimhalten von Queerness Geschichte, die sich zum Teil bis | |
heute fortsetzt. Nicht ohne Grund spekulieren Queers über die Sexualität | |
oder Geschlechteridentität verstorbener Bekanntheiten. | |
Ob sie mit ihrer Vermutung, die Person könnte queer gelebt haben, richtig | |
liegen, wird selten verifiziert. Vielleicht ist es in diesen Fällen auch | |
unwichtig. Denn egal ob queer oder nur so gelesen, verstorbene Ikonen sind | |
immer eine Projektionsfläche – das kann auch etwas Gutes sein, denn sie | |
geben Kraft, können Vorbilder sein. Ihre vermeintliche Heterosexualität ist | |
häufig genauso spekulativ wie eine mögliche Queerness, warum also nicht | |
automatisch von Letzterem ausgehen, wenn die Vibes passen? Es schwingt ein | |
besonderes Gefühl dabei mit, zum Beispiel daran festzuhalten, dass der | |
Dichter Rumi, der durchaus auch eine große Fanbase in konservativeren | |
Szenen hat, wahrscheinlich queer war. Genau, eure Ikone war genauso pervers | |
wie wir! Was sagt ihr dazu? | |
Bei einzelnen lebenden Promis kann es ähnlich sein. Offenbar regen sie | |
bestimmte Fantasien oder Projektionen an. Der Schauspieler Elliot Page etwa | |
galt für viele lange vor seinem queeren (und später trans) Coming-Out als | |
queeres Vorbild. Trotzdem: Beide seiner Coming-Outs haben für | |
LGBTQI-Personen eine große Bedeutung gehabt. Niemand schuldet der | |
Öffentlichkeit ein Coming-Out, doch es macht einen Unterschied. | |
## Zwischen Vergnügen und „No Homo“-Rhetorik | |
Natürlich löst es Frustration aus, wenn berühmte Heten sich als | |
Marketingstrategien nur die coolen Aspekte von Queerness herauspicken und | |
mit aufgesetzter Edginess Geld mit einer angetäuschten Eigenschaft machen, | |
die andere Menschen unter Umständen den Job, das Zuhause, das soziale | |
Umfeld oder das Leben kosten kann. Während manche Promis also ihre | |
Queerness verheimlichen, weil sie sich die möglichen Konsequenzen nicht | |
leisten können, spielen ihre hetero cis Kolleg_innen Fasching, weil es | |
gerade gut ankommt. | |
Da kommt der Ärger darüber nicht unberechtigt. Besonders dann, wenn es | |
normschöne, konventionell feminine cis Frauen wie Bella Hadid, Katy Perry | |
oder Ariana Grande sind, die niemals unter das Label „Kampflesbe“ fallen | |
würden, sondern genau diesen Male Gaze füttern, der stromlinienförmig in | |
die Matrix der Heteronormativität im Kapitalismus passt. Wie subversiv kann | |
das schon sein – selbst wenn die jeweilige Person sich in dem Moment | |
ermächtigt fühlt? | |
Also, wie stehen zu Queerbaiting? Ein abschließendes Urteil fällt schwer. | |
Einerseits kann auch offensichtliches Queerbaiting zumindest temporär | |
queeres Vergnügen auslösen, und geht es beim Entertainment nicht genau | |
darum: sich unterhalten fühlen und Spaß haben? Andererseits verschärft es | |
manchmal die „No Homo“-Rhetorik, nach dem Motto: „Ih, spinnst du, ich bin | |
doch nicht wirklich gay!“ | |
Letztlich führt das Thema zurück zur Frage nach dem Sinn von Diversität und | |
Repräsentation. Zwar kann es sich gut anfühlen, Vorbilder zu haben, doch | |
letztendlich füttern diese Dinge den Kapitalismus und nicht den politischen | |
Kampf. Und das ist nun wirklich nicht neu. | |
23 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Nichts-zu-feiern-im-Pride-Month/!5779497 | |
[2] /Doku-ueber-Billie-Eilish-bei-Apple-TV/!5749432 | |
[3] https://www.instagram.com/p/CP8kKmvrgFz/?utm_source=ig_web_copy_link | |
[4] /Letzte-Staffel-Orange-Is-the-New-Black/!5609077 | |
[5] /Queere-Ballroom-Kultur/!5633798 | |
[6] /Kolumne-Die-Couchreporter/!5567474 | |
## AUTOREN | |
Hengameh Yaghoobifarah | |
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