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# taz.de -- Kolumne Durch die Nacht: Subversiv und unverzichtbar: Tanzen
> Erst wenn in Berlin wieder getanzt werden darf, kommt die Freiheit
> wirklich zurück in diese Stadt, meint taz.berlin-Kolumnist Andreas
> Hartmann.
Bild: Lange her: Tanzende im Tresor 2007
Ein großer Tänzer bin ich nicht und nie einer gewesen. Wenn andere ihre
Körper im Einklang zur Musik geschmeidig zucken lassen, sieht das bei mir
so aus, da bin ich mir ganz sicher, wie ich mir Friedrich Merz in
Jogginghose vorstelle: irgendwie komisch.
Aber wenn ich es hinbekomme, den Gedanken auszublenden, dass gerade
wahrscheinlich alle mit dem Finger auf die traurige Gestalt zeigen, die
diese bizarr ungelenken Moves zeigt, vollführe ich meine Tanzdarstellungen
eigentlich ganz gerne. Nur ob diese auch als politisches Statement und
Ausdruck meines grenzenlosen Wunsches nach individueller Entfaltung taugen,
daran habe ich so meine Zweifel. Mit dem bisschen Geschwofe verändere ich
die Welt bestimmt nicht.
Aber vielleicht irre ich mich da auch. Denn Corona hat gezeigt: Nichts ist
bedeutender, gefährlicher, unheimlicher, radikaler und subversiver, als im
Takte von Musik seine Hüften kreisen zu lassen und mit den Armen zu rudern
wie ein Boxer beim Aufwärmen.
Es ging ja schon los in Ischgl, wo bei Après-Ski-Partys das Virus rundum
weitergereicht wurde wie ein Joint in der Kiffer-WG. Auf Aufnahmen dieser
Partys sieht man zwar Tanzende, die eher torkeln und deren
Bewegungsfreiheit vom x-ten Schnaps eingeschränkt ist, aber egal: Das Bild
vom tanzenden Coronamonster war geboren. Und wer tanzt, ist seitdem ein
niederträchtiger und verantwortungsloser Mensch, der auch Katzen zum Spaß
am Schwanz zieht. Das ging so weit, dass man darauf achten musste, nicht zu
beschwingt durch die Hasenheide zu latschen, damit es nicht gleich irgendwo
hieß: Und wieder wurde ein Tanzender gesichtet, der gegen die Hygieneregeln
verstoßen hat.
Tanzen konnte auch schon vor Corona ein politisch aufgeladener Akt sein,
dafür gibt es genügend Beispiele. Weißen Teenagern, die sich zur Race-Musik
schwarzer Künstler etwas zu ekstatisch bewegten, wurde in den USA der
fünfziger Jahre von ihren Eltern ungebührliches Verhalten vorgeworfen. Und
der in den Ballrooms New Yorks entwickelte Tanzstil des Vogueing verhalf
einer marginalisierten Gruppe schwarzer Schwuler zu mehr Selbstbewusstsein.
Aber vielleicht nirgendwo in der Welt wird dem Individualtanz so viel
Bedeutung beigemessen wie in Berlin. Millionen Tänzer und Tänzerinnen bei
der Loveparade unter der Siegesäule wurden zu Transporteuren eines neuen
Lebensgefühls erklärt. Und noch immer zieht der sogenannte „Zug der Liebe“
einmal im Jahr durch die Stadt, als angemeldete Demonstration, bei der man
auf den Straßen mindestens für den Weltfrieden tanzt.
Und nichts scheint gerade ein größeres Politikum zu sein als das anhaltende
Tanzverbot, das als Maßnahme gegen die Pandemie begründet wird. Die
Berliner Clubcommission begehrt dagegen auf, und Berlins bekanntester
Berghain-Gänger, Kultursenator Klaus Lederer, macht sich stark gegen das
Tanzverbot, das sich doch verdächtig ähnlich anhört wie „Swing tanzen
verboten“, was einem Mythos nach zur Nazizeit auf Schildern in Tanzlokalen
zu lesen gewesen sein soll.
Damit Tanzen endlich wieder erlaubt werden kann, soll an diesem Sonntag im
Revier Südost ein Rave stattfinden, bei dem sich ausdrücklich rhythmisch
bewegt werden darf, und das alles im Namen der Wissenschaft. Getestet
draußen zu tanzen ist etwas anderes als Ischgl, diese Erkenntnis soll das
Pilotprojekt möglichst liefern.
Und ab dem 18. Juni möchte Lederer das Tanzen so oder so wieder genehmigen.
Weiß er doch: Shoppen, Essen gehen, alles schön und gut, aber erst wenn in
Berlin wieder getanzt werden darf, kommt die Freiheit wirklich zurück in
diese Stadt.
Doch das Gefühl, bei zu exaltierten Körperverrenkungen sofort verhaftet zu
werden, werde ich wahrscheinlich auch nach der Aufhebung des Tanzverbots so
schnell nicht loswerden. Denn so schlecht zu tanzen wie ich, das kann
einfach nicht erlaubt sein.
13 Jun 2021
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
Kolumne Durch die Nacht
Tanzen
Kultur in Berlin
Klaus Lederer
Wochenkommentar
Techno
Clubszene
Kolumne Durch die Nacht
Schwerpunkt Rassismus
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Filmrezension
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