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# taz.de -- Medienlandschaft in der Türkei: Kein freies Wort mehr
> Die Zerstörung der türkischen Medienlandschaft geht nicht nur auf das
> Konto Erdoğans. Doch der Präsident konsolidiert seine Macht über
> Propaganda und Zensur.
Bild: Exilprotest in Hamburg am türkischen „Tag des arbeitenden Journalisten…
Was die Freiheit, Unabhängigkeit und Pluralität der Medien betrifft, so
gleicht die heutige Türkei jener infernalischen „Republik der Angst“, die
George Orwell in „1984“ ausgemalt hat, einem Land also, in dem es
gefährlich ist, auf Fakten basierende Berichte und kritische Reportagen
oder Kommentare zu publizieren.
Willkürliche Verhaftungen und kafkaeske Prozesse gegen Dissidenten,
Gefängnisstrafen für Medienschaffende und staatliche Zensurmaßnahmen sind
in der heutigen Türkei zur Normalität geworden. Zudem hat die systematische
Repression eine Kultur der Selbstzensur gefördert, sodass heute in den
allermeisten Redaktionen die Grundprinzipien des Journalismus außer Kraft
gesetzt sind.
Die NGO Freedom House führt die Türkei in seinem Pressefreiheit-Index
bereits seit 2014 als ein „nicht freies“ Land. Auf der aktuellen
[1][Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (ROG)] liegt die
Türkei unter 180 Ländern an 153. Stelle. Und die meisten Klagen, die 2020
beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung der
Meinungsfreiheit eingingen, richteten sich gegen die Türkei, die damit an
der Spitze der 47 Mitgliedstaaten des Europarats liegt.
Nach den Daten der „Platform for Independent Journalism“ (P24), einer in
Istanbul ansässigen NGO, saßen im Februar 2021 mindestens 83
Medienschaffende im Gefängnis. Das Stockholmer Center for Freedom weist für
Januar 2020 sogar 175 inhaftierte Journalisten aus; auf der polizeilichen
Fahndungsliste stehen weitere 167 Personen, die entweder im Exil oder
untergetaucht sind. Und bei fast 50 türkischen Journalisten und
Journalistinnen wurde seit Ende 2016 das persönliche Vermögen konfisziert.
## Der Präsident setzt aufs Fernsehen
Auch willkürliche Kündigungen sind eine beliebte Strafmaßnahme. In den
letzten fünf Jahren haben türkische Medienunternehmen insgesamt 3436 Leute
gefeuert. Das Thema Jobsicherheit war in der Medienindustrie seit jeher ein
notorisches Problem, zumal der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der
Branche bei lediglich 8 Prozent liegt.
Während des Ausnahmezustands, den die Regierung nach dem gescheiterten
[2][Putsch vom Juli 2016] ausgerufen hatte und der zwei Jahre lang in Kraft
blieb, wurden mindestens 189 Mediengruppen und -unternehmen (inklusive
privater Agenturen) geschlossen oder beschlagnahmt. Seitdem konnte sich
neben dem massiven Block regierungsfreundlicher Tageszeitungen nur noch
eine Handvoll „kritischer“ landesweiter Zeitungen behaupten. Allerdings
haben sie extrem niedrige Auflagen (durchschnittlich etwa 10 000) und
wachsende Finanzierungs- und Vertriebsprobleme.
Das Fernsehen stellt für Erdoğan eine stärkere Bedrohung dar als die im
Niedergang begriffenen Printmedien. Während viele ältere Menschen in der
Westtürkei noch Zeitung lesen, decken große Teile der Bevölkerung in den
östlichen Provinzen und ländlichen Gebieten ihren Bedarf an „Nachrichten
und Kommentaren“ ausschließlich und kostenlos bei den
TV-Nachrichtensendern.
Dieses TV-affine Segment macht nach Unesco-Angaben 85 bis 90 Prozent der
türkischen Gesamtbevölkerung aus. Diese Zahl dokumentiert die einzigartige
Macht des Fernsehens und erklärt, warum dieses Medium für die politischen
Machthaber so wichtig ist.
## Nachrichten verschwinden
Erdoğan ist sich voll bewusst, dass er mit der Kontrolle über die
TV-Redaktionen den gesamten politischen Willensbildungsprozess beeinflusst
und den Zugang zu kritischen Berichten und unerwünschten Meinungen
einschränken kann. Für Erdoğan hatten und haben deshalb die
TV-Nachrichtensender stets die höchste Priorität. Im Zuge seines
beispiellosen Feldzugs zur Informationskontrolle hat er mittlerweile fast
alle dieser Sender vereinnahmt. Das erklärt auch, warum sich die freie
Verbreitung von Nachrichten und Diskussionen weitgehend ins Internet und in
die sozialen Medien verlagert hat, wo öffentlicher Dissens noch zum
Ausdruck kommt.
Da die Bedeutung des Internets, insbesondere für die jungen Generationen,
auch Erdoğan und seinen Beratern klar ist, versuchen sie die Reichweite
dieses Mediums möglichst zu beschränken. Dabei haben sie auch im Auge, dass
bei den nächsten für Sommer 2023 geplanten Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen die Kohorte der unter 30-Jährigen fast die Hälfte
der Wahlberechtigten ausmachen wird.
Dies ist der Hintergrund für den ständigen Kampf gegen freien
Internetzugang, den Erdoğan und seine AKP vor etwa zehn Jahren aufgenommen
haben. Nach Angaben der türkischen NGO „Vereinigung für Meinungsfreiheit“
(İfade Özgürlüğü Derneği, İFÖD) wurde in den letzten sieben Jahren der
Zugang zu knapp 600 000 Internet-Domains und URL-Adressen, 42 000 Tweets
und 11 000 Youtube-Videos gesperrt (Stand Oktober 2020).
Seit Juli 2020 kommt auch ein neuer Strafmechanismus zum Einsatz: Die
staatlichen Behörden sperren regelmäßig den Zugriff auf bestimmte Inhalte
oder löschen diese endgültig. Das geschieht so massiv, dass viele
Nachrichten – vor allem über Korruption und Machtmissbrauch – spurlos und
für immer verschwinden. Mit anderen Worten: Das öffentliche Gedächtnis wird
systematisch gelöscht.
## Twitter im Fadenkreuz der AKP
Auch die Giganten der sozialen Medien sind ins Fadenkreuz geraten; speziell
Twitter, weil das Unternehmen sich geweigert hat, Vertretungsbüros in der
Türkei zu eröffnen, wie es ein neues Gesetz verlangt, in dem viele einen
Schritt zur Zwangszensur ansehen. Seit April 2021 müssen Unternehmen, die
der Forderung nicht nachkommen, mit erheblichen Geldstrafen rechnen.
Mit ihrer ultraautoritären Politik haben Erdoğan und seine Partei ein
vielschichtiges Zensursystem etabliert. Zusammen mit den etappenweisen
radikalen Veränderungen der Besitzverhältnisse in der gesamten
Medienlandschaft ist so eine kompakte Propagandamaschine entstanden. In
diesem Sinne wurden auch die bestehenden Regularien geändert und insgesamt
vier neue Instrumente zur Kontrolle der sozialen Medien geschaffen.
Das wichtigste unter ihnen ist das „Direktorat für Kommunikation“ (TIB),
das im Juli 2018, genau zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch,
eingerichtet wurde. Das TIB funktioniert als Unterabteilung des „Palastes“
und sein Präsident ist Erdoğan gegenüber direkt verantwortlich. Die immer
weiter expandierende Behörde, die mit ihren rund 1500 Angestellten ein
30-stöckiges Hochhaus im Zentrum Ankaras belegt, ist von der
Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament ausgenommen. Die Hauptaufgabe
des TIB besteht darin, das gesamte Spektrum der Print- und der
audiovisuellen Medien tagtäglich zu überwachen und gegen Inhalte
einzuschreiten, wenn immer es geboten scheint.
Das TIB ist auch für die Ausgabe der offiziellen „nationalen
Presseausweise“ an türkische Journalisten zuständig, ebenso wie für die
Akkreditierung ausländischer Korrespondenten. Die Vergabe läuft häufig nach
dem Prinzip „Belohnung oder Strafe“, je nachdem wie gefällig oder kritisch
die jeweiligen Journalisten oder Korrespondentinnen berichten. In den
letzten Jahren hat das TIB die Vergabe eines Presseausweises auch ganz
verweigert, wenn die Ansichten oder die ethnische Herkunft (etwa die
kurdische) des Antragstellers nicht genehm waren. Und vor kurzem kam
heraus, dass der TIB-Präsident den TV-Sendern eine Liste von Experten
übermittelt hat, die „für den Auftritt in Talkrunden zugelassen“ sind.
## Friedensrichter von Erdoğans Segen
Das zweite Kontrollinstrument ist der „Oberste Rundfunk- und Fernsehrat“
(RTÜK), dessen Funktion als unabhängige Regulierungsinstanz nur auf dem
Papier steht. Die neun Mitglieder des RTÜK werden von den politischen
Parteien gemäß der Stärke ihrer Parlamentsfraktionen nominiert. Die
Mehrheit in dem Gremium stellen also die herrschende AKP und ihr
Regierungspartner, die nationalistische MHP. Diese Mehrheit missbraucht
ihre Macht, indem sie die Vergabe von Sendelizenzen an „oppositionelle
Medien“ verweigert oder endlos verzögert. Der RTÜK erlässt auch
Publikationsverbote und „gag orders“ für TV-Sender und auch digitale
Streaming-Anbieter wie Netflix. Bei Ausstrahlung kritischer Inhalte kann
der Rat Sendeverbote für mehrere Tage verhängen.
Das dritte Instrument ist die „Informations- und
Kommunikationstechnologie-Behörde“ (BTK), die dem Transport- und
Infrastrukturministerium untersteht. Schon 2000 unter der Regierung Ecevit
gegründet, war sie schon damals Produkt einer gewissen Zensurmentalität.
Seitdem wurde sie mehrmals auf eine Weise umgemodelt, die der konservativen
Entwicklung und der wachsenden Intoleranz der politischen Klasse entsprach.
In ihrer heutigen Verfassung überwacht die BTK den gesamten Bereich des
Internets und der sozialen Medien. Sie kann willkürlich Verbote und
Einschränkungen verhängen, wobei bestimmte Fälle vor ein „Friedensgericht�…
kommen, dessen Richter im Einvernehmen mit dem Präsidentenpalast ernannt
werden. Dank ihrer wachsenden Macht greift die BTK immer tiefer in die
digitale Domäne ein und zielt besonders auf diejenigen sozialen Medien, die
für das Erdoğan-Regime gefährlich werden könnten.
Als viertes Instrument ist die staatliche Werbeagentur BIK zu nennen, die
für die amtlichen Mitteilungen und Anzeigen von Behörden und staatlichen
Institutionen in der Printpresse zuständig ist. Seit dem Putschversuch von
2016 werden die verbliebenen kritischen Presseorgane und die Zeitungen
oppositioneller Parteien von der Vergabe staatlicher Anzeigen systematisch
ausgeschlossen.
## Notorisch korrupte Medienmogule
Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Einschätzung geht die Zerstörung
der türkischen Medienlandschaft nicht ausschließlich auf das Konto von
Erdoğan. Denn als der an die Macht kam, war die journalistische Szene
bereits stark geschwächt und konnte den massiven Eingriffen und
Manipulationen wenig entgegensetzen.
Erdoğan wusste Bescheid über die zutiefst korrupte Mentalität der
Medienbesitzer und deren notorisch schmutzige Geschäfte mit früheren
Regierungen; desgleichen über die Zustände in der journalistischen Zunft,
die durch innere Polarisierung, ideologisch aufgeheizte Grabenkämpfe und
das Fehlen jeglicher Gruppensolidarität gekennzeichnet war.
Bis zu Beginn der 1990er Jahre hatte der stramm kontrollierte staatliche
Fernsehsender TRT (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) keinerlei
Konkurrenz. Die einflussreichen Tageszeitungen (Hürriyet, Milliyet, Dünya)
waren im Besitz traditioneller Verlegerfamilien oder wurden – wie etwa
Cumhuriyet – von Stiftungen getragen.
Diese Publikationsorgane hatten die nationalistische Ideologie weitgehend
internalisiert: Man respektierte die nationalen Tabus und praktizierte eine
Selbstzensur bei „sensiblen“ Themen wie der kurdischen oder armenischen
Frage und generell beim Thema Außenpolitik.
## Geschäftsleute als Zeitungsmacher
Die Deregulierung des Medienmarkts in den frühen 1990ern hat diesen Zustand
dramatisch verändert. Mit der Zulassung von privaten Radio- und
Fernsehsendern konnten etliche Geschäftsleute, die in wichtigen
Wirtschaftssektoren engagiert waren, auf den Medienmarkt vordringen.
Das war für diese Leute allerdings, wie sich alsbald zeigte, nur eine
weitere Methode, um große Gewinne einzustreichen. Die Macht der privaten
Medien verschaffte ihnen immer mehr Einfluss auf die Regierungen. Und dank
dieser neu entdeckten Macht konnten sie öffentliche Ausschreibungen
gewinnen und sich finanzielle Vergünstigungen sichern, die ihnen eine
Ausweitung ihrer vielfältigen unternehmerischen Aktivitäten ermöglichte.
Keiner dieser Newcomer brachte irgendwelche Erfahrungen oder Kenntnisse
über Journalismus und dessen besondere gesellschaftliche Rolle mit. Und so
kam es, wie es kommen musste: Die geschäftlichen Interessen der neuen
Medieneigentümer erweiterten das System der Selbstzensur. Und die Inhalte,
die diese Medien verbreiteten, wurden nicht durch journalistische Faktoren
bestimmt, sondern durch Hinterzimmer-Absprachen mit der Regierung und der
Bürokratie. Die wechselseitigen Korrumpierung der politischen Klasse und
der Medienmogule wurde am Ende so selbstverständlich, dass ihre Beziehung
zur Illustration des Henne-oder-Ei-Problems taugen könnte.
Als die Türkei dann aber Ende der 1990er Jahre von einer schweren
Wirtschaftskrise erschüttert wurde, lag nicht nur das politische System,
sondern auch der gesamte Mediensektor in Trümmern. Viele große
Mediengruppen waren am Ende, darunter einige besonders skrupellose, die
sogar ihre eigenen Banken betrieben. Ihre Eigentümer landeten im Gefängnis
oder gingen in Konkurs.
## Kurzer Frühling der Freiheit
Als die AKP 2002 an die Macht kam, fand sie einen angeschlagenen und
diskreditierten Mediensektor vor, der zur Manipulationen geradezu einlud.
Ermutigt durch eine Serie von Übernahmen und Aufkäufen, ging Erdoğan daran,
seine eigene Fraktion islamistisch-konservativer Unternehmer hochzupäppeln,
von denen einige AKP-freundliche Medien betrieben.
Von 2002 bis 2010 erlebten die türkischen Medien einen kurzfristigen
Frühling. Den verdankten sie zum Teil dem Bankrott der korrupten
Medieneigentümer, vor allem aber den Reformen der AKP-Regierung, die mit
Blick auf die EU-Beitrittsperspektive den Raum für mehr Freiheit,
Unabhängigkeit und Pluralität der Medien schufen. Es war eine Zeit, in der
Tabus fielen und die Bandbreite öffentlicher Diskussionen durch die
Angebote konkurrierender Nachrichtensender erweitert wurde. Eine Zeit lang
sah es so aus, als würde sich die Türkei auf demokratische Verhältnisse
zubewegen.
Doch das war schnell vorbei. Spätestens 2011 wurde klar, dass Erdoğan eine
Einmannherrschaft anstrebte. Der Weg dahin führte über vier wichtige
Zwischenetappen: Er musste seine Rivalen innerhalb der AKP beseitigen; er
musste die [3][Gülen-Bewegung] loswerden, die ihm bis dahin ein nützliches
Fußvolk von Mitläufern gestellt hatte; er musste die volle Kontrolle über
die Medien erobern; und zu gegebener Zeit auch über die Justiz.
Die Demontage der journalistischen Standards und die Transformation der
schon vorher problematischen Eigentümerstrukturen im privaten Mediensektor
begann Mitte 2013 im Gefolge der [4][Gezi-Proteste] und dauert bis heute
an. Zunächst nahm Erdoğan drei große Mediengruppen und ihre Eigentümer ins
Visier: die Ciner-Gruppe, deren Besitzer vor allem im Bergbau- und
Energiesektor engagiert war, die Doğuş-Gruppe des Unternehmers Ferit Şahenk
und die Doğan-Media-Gruppe.
## Gezi und die Folgen
Seit dem 27. Mai 2013, dem ersten Tag der Gezi-Proteste, war Erdoğan
persönlich bemüht, die Kontrolle über die Redaktionen zu gewinnen. Er rief
bei den einflussreichen TV-Kanälen an – und setzte sich durch: Alle
Eigentümer waren von finanziellen Vergünstigungen der Regierung abhängig
und knickten sofort ein.
Von da an wusste Erdoğan, dass er sich auf Ciner und Şahenk verlassen
konnte, ebenso wie auf deren populäre Nachrichtensender Haberturk TV und
NTV. Nicht so sicher konnte er auf zwei andere Medienkonzerne zählen: Zum
einen die Doğan-Media-Gruppe, ein riesiges Reich von mehreren TV-Sendern
und Zeitungen, die mit ihren Auflagen den Markt der Printmedien
dominierten. Und zum anderen die Zaman-Gruppe und die Koza-Holding.
Seine Abneigung gegen Aydın Doğan hat Erdoğan nie verbergen können, denn
dessen Medien hatten seinen Aufstieg an die Spitze des Staats entschieden
bekämpft. In den 1990er Jahren galt der Mogul als „Königsmacher“, der üb…
seine Medien erheblichen Einfluss ausübte. In dieser Rolle sah sich Doğan
selbst dann noch, als Erdoğan im März 2003 Ministerpräsident einer
Einparteienregierung wurde, die über die absolute Mehrheit in der
Nationalversammlung verfügte.
Der große Showdown schien unvermeidlich. Er kam 2005, als die Doğan-Medien
einen Spendenbetrugsskandal um die AKP-nahe islamische Hilfsorganisation
„Deniz Feneri“ (Leuchtturm) zu einem großen Thema machte. Doch Erdoğan
schaffte es dank seiner wachsenden Medienmacht, die Auswirkungen des
Skandals einzudämmen. Dabei machte er sich juristische Verfehlungen Doğans
zunutze, indem er dessen Mediengruppe deftige Bußgelder androhte. Die
Botschaft kam an: Der Mogul steckte zurück und die Selbstzensur in seinen
Medien nahm zu.
## Der Fall Milliyet
2011 ging Erdoğan einen Schritt weiter. Doğan wurde gezwungen, mit der
Tageszeitung Milliyet sein wichtigstes Medium an die Familie Demirören zu
verkaufen, von der man weiß, dass sie Erdoğan hörig ist. Kurz nach der
Übernahme wurden viele Milliyet-Redakteure und -Kolumnisten gefeuert. Doch
der entscheidende Schlag gegen Doğan ließ noch bis 2018 auf sich warten.
Dazu weiter unten mehr.
Die Zaman-Gruppe und die Koza Holding besetzten das andere Ende des
politischen Spektrums: Beide waren mit dem Prediger Fethullah Gülen
assoziiert, dem Oberhaupt einer weit verzweigten islamischen Bewegung, die
viele ihrer Anhänger im Staatsapparat und in der Justiz untergebracht
hatte. Und zwar mit Unterstützung Erdoğans, der seit Beginn der
AKP-Herrschaft ein politisches Bündnis mit Gülen eingegangen war, weshalb
die von ihm kontrollierten Mediengruppen die Erdoğan-Regierung in den
ersten Jahren rückhaltlos unterstützten.
Doch das Bündnis Erdoğan/Gülen wurde durch gegenseitiges Misstrauen
ausgehöhlt: Beide Männer vertraten in einigen innen- und außenpolitischen
Fragen unterschiedliche Positionen, obwohl beide aus demselben tief
religiösen Segment der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft stammen.
Der endgültige Bruch erfolgte Ende 2013. Auslöser waren zwei juristische
Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Machtmissbrauch unter der
Erdoğan-Regierung. Das erste betraf die Umgehung der Sanktionen gegen Iran
durch türkische Banken, das zweite undurchsichtige Kontakte mit al-Qaida.
Beide Geschichten schlugen wie eine Bombe ein. In den Medien waren die
Ermittlungen das große Thema, wobei sich die Gülen-Zeitungen besonders ins
Zeug legten.
## Erzfeind Gülen
Allerdings war die Gülen-Bewegung der türkischen Gesellschaft mittlerweile
so suspekt, ja geradezu verhasst, dass sie politisch isoliert und damit
angreifbar wurde. Als dann die übrigen Medien aus taktischen und
ideologischen Gründen aufhörten, umfangreich über die Skandale zu
berichten, war dies für Erdoğan ein „Geschenk Gottes“. Er verfolgte
weiterhin das Ziel, die traditionellen wie die digitalen Medien einer
Zensur zu unterwerfen, vollzog zugleich aber einen strategischen Schwenk
und schmiedete ein politisches Bündnis mit seinen ehemaligen Feinden: dem
kemalistischen und dem ultranationalistischen Lager.
Da Erdoğans Erzfeind nunmehr Gülen hieß, war es nur logisch, ein Bündnis
mit dessen Feinden zu schmieden. Ab 2014 war Erdoğans zentrales Ziel die
Zerschlagung der gülenistischen Medien. Dabei war ihm bewusst, dass seine
neuen Verbündeten (die alten Feinde) sich damit nicht begnügen würden. Denn
die säkularen Nationalisten hatten es auch auf die verhassten liberalen,
pazifistischen und prokurdischen Medien abgesehen. Die Anti-Gülen-Kampagne
ging also einher mit der Einebnung der gesamten Medienlandschaft, mit der
Folge, dass seitdem auch verschiedene Segmente der kritischen Medien
abgeräumt wurden.
Dann kam der 16. Juli 2016, der Erdoğan sein zweites und ultimatives
„Gottesgeschenk“ bescherte. Nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs
konnte er zum „Gnadenstoß“ ansetzen und mittels Dekreten und personellen
Umbesetzungen sowohl die Medien als auch die Justiz gefügig machen. Mit der
Schließung kritischer Medien wurden häufig auch deren digitale Archive für
immer gelöscht.
Nachdem der Autokrat im April 2017 mittels eines Verfassungsreferendums ein
„Super-Präsidialsystem“ etabliert hatte, stand seinem Ziel nur noch ein
Hindernis im Weg: die Doğan-Media-Gruppe. Zu ihr gehörten zwei
einflussreiche Fernsehsender und die führende Tageszeitung Hürriyet, die
hohe Werbeeinnahmen erzielte, da ihre Auflage rund 40 Prozent der gesamten
türkischen Printauflage ausmachte.
## Hürriyet in AKP-Hand
Politisch und finanziell unter Druck gesetzt, musste Aydin Doğan am Ende
kapitulieren. Seine Mediengruppe, deren politische Einschätzungen und
Bewertungen die öffentliche Meinungsbildung und die türkische Innenpolitik
über Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst hatte, wurde 2018 an die AKP-nahe
Familie Demirören verkauft.
Was zurückbleibt, ist eine verwüstete türkische Medienlandschaft und ein
Journalismus, der ums Überleben kämpft. Heute wird das ganze Land
systematisch falsch informiert oder ganz im Dunkeln gelassen. Eine
pluralistische öffentliche Debatte findet praktisch nicht mehr statt. Und
die Propaganda- und Medienmaschinerie des Regimes hat den Aufstieg eines
offensiven Nationalismus und eines aggressiven Islamismus gefördert.
Nachdem Erdoğan die traditionellen Medien zerstört hat, treibt er den
Onlinejournalismus und die sozialen Medien immer weiter in die Enge. Sein
rastloser Kampf richtet sich gegen einen ehrenwerten Beruf, der
unverzichtbar ist. Jedenfalls dann, wenn es in der Türkei auch künftig noch
eine demokratische Opposition geben soll – und eine Basis, von der aus die
Gesellschaft zur Demokratie zurückfinden kann.
Allerdings scheinen die Aussichten auf eine solche demokratische
Entwicklung zunehmend düster.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Dieser Text erschien zuerst in der Edition Le Monde diplomatique, No. 29. ©
LMd, Berlin
24 May 2021
## LINKS
[1] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2021
[2] /Tuerkei-Putsch/!5327477
[3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5630535
[4] /Kommentar-Proteste-in-der-Tuerkei/!5062772
## AUTOREN
Yavuz Baydar
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