# taz.de -- Medienlandschaft in der Türkei: Kein freies Wort mehr | |
> Die Zerstörung der türkischen Medienlandschaft geht nicht nur auf das | |
> Konto Erdoğans. Doch der Präsident konsolidiert seine Macht über | |
> Propaganda und Zensur. | |
Bild: Exilprotest in Hamburg am türkischen „Tag des arbeitenden Journalisten… | |
Was die Freiheit, Unabhängigkeit und Pluralität der Medien betrifft, so | |
gleicht die heutige Türkei jener infernalischen „Republik der Angst“, die | |
George Orwell in „1984“ ausgemalt hat, einem Land also, in dem es | |
gefährlich ist, auf Fakten basierende Berichte und kritische Reportagen | |
oder Kommentare zu publizieren. | |
Willkürliche Verhaftungen und kafkaeske Prozesse gegen Dissidenten, | |
Gefängnisstrafen für Medienschaffende und staatliche Zensurmaßnahmen sind | |
in der heutigen Türkei zur Normalität geworden. Zudem hat die systematische | |
Repression eine Kultur der Selbstzensur gefördert, sodass heute in den | |
allermeisten Redaktionen die Grundprinzipien des Journalismus außer Kraft | |
gesetzt sind. | |
Die NGO Freedom House führt die Türkei in seinem Pressefreiheit-Index | |
bereits seit 2014 als ein „nicht freies“ Land. Auf der aktuellen | |
[1][Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (ROG)] liegt die | |
Türkei unter 180 Ländern an 153. Stelle. Und die meisten Klagen, die 2020 | |
beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung der | |
Meinungsfreiheit eingingen, richteten sich gegen die Türkei, die damit an | |
der Spitze der 47 Mitgliedstaaten des Europarats liegt. | |
Nach den Daten der „Platform for Independent Journalism“ (P24), einer in | |
Istanbul ansässigen NGO, saßen im Februar 2021 mindestens 83 | |
Medienschaffende im Gefängnis. Das Stockholmer Center for Freedom weist für | |
Januar 2020 sogar 175 inhaftierte Journalisten aus; auf der polizeilichen | |
Fahndungsliste stehen weitere 167 Personen, die entweder im Exil oder | |
untergetaucht sind. Und bei fast 50 türkischen Journalisten und | |
Journalistinnen wurde seit Ende 2016 das persönliche Vermögen konfisziert. | |
## Der Präsident setzt aufs Fernsehen | |
Auch willkürliche Kündigungen sind eine beliebte Strafmaßnahme. In den | |
letzten fünf Jahren haben türkische Medienunternehmen insgesamt 3436 Leute | |
gefeuert. Das Thema Jobsicherheit war in der Medienindustrie seit jeher ein | |
notorisches Problem, zumal der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der | |
Branche bei lediglich 8 Prozent liegt. | |
Während des Ausnahmezustands, den die Regierung nach dem gescheiterten | |
[2][Putsch vom Juli 2016] ausgerufen hatte und der zwei Jahre lang in Kraft | |
blieb, wurden mindestens 189 Mediengruppen und -unternehmen (inklusive | |
privater Agenturen) geschlossen oder beschlagnahmt. Seitdem konnte sich | |
neben dem massiven Block regierungsfreundlicher Tageszeitungen nur noch | |
eine Handvoll „kritischer“ landesweiter Zeitungen behaupten. Allerdings | |
haben sie extrem niedrige Auflagen (durchschnittlich etwa 10 000) und | |
wachsende Finanzierungs- und Vertriebsprobleme. | |
Das Fernsehen stellt für Erdoğan eine stärkere Bedrohung dar als die im | |
Niedergang begriffenen Printmedien. Während viele ältere Menschen in der | |
Westtürkei noch Zeitung lesen, decken große Teile der Bevölkerung in den | |
östlichen Provinzen und ländlichen Gebieten ihren Bedarf an „Nachrichten | |
und Kommentaren“ ausschließlich und kostenlos bei den | |
TV-Nachrichtensendern. | |
Dieses TV-affine Segment macht nach Unesco-Angaben 85 bis 90 Prozent der | |
türkischen Gesamtbevölkerung aus. Diese Zahl dokumentiert die einzigartige | |
Macht des Fernsehens und erklärt, warum dieses Medium für die politischen | |
Machthaber so wichtig ist. | |
## Nachrichten verschwinden | |
Erdoğan ist sich voll bewusst, dass er mit der Kontrolle über die | |
TV-Redaktionen den gesamten politischen Willensbildungsprozess beeinflusst | |
und den Zugang zu kritischen Berichten und unerwünschten Meinungen | |
einschränken kann. Für Erdoğan hatten und haben deshalb die | |
TV-Nachrichtensender stets die höchste Priorität. Im Zuge seines | |
beispiellosen Feldzugs zur Informationskontrolle hat er mittlerweile fast | |
alle dieser Sender vereinnahmt. Das erklärt auch, warum sich die freie | |
Verbreitung von Nachrichten und Diskussionen weitgehend ins Internet und in | |
die sozialen Medien verlagert hat, wo öffentlicher Dissens noch zum | |
Ausdruck kommt. | |
Da die Bedeutung des Internets, insbesondere für die jungen Generationen, | |
auch Erdoğan und seinen Beratern klar ist, versuchen sie die Reichweite | |
dieses Mediums möglichst zu beschränken. Dabei haben sie auch im Auge, dass | |
bei den nächsten für Sommer 2023 geplanten Parlaments- und | |
Präsidentschaftswahlen die Kohorte der unter 30-Jährigen fast die Hälfte | |
der Wahlberechtigten ausmachen wird. | |
Dies ist der Hintergrund für den ständigen Kampf gegen freien | |
Internetzugang, den Erdoğan und seine AKP vor etwa zehn Jahren aufgenommen | |
haben. Nach Angaben der türkischen NGO „Vereinigung für Meinungsfreiheit“ | |
(İfade Özgürlüğü Derneği, İFÖD) wurde in den letzten sieben Jahren der | |
Zugang zu knapp 600 000 Internet-Domains und URL-Adressen, 42 000 Tweets | |
und 11 000 Youtube-Videos gesperrt (Stand Oktober 2020). | |
Seit Juli 2020 kommt auch ein neuer Strafmechanismus zum Einsatz: Die | |
staatlichen Behörden sperren regelmäßig den Zugriff auf bestimmte Inhalte | |
oder löschen diese endgültig. Das geschieht so massiv, dass viele | |
Nachrichten – vor allem über Korruption und Machtmissbrauch – spurlos und | |
für immer verschwinden. Mit anderen Worten: Das öffentliche Gedächtnis wird | |
systematisch gelöscht. | |
## Twitter im Fadenkreuz der AKP | |
Auch die Giganten der sozialen Medien sind ins Fadenkreuz geraten; speziell | |
Twitter, weil das Unternehmen sich geweigert hat, Vertretungsbüros in der | |
Türkei zu eröffnen, wie es ein neues Gesetz verlangt, in dem viele einen | |
Schritt zur Zwangszensur ansehen. Seit April 2021 müssen Unternehmen, die | |
der Forderung nicht nachkommen, mit erheblichen Geldstrafen rechnen. | |
Mit ihrer ultraautoritären Politik haben Erdoğan und seine Partei ein | |
vielschichtiges Zensursystem etabliert. Zusammen mit den etappenweisen | |
radikalen Veränderungen der Besitzverhältnisse in der gesamten | |
Medienlandschaft ist so eine kompakte Propagandamaschine entstanden. In | |
diesem Sinne wurden auch die bestehenden Regularien geändert und insgesamt | |
vier neue Instrumente zur Kontrolle der sozialen Medien geschaffen. | |
Das wichtigste unter ihnen ist das „Direktorat für Kommunikation“ (TIB), | |
das im Juli 2018, genau zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch, | |
eingerichtet wurde. Das TIB funktioniert als Unterabteilung des „Palastes“ | |
und sein Präsident ist Erdoğan gegenüber direkt verantwortlich. Die immer | |
weiter expandierende Behörde, die mit ihren rund 1500 Angestellten ein | |
30-stöckiges Hochhaus im Zentrum Ankaras belegt, ist von der | |
Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament ausgenommen. Die Hauptaufgabe | |
des TIB besteht darin, das gesamte Spektrum der Print- und der | |
audiovisuellen Medien tagtäglich zu überwachen und gegen Inhalte | |
einzuschreiten, wenn immer es geboten scheint. | |
Das TIB ist auch für die Ausgabe der offiziellen „nationalen | |
Presseausweise“ an türkische Journalisten zuständig, ebenso wie für die | |
Akkreditierung ausländischer Korrespondenten. Die Vergabe läuft häufig nach | |
dem Prinzip „Belohnung oder Strafe“, je nachdem wie gefällig oder kritisch | |
die jeweiligen Journalisten oder Korrespondentinnen berichten. In den | |
letzten Jahren hat das TIB die Vergabe eines Presseausweises auch ganz | |
verweigert, wenn die Ansichten oder die ethnische Herkunft (etwa die | |
kurdische) des Antragstellers nicht genehm waren. Und vor kurzem kam | |
heraus, dass der TIB-Präsident den TV-Sendern eine Liste von Experten | |
übermittelt hat, die „für den Auftritt in Talkrunden zugelassen“ sind. | |
## Friedensrichter von Erdoğans Segen | |
Das zweite Kontrollinstrument ist der „Oberste Rundfunk- und Fernsehrat“ | |
(RTÜK), dessen Funktion als unabhängige Regulierungsinstanz nur auf dem | |
Papier steht. Die neun Mitglieder des RTÜK werden von den politischen | |
Parteien gemäß der Stärke ihrer Parlamentsfraktionen nominiert. Die | |
Mehrheit in dem Gremium stellen also die herrschende AKP und ihr | |
Regierungspartner, die nationalistische MHP. Diese Mehrheit missbraucht | |
ihre Macht, indem sie die Vergabe von Sendelizenzen an „oppositionelle | |
Medien“ verweigert oder endlos verzögert. Der RTÜK erlässt auch | |
Publikationsverbote und „gag orders“ für TV-Sender und auch digitale | |
Streaming-Anbieter wie Netflix. Bei Ausstrahlung kritischer Inhalte kann | |
der Rat Sendeverbote für mehrere Tage verhängen. | |
Das dritte Instrument ist die „Informations- und | |
Kommunikationstechnologie-Behörde“ (BTK), die dem Transport- und | |
Infrastrukturministerium untersteht. Schon 2000 unter der Regierung Ecevit | |
gegründet, war sie schon damals Produkt einer gewissen Zensurmentalität. | |
Seitdem wurde sie mehrmals auf eine Weise umgemodelt, die der konservativen | |
Entwicklung und der wachsenden Intoleranz der politischen Klasse entsprach. | |
In ihrer heutigen Verfassung überwacht die BTK den gesamten Bereich des | |
Internets und der sozialen Medien. Sie kann willkürlich Verbote und | |
Einschränkungen verhängen, wobei bestimmte Fälle vor ein „Friedensgericht�… | |
kommen, dessen Richter im Einvernehmen mit dem Präsidentenpalast ernannt | |
werden. Dank ihrer wachsenden Macht greift die BTK immer tiefer in die | |
digitale Domäne ein und zielt besonders auf diejenigen sozialen Medien, die | |
für das Erdoğan-Regime gefährlich werden könnten. | |
Als viertes Instrument ist die staatliche Werbeagentur BIK zu nennen, die | |
für die amtlichen Mitteilungen und Anzeigen von Behörden und staatlichen | |
Institutionen in der Printpresse zuständig ist. Seit dem Putschversuch von | |
2016 werden die verbliebenen kritischen Presseorgane und die Zeitungen | |
oppositioneller Parteien von der Vergabe staatlicher Anzeigen systematisch | |
ausgeschlossen. | |
## Notorisch korrupte Medienmogule | |
Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Einschätzung geht die Zerstörung | |
der türkischen Medienlandschaft nicht ausschließlich auf das Konto von | |
Erdoğan. Denn als der an die Macht kam, war die journalistische Szene | |
bereits stark geschwächt und konnte den massiven Eingriffen und | |
Manipulationen wenig entgegensetzen. | |
Erdoğan wusste Bescheid über die zutiefst korrupte Mentalität der | |
Medienbesitzer und deren notorisch schmutzige Geschäfte mit früheren | |
Regierungen; desgleichen über die Zustände in der journalistischen Zunft, | |
die durch innere Polarisierung, ideologisch aufgeheizte Grabenkämpfe und | |
das Fehlen jeglicher Gruppensolidarität gekennzeichnet war. | |
Bis zu Beginn der 1990er Jahre hatte der stramm kontrollierte staatliche | |
Fernsehsender TRT (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) keinerlei | |
Konkurrenz. Die einflussreichen Tageszeitungen (Hürriyet, Milliyet, Dünya) | |
waren im Besitz traditioneller Verlegerfamilien oder wurden – wie etwa | |
Cumhuriyet – von Stiftungen getragen. | |
Diese Publikationsorgane hatten die nationalistische Ideologie weitgehend | |
internalisiert: Man respektierte die nationalen Tabus und praktizierte eine | |
Selbstzensur bei „sensiblen“ Themen wie der kurdischen oder armenischen | |
Frage und generell beim Thema Außenpolitik. | |
## Geschäftsleute als Zeitungsmacher | |
Die Deregulierung des Medienmarkts in den frühen 1990ern hat diesen Zustand | |
dramatisch verändert. Mit der Zulassung von privaten Radio- und | |
Fernsehsendern konnten etliche Geschäftsleute, die in wichtigen | |
Wirtschaftssektoren engagiert waren, auf den Medienmarkt vordringen. | |
Das war für diese Leute allerdings, wie sich alsbald zeigte, nur eine | |
weitere Methode, um große Gewinne einzustreichen. Die Macht der privaten | |
Medien verschaffte ihnen immer mehr Einfluss auf die Regierungen. Und dank | |
dieser neu entdeckten Macht konnten sie öffentliche Ausschreibungen | |
gewinnen und sich finanzielle Vergünstigungen sichern, die ihnen eine | |
Ausweitung ihrer vielfältigen unternehmerischen Aktivitäten ermöglichte. | |
Keiner dieser Newcomer brachte irgendwelche Erfahrungen oder Kenntnisse | |
über Journalismus und dessen besondere gesellschaftliche Rolle mit. Und so | |
kam es, wie es kommen musste: Die geschäftlichen Interessen der neuen | |
Medieneigentümer erweiterten das System der Selbstzensur. Und die Inhalte, | |
die diese Medien verbreiteten, wurden nicht durch journalistische Faktoren | |
bestimmt, sondern durch Hinterzimmer-Absprachen mit der Regierung und der | |
Bürokratie. Die wechselseitigen Korrumpierung der politischen Klasse und | |
der Medienmogule wurde am Ende so selbstverständlich, dass ihre Beziehung | |
zur Illustration des Henne-oder-Ei-Problems taugen könnte. | |
Als die Türkei dann aber Ende der 1990er Jahre von einer schweren | |
Wirtschaftskrise erschüttert wurde, lag nicht nur das politische System, | |
sondern auch der gesamte Mediensektor in Trümmern. Viele große | |
Mediengruppen waren am Ende, darunter einige besonders skrupellose, die | |
sogar ihre eigenen Banken betrieben. Ihre Eigentümer landeten im Gefängnis | |
oder gingen in Konkurs. | |
## Kurzer Frühling der Freiheit | |
Als die AKP 2002 an die Macht kam, fand sie einen angeschlagenen und | |
diskreditierten Mediensektor vor, der zur Manipulationen geradezu einlud. | |
Ermutigt durch eine Serie von Übernahmen und Aufkäufen, ging Erdoğan daran, | |
seine eigene Fraktion islamistisch-konservativer Unternehmer hochzupäppeln, | |
von denen einige AKP-freundliche Medien betrieben. | |
Von 2002 bis 2010 erlebten die türkischen Medien einen kurzfristigen | |
Frühling. Den verdankten sie zum Teil dem Bankrott der korrupten | |
Medieneigentümer, vor allem aber den Reformen der AKP-Regierung, die mit | |
Blick auf die EU-Beitrittsperspektive den Raum für mehr Freiheit, | |
Unabhängigkeit und Pluralität der Medien schufen. Es war eine Zeit, in der | |
Tabus fielen und die Bandbreite öffentlicher Diskussionen durch die | |
Angebote konkurrierender Nachrichtensender erweitert wurde. Eine Zeit lang | |
sah es so aus, als würde sich die Türkei auf demokratische Verhältnisse | |
zubewegen. | |
Doch das war schnell vorbei. Spätestens 2011 wurde klar, dass Erdoğan eine | |
Einmannherrschaft anstrebte. Der Weg dahin führte über vier wichtige | |
Zwischenetappen: Er musste seine Rivalen innerhalb der AKP beseitigen; er | |
musste die [3][Gülen-Bewegung] loswerden, die ihm bis dahin ein nützliches | |
Fußvolk von Mitläufern gestellt hatte; er musste die volle Kontrolle über | |
die Medien erobern; und zu gegebener Zeit auch über die Justiz. | |
Die Demontage der journalistischen Standards und die Transformation der | |
schon vorher problematischen Eigentümerstrukturen im privaten Mediensektor | |
begann Mitte 2013 im Gefolge der [4][Gezi-Proteste] und dauert bis heute | |
an. Zunächst nahm Erdoğan drei große Mediengruppen und ihre Eigentümer ins | |
Visier: die Ciner-Gruppe, deren Besitzer vor allem im Bergbau- und | |
Energiesektor engagiert war, die Doğuş-Gruppe des Unternehmers Ferit Şahenk | |
und die Doğan-Media-Gruppe. | |
## Gezi und die Folgen | |
Seit dem 27. Mai 2013, dem ersten Tag der Gezi-Proteste, war Erdoğan | |
persönlich bemüht, die Kontrolle über die Redaktionen zu gewinnen. Er rief | |
bei den einflussreichen TV-Kanälen an – und setzte sich durch: Alle | |
Eigentümer waren von finanziellen Vergünstigungen der Regierung abhängig | |
und knickten sofort ein. | |
Von da an wusste Erdoğan, dass er sich auf Ciner und Şahenk verlassen | |
konnte, ebenso wie auf deren populäre Nachrichtensender Haberturk TV und | |
NTV. Nicht so sicher konnte er auf zwei andere Medienkonzerne zählen: Zum | |
einen die Doğan-Media-Gruppe, ein riesiges Reich von mehreren TV-Sendern | |
und Zeitungen, die mit ihren Auflagen den Markt der Printmedien | |
dominierten. Und zum anderen die Zaman-Gruppe und die Koza-Holding. | |
Seine Abneigung gegen Aydın Doğan hat Erdoğan nie verbergen können, denn | |
dessen Medien hatten seinen Aufstieg an die Spitze des Staats entschieden | |
bekämpft. In den 1990er Jahren galt der Mogul als „Königsmacher“, der üb… | |
seine Medien erheblichen Einfluss ausübte. In dieser Rolle sah sich Doğan | |
selbst dann noch, als Erdoğan im März 2003 Ministerpräsident einer | |
Einparteienregierung wurde, die über die absolute Mehrheit in der | |
Nationalversammlung verfügte. | |
Der große Showdown schien unvermeidlich. Er kam 2005, als die Doğan-Medien | |
einen Spendenbetrugsskandal um die AKP-nahe islamische Hilfsorganisation | |
„Deniz Feneri“ (Leuchtturm) zu einem großen Thema machte. Doch Erdoğan | |
schaffte es dank seiner wachsenden Medienmacht, die Auswirkungen des | |
Skandals einzudämmen. Dabei machte er sich juristische Verfehlungen Doğans | |
zunutze, indem er dessen Mediengruppe deftige Bußgelder androhte. Die | |
Botschaft kam an: Der Mogul steckte zurück und die Selbstzensur in seinen | |
Medien nahm zu. | |
## Der Fall Milliyet | |
2011 ging Erdoğan einen Schritt weiter. Doğan wurde gezwungen, mit der | |
Tageszeitung Milliyet sein wichtigstes Medium an die Familie Demirören zu | |
verkaufen, von der man weiß, dass sie Erdoğan hörig ist. Kurz nach der | |
Übernahme wurden viele Milliyet-Redakteure und -Kolumnisten gefeuert. Doch | |
der entscheidende Schlag gegen Doğan ließ noch bis 2018 auf sich warten. | |
Dazu weiter unten mehr. | |
Die Zaman-Gruppe und die Koza Holding besetzten das andere Ende des | |
politischen Spektrums: Beide waren mit dem Prediger Fethullah Gülen | |
assoziiert, dem Oberhaupt einer weit verzweigten islamischen Bewegung, die | |
viele ihrer Anhänger im Staatsapparat und in der Justiz untergebracht | |
hatte. Und zwar mit Unterstützung Erdoğans, der seit Beginn der | |
AKP-Herrschaft ein politisches Bündnis mit Gülen eingegangen war, weshalb | |
die von ihm kontrollierten Mediengruppen die Erdoğan-Regierung in den | |
ersten Jahren rückhaltlos unterstützten. | |
Doch das Bündnis Erdoğan/Gülen wurde durch gegenseitiges Misstrauen | |
ausgehöhlt: Beide Männer vertraten in einigen innen- und außenpolitischen | |
Fragen unterschiedliche Positionen, obwohl beide aus demselben tief | |
religiösen Segment der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft stammen. | |
Der endgültige Bruch erfolgte Ende 2013. Auslöser waren zwei juristische | |
Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Machtmissbrauch unter der | |
Erdoğan-Regierung. Das erste betraf die Umgehung der Sanktionen gegen Iran | |
durch türkische Banken, das zweite undurchsichtige Kontakte mit al-Qaida. | |
Beide Geschichten schlugen wie eine Bombe ein. In den Medien waren die | |
Ermittlungen das große Thema, wobei sich die Gülen-Zeitungen besonders ins | |
Zeug legten. | |
## Erzfeind Gülen | |
Allerdings war die Gülen-Bewegung der türkischen Gesellschaft mittlerweile | |
so suspekt, ja geradezu verhasst, dass sie politisch isoliert und damit | |
angreifbar wurde. Als dann die übrigen Medien aus taktischen und | |
ideologischen Gründen aufhörten, umfangreich über die Skandale zu | |
berichten, war dies für Erdoğan ein „Geschenk Gottes“. Er verfolgte | |
weiterhin das Ziel, die traditionellen wie die digitalen Medien einer | |
Zensur zu unterwerfen, vollzog zugleich aber einen strategischen Schwenk | |
und schmiedete ein politisches Bündnis mit seinen ehemaligen Feinden: dem | |
kemalistischen und dem ultranationalistischen Lager. | |
Da Erdoğans Erzfeind nunmehr Gülen hieß, war es nur logisch, ein Bündnis | |
mit dessen Feinden zu schmieden. Ab 2014 war Erdoğans zentrales Ziel die | |
Zerschlagung der gülenistischen Medien. Dabei war ihm bewusst, dass seine | |
neuen Verbündeten (die alten Feinde) sich damit nicht begnügen würden. Denn | |
die säkularen Nationalisten hatten es auch auf die verhassten liberalen, | |
pazifistischen und prokurdischen Medien abgesehen. Die Anti-Gülen-Kampagne | |
ging also einher mit der Einebnung der gesamten Medienlandschaft, mit der | |
Folge, dass seitdem auch verschiedene Segmente der kritischen Medien | |
abgeräumt wurden. | |
Dann kam der 16. Juli 2016, der Erdoğan sein zweites und ultimatives | |
„Gottesgeschenk“ bescherte. Nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs | |
konnte er zum „Gnadenstoß“ ansetzen und mittels Dekreten und personellen | |
Umbesetzungen sowohl die Medien als auch die Justiz gefügig machen. Mit der | |
Schließung kritischer Medien wurden häufig auch deren digitale Archive für | |
immer gelöscht. | |
Nachdem der Autokrat im April 2017 mittels eines Verfassungsreferendums ein | |
„Super-Präsidialsystem“ etabliert hatte, stand seinem Ziel nur noch ein | |
Hindernis im Weg: die Doğan-Media-Gruppe. Zu ihr gehörten zwei | |
einflussreiche Fernsehsender und die führende Tageszeitung Hürriyet, die | |
hohe Werbeeinnahmen erzielte, da ihre Auflage rund 40 Prozent der gesamten | |
türkischen Printauflage ausmachte. | |
## Hürriyet in AKP-Hand | |
Politisch und finanziell unter Druck gesetzt, musste Aydin Doğan am Ende | |
kapitulieren. Seine Mediengruppe, deren politische Einschätzungen und | |
Bewertungen die öffentliche Meinungsbildung und die türkische Innenpolitik | |
über Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst hatte, wurde 2018 an die AKP-nahe | |
Familie Demirören verkauft. | |
Was zurückbleibt, ist eine verwüstete türkische Medienlandschaft und ein | |
Journalismus, der ums Überleben kämpft. Heute wird das ganze Land | |
systematisch falsch informiert oder ganz im Dunkeln gelassen. Eine | |
pluralistische öffentliche Debatte findet praktisch nicht mehr statt. Und | |
die Propaganda- und Medienmaschinerie des Regimes hat den Aufstieg eines | |
offensiven Nationalismus und eines aggressiven Islamismus gefördert. | |
Nachdem Erdoğan die traditionellen Medien zerstört hat, treibt er den | |
Onlinejournalismus und die sozialen Medien immer weiter in die Enge. Sein | |
rastloser Kampf richtet sich gegen einen ehrenwerten Beruf, der | |
unverzichtbar ist. Jedenfalls dann, wenn es in der Türkei auch künftig noch | |
eine demokratische Opposition geben soll – und eine Basis, von der aus die | |
Gesellschaft zur Demokratie zurückfinden kann. | |
Allerdings scheinen die Aussichten auf eine solche demokratische | |
Entwicklung zunehmend düster. | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
Dieser Text erschien zuerst in der Edition Le Monde diplomatique, No. 29. © | |
LMd, Berlin | |
24 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2021 | |
[2] /Tuerkei-Putsch/!5327477 | |
[3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5630535 | |
[4] /Kommentar-Proteste-in-der-Tuerkei/!5062772 | |
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Yavuz Baydar | |
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