| # taz.de -- Sexarbeiterin über Feminismus und Rechte: „Wer hat hier die Kont… | |
| > Die 61-jährige Janet Mérida arbeitet als Prostituierte in Barcelona. Dort | |
| > hat sie das Kollektiv der „empörten Prostituierten“ gegründet. | |
| Bild: Protest von Sexarbeiterinnen in Barcelona | |
| taz: Janet, euer [1][Kollektiv, die prostitutas indignadas, also die | |
| „empörten Prostituierten]“, setzt sich für die Rechte von | |
| Sexarbeiter:innen ein. Gleichzeitig kritisiert ihr die feministische | |
| Bewegung – warum? | |
| Janet Mérida: Aus dem Feminismus ist eine kapitalistische Marke geworden. | |
| Jahrhundertelang haben wir ohne Lohn gearbeitet, der 8. März wurde zu einem | |
| Tag, an dem sichtbar gemacht wird, dass wir Frauen wichtige Arbeit machen, | |
| dafür aber am wenigsten wertgeschätzt werden. Heute findet die | |
| feministische Bewegung Ausdruck in politischen Ideologien, die das Konzept | |
| des Feminismus verwässern. Die Bewegung verliert ihren Charakter als | |
| Bewegung der Inklusion. | |
| Was bedeutet das? | |
| Der Feminismus braucht eine Katharsis. Die Privilegierten müssen für die | |
| Marginalisierten aufstehen und ihre Roma-Schwester, ihre migrantischen, | |
| ihre nichtbinären, ihre trans Schwestern, ihre Hurenschwestern verteidigen. | |
| Das wäre für mich ein wahrer Feminismus. Eine Person, die ihre Privilegien | |
| nutzt, um jene zu schützen, die keine Privilegien haben. Vielleicht ist es | |
| eine Utopie. Aber wenn ich keine machistische Gewalt akzeptiere, muss ich | |
| auch keine feministische Gewalt akzeptieren. | |
| Feministische Gewalt? | |
| Der weiße, europäische, akademische Feminismus macht feministische | |
| Minderheiten unsichtbar. Dabei sind wir die, die jeden Tag kämpfen müssen, | |
| um in einem System zu überleben, in dem wir nur eine Nummer sind. Wir | |
| Frauen haben die Macht verloren, über unseren Körper zu entscheiden. Wenn | |
| ich von Frauen sprechen, ist es gleich, ob sie eine Vagina oder einen Penis | |
| haben, ob sie binär sind. Es geht darum, wie die Gesellschaft dich liest, | |
| wie sie deinen Körper als Frauenkörper liest, und wie die Gewalt des | |
| Patriarchats sich auf uns auswirkt. Der Feminismus nutzt Strategien des | |
| Patriarchats, um Minderheiten unsichtbar zu machen. Auch uns als | |
| Sexarbeiterinnen. Aber in einem kapitalistischen System müssen wir alle | |
| arbeiten – niemand arbeitet aus Liebe zur Kunst. Wir arbeiten alle für ein | |
| Dach über dem Kopf. | |
| Du spielst auf Teile der feministischen Bewegung an, die Sexarbeit | |
| abschaffen wollen. Immerhin ist es ein umstrittenes Thema, in Spanien noch | |
| viel stärker als in Deutschland. [2][Die Gleichstellungsministerin Irene | |
| Montero von der linken Podemos ist eine sogenannte Abolitionistin], die | |
| Sexarbeit abschaffen will. | |
| Genau, es geht um die Konfrontation von Macht. Aber neben denen, die die | |
| Macht haben, ihre Ideen vorstellen zu können, gibt es noch eine Gruppe: | |
| Die, die im Schlamm liegen, die Seite an Seite für Rechte kämpfen. Das sind | |
| nicht die Privilegierten. Die treibende Kraft der Revolution kommt nicht | |
| von den Politiker:innen oben, sondern vom Volk, das sich selbst | |
| organisiert hat und nicht mehr unterdrückt werden will. Und wenn die | |
| Gleichstellungsministerin wirklich denkt, dass die Prostitution, wie sie | |
| sagt, geschlechterspezifische Gewalt ist, sollte sie das patriarchale | |
| System zerstören und wirklich feministische Politik machen, bei der das | |
| Leben aller im Mittelpunkt steht. | |
| Katalonien hingegen war in der Bewegung vom 8. März die einzige Region, die | |
| die Rechte der Sexarbeiterinnen gefordert und anerkannt hat – und sich | |
| damit gegen die Regierung gestellt hat. | |
| Ja, aber es gibt auch hier viele Lager. Es gibt Leute, die glauben, dass | |
| die Männer uns bezahlen, um uns vergewaltigen zu dürfen. Und dass wir das | |
| machen, weil wir so arm sind und sonst keine Mittel haben, es nicht besser | |
| wissen und so vom Patriarchat indoktriniert sind. Und das könnte nicht | |
| ferner der Realität sein! Du stehst hier auf der Straße, da kommt ein Typ | |
| und sagt: Ich will Sex mit dir haben. Dann gibst du ihm einen Preis. Du | |
| sagst, wie lange und welche Bedingungen du hast, was du machen oder nicht | |
| machen willst. Und bevor du die Unterhose ausziehst, muss der Typ dich | |
| bezahlen. Wo ist da die Gewalt? Wer hat hier die Kontrolle? | |
| Sexarbeit ist für dich also eine Art, die Kontrolle über den eigenen Körper | |
| im patriarchalen System zu erlangen? | |
| Ja, Hure zu sein, ist ein Weg, dem Bestehenden etwas entgegenzusetzen. Wir | |
| Frauen haben in diesem System die Pflicht, moralisch zu handeln, ethisch | |
| darauf zu achten, dass die anderen uns als gute Frauen wahrnehmen. Wir | |
| müssen dazu bereit sein, uns für andere zu opfern. Und es wird nie | |
| berücksichtigt, was wir eigentlich brauchen. | |
| Ihr kämpft also mit euren Körpern. | |
| Unser Körper ist das einzige Werkzeug, das wir haben, um zu kämpfen. In | |
| allen Kämpfen. Nicht nur in den feministischen, sondern auch in den Kämpfen | |
| der Arbeiter:innenklasse. | |
| Wie bist du dazu gekommen, Sexarbeiterin zu werden? | |
| Ich bin vor 40 Jahren aus Uruguay nach Barcelona gekommen. Mit 25 habe ich | |
| dann aus finanziellen Gründen mit der Sexarbeit angefangen. Alle wollen | |
| Huren wieder in die Gesellschaft eingliedern. Aber wenn ich zur Bank gehe, | |
| ist es ihr egal, woher das Geld kommt. Arbeit ist Arbeit. | |
| Welche Entwicklungen hast du in dem Beruf in der langen Zeit gemacht? | |
| Ich habe in einer Bar angefangen, dann habe ich in Wohnungen gearbeitet, | |
| danach war ich auch auf dem Strich. Vor zwanzig Jahren bin ich dann hier | |
| gelandet. | |
| Warum bist du ausgerechnet hierhergekommen, auf den Straßenstrich im armen | |
| und multikulturellen Altstadtviertel Raval? | |
| Ich musste das Familienleben und den Beruf unter einen Hut bringen. Auf dem | |
| Straßenstrich ist die Missbilligung besonders groß, man ist am | |
| auffälligsten. Wir sind stark stigmatisiert, weil man glaubt, dass die | |
| Huren auf der Straße alle Drogenabhängige und Alkoholikerinnen sind. | |
| Dennoch wurde mir hier klar, dass ich freier arbeiten kann als anderswo. | |
| Was du verdienst, verdienst du für dich. Über viele Jahre hinweg hatte ich | |
| für Unternehmer gearbeitet, die sich an mir bereicherten. Sie bekamen 50 | |
| Prozent meiner Einnahmen, so ist das System in Spanien – der patron | |
| (Zuhälter, aber weniger negativ konnotiert; Anm. d. Red.), bekommt die | |
| Hälfte der Einnahmen, wenn du in einem Club arbeitest. | |
| Wie viel hast du denn verdient? | |
| Umgerechnet etwa 18 Euro in zwanzig Minuten. Im Jahr 1985 habe ich also | |
| fast so viel verdient wie der Präsident – eine Millionen Peseten im Monat. | |
| Aber davon musste ich 50 Prozent abgeben. Und um in der Gesellschaft | |
| sichtbar zu sein, musste ich ein Doppelleben führen. Die Gesetze für | |
| Sexarbeit erlaubten mir nicht, offiziell Geld zu verdienen. Ich brauchte | |
| also einen Job mit Gehaltszettel. Tagsüber als Putzfrau, nachts als Hure. | |
| Mit 30 merkte ich dann, dass Clubs nichts mehr für mich waren, und fing an, | |
| in Privatwohnungen zu arbeiten und mit 40 dann hier. | |
| 2006 gab es eine neue Verordnung, die zum Ziel hatte, die Sexarbeit von der | |
| Straße zu verdrängen. Überwachung durch Polizei, die Bußgelder verhängte, | |
| führten dazu, dass die Sexarbeiter:innen nicht mehr rauskonnten. Eure | |
| Organisierung als prostitutas indignadas hat maßgeblich dazu beigetragen, | |
| dass diese Verordnung nicht mehr durchgesetzt wird. | |
| Ja, ich sah mich in meiner privilegierten Position in der Pflicht, dem | |
| entgegenzutreten. Zum einen aus Verantwortungs- und Pflichtgefühl, zum | |
| anderen, weil ich den politischen und polizeilichen Machtmissbrauch, den | |
| wir erlebten, nicht zulassen konnte. Wir haben erreicht, dass die | |
| Sicherheitskräfte uns nicht schikanieren und beleidigen. Wir haben | |
| erreicht, dass sie keine Bußgelder verhängen. Wir haben die Huren von der | |
| Straße auf die politische Agenda gesetzt. Es gibt kein anderes Kollektiv, | |
| das das erreicht hat. | |
| 2 Jun 2021 | |
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| [1] https://prostitutasindignadas.wordpress.com/ | |
| [2] /Gesetz-gegen-Gewalt-gegen-Frauen/!5727410 | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Ulrich | |
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