# taz.de -- New-Orleans-Album von Dawn Richard: Die zweite Linie feiert das Leb… | |
> Dawn Richard hat ein neues Album veröffentlicht. Es beamt Traditionen der | |
> afroamerikanischen Community in die Zukunft. | |
Bild: Kommt ganz schön rum: Dawn Richard | |
Den Menschen eine afrofuturistische Welt nahezubringen fällt schwer, wenn | |
sie nicht wissen, was der ‚Afro‘-Anteil daran ist. Auf meinem Album füllt | |
ihn meine Mutter aus.“ So bringt die US-Elektronikproduzentin und Sängerin | |
Dawn Richard das Thema ihres aktuellen, sechsten Soloalbums auf den Punkt. | |
Besser gesagt: ein Thema. Denn „Second Line: An Electro Revival“, so der | |
Titel, kann nicht auf einen einzigen Aspekt reduziert werden. | |
Neben ihrer Mutter spielt New Orleans eine Hauptrolle in den Songs. Schon | |
der Titel ist eine Hommage an die Stadt, in der Dawn Richard geboren wurde, | |
aufgewachsen ist und in der sie heute wieder teils lebt. „Second Line“ | |
bezieht sich unter anderem auf eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert | |
zurückreicht. | |
Damals erlaubten die Kolonialmächte, zunächst Spanien, dann Frankreich und | |
später Großbritannien, in New Orleans versklavten Schwarzen Menschen, | |
sonntags auf dem heutigen Congo Square gemeinsam Musik zu spielen und zu | |
tanzen. Traditionen aus Europa und Westafrika flossen bei diesen | |
Zusammenkünften ein, die zu Paraden mit Musik, Kostümen und Tänzen wurden | |
und die auch bei Begräbnissen durch die Straßen zogen. | |
## Zur Beerdigung tanzen | |
Mit dem Aufkommen von Jazz, Ende des 19. Jahrhunderts, bekamen diese | |
Beerdigungen auch die Bezeichnung „Jazz Funerals“. Bei Paraden – egal zu | |
welchem Anlass – folgt auf die Band der vorderen Reihe die „second line“, | |
eine Gruppe Tanzender. Hier spielen zwei Drums springende Rhythmen, die | |
unter anderem auf dem Tresillo aufbauen, einem Rhythmus, der noch heute bei | |
Reggaeton und Dancehall Kernelement ist. Das Spiel der Drums wird auch | |
„second lining“ genannt und inspirierte Ende der 1960er Jahre unter anderem | |
lokale Soul- und Funkbands wie The Meters zu ihrem charakteristischen | |
Breakbeat. | |
Teil von Dawn Richards Songs sind zudem Ausschnitte von Aufnahmen ihrer | |
Mutter. Sie spricht darin über New Orleans, über die Liebe und darüber, wie | |
sie eine Frau aus Louisiana beschreiben würde. „I’m a creole girl“, sagt | |
die Mutter an einer Stelle. Damit ist sie Vorbild für die künstlerische | |
Figur auf dem Cover des Albums: King Creole. „Creole“ bezeichnet – als ei… | |
von verschiedenen möglichen Bedeutungen – Menschen, die in Louisiana | |
geboren wurden, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft der Vorfahr:Innen. | |
Beim Namen „King Creole“ kommen Erinnerungen an den gleichnamigen Film mit | |
[1][Elvis Presley] von 1958 (deutscher Titel „Mein Leben ist der Rhythmus“) | |
auf. In dem Musical-Drama spielt Elvis einen hoffnungslosen Schüler, der | |
zum Star des Nachtclubs „King Creole“ in New Orleans wird. Damit wurde ein | |
prägendes popkulturelles Bild von King Creole geschaffen, das auch ein | |
Abbild der Segregation in den USA der 1950er Jahre ist: Danny, der von | |
Presley gespielt wird, performt mit einer Band, bestehend aus weißen | |
Musikern vor weißem Publikum. | |
## Non-binärer King Creole | |
Dawn Richards King Creole ist eine Umdeutung dieser populären Figur. „King | |
Creole ist nicht-binär. Sie kann weiblich sein, männlich oder etwas | |
anderes. Sie ist Mensch und Android. Sie ist das neue Ideal eines Wesens, | |
das Kunst schafft und damit das Ende der alten Vorstellung vom | |
Mainstream-Künstler.“ Das dominante Bild dieses Künstlers ist heute nach | |
wie vor weiß und männlich, auch wenn sich das allmählich zu ändern scheint. | |
„In der elektronischen Musik bekommen weiße Männer am meisten | |
Aufmerksamkeit“, glaubt Richard. „Schwarze Menschen, besonders schwarze | |
Frauen, werden oft übersehen. Es gibt zwar Kaytranada, [2][Thundercat], | |
Flying Lotus und so weiter. Aber wenn man als schwarze Frau in diesem Feld | |
arbeitet, gilt man als ‚Alternative-R&B-Künstlerin‘, weil Leute nicht | |
begreifen, dass man elektronische Musik macht. Es ist ein ewiger Kampf, zu | |
zeigen, dass es uns gibt.“ | |
Bis heute vertritt Dawn Richard die Rolle als Elektronikproduzentin mit | |
Nachdruck. „Ich hoffe, dass ich eines Tages nicht mehr betonen muss, dass | |
ich eine schwarze Künstlerin bin, die elektronische Musik macht“, erklärt | |
sie. „Aber bis dahin ist es wichtig. Man muss es Menschen einhämmern, bis | |
es selbstverständlich wird – dann können wir die Bezeichnungen weglassen | |
und einfach sein, wer wir sind.“ So unnachgiebig diese Worte klingen, Dawn | |
Richard strahlt Gelassenheit aus, wenn sie dies ausspricht. | |
Mit Anfang 20 wurde sie Teil der vom New Yorker HipHop-Produzenten [3][Sean | |
„P Diddy“ Combs] gecasteten Band Danity Kane und zum Popstar. Das war 2005, | |
im gleichen Jahr als der Hurrikan „Katrina“ New Orleans und die Existenzen | |
vieler seiner Einwohner:Innen zerstörte. „Meine Karriere hat begonnen, | |
als ich meine Stadt verloren habe“, sagt sie. Nach der Auflösung von Danity | |
Kane, 2009, arbeitete Richard als Teil des Songwriting-Teams Diddy-Dirty | |
Money weiter mit Combs. 2013 startete sie ihre Solokarriere mit dem Album | |
„Goldenheart“, das auf ihrem eigenen Label Our Dawn Entertainment erschien. | |
## Selbstbestimmter Karriereweg | |
Es war der Anfang ihres selbstbestimmten Weges. Vom Popstar über die | |
R&B-Künstlerin entwickelte sie sich zur Elektronikproduzentin, die mit | |
verschiedenen Formen von Footwork über Dubstep bis Electronica | |
experimentiert und unter anderem mit der US-Indieband [4][Dirty Projectors] | |
zusammengearbeitet hat. Selbstermächtigung ist auch in den Songtexten auf | |
„Second Line: An Electro Revival“ ein bestimmendes Motiv. In den Tracks | |
geht es aber weniger explizit um gesellschaftspolitische Fragen und | |
Benachteiligung in der Musikindustrie. Richard stellt zwar hin und wieder | |
ihre Überlegenheit gegenüber Konkurrent:Innen heraus. Überwiegend aber | |
singt sie über Liebe und Sex, fordert selbstbewusst Nähe, das Feiern | |
körperlicher Lust, auch als Teil von Musikkultur. | |
Auf „Second Line: An Electro Revival“ klingt Bounce als Klangsignatur an, | |
eine schnelle, in New Orleans gängige Rap-Variante, die mit | |
Call-and-Response-Schemen an Mardi Gras, die lokale Ausprägung des | |
Karnevals, anknüpft. Auch Brassbands sind Teil des Albums, wenn auch kein | |
offensichtlicher: Statt Klänge solcher Arrangements von Bläsern | |
einzubringen, hat Richard versucht, deren musikalische Strukturen in | |
elektronische Musik zu übersetzen. Als weitere Anknüpfungspunkte nennt sie | |
zudem Downbeat wie von Portishead, Funk wie von George Clinton und | |
Bassmusik aus Großbritannien. | |
## Geschickt aufgefächert | |
Richards Musik ist geschickt arrangiert, oft beginnt ein Track mit | |
schnellen, von House inspirierten Elementen und fächert den Sound dann | |
stilistisch weiter auf. Als Vorbild nennt Richard auch Larry Heard, eine | |
der prägenden Figuren von Chicago House. „Seine Tracks fühlen sich manchmal | |
nach Trance an und atmen zugleich Jazz und Soul. Manche denken, dass | |
elektronische Musik nur Dance Music ist, aber sie kann viel mehr. Deshalb | |
habe ich mein Projekt auch ‚Electro Revival‘ genannt. Es geht um | |
elektronische Musik und um ein Revival im Sinn einer neuen Blüte. Es ist | |
wie ein Soul Movement. Ich will zeigen, dass beides zusammenkommen kann und | |
ich finde, Künstler wie Larry Heard beweisen das.“ | |
Auf ihrem neuen Album gelingt es Dawn Richard, sich in Traditionslinien zu | |
stellen und gleichzeitig von den Normen abzuweichen. Das Streben nach | |
Veränderung, nach der Auflösung von Kategorien zum unbeschriebenen Sein, | |
charakterisiert die Kunst von Dawn Richard. Bei ihr steht King Creole auf | |
den Trümmern eines postapokalyptischen New Orleans und weist in eine | |
Zukunft, in der Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Mann und Frau | |
aufgelöst sind. „Sie vereint all diese verschiedenen Dinge und führt Wesen | |
an, die keine Zuschreibungen mehr wie beispielsweise race haben. Aber die | |
Wahrheit ist, dass es nicht perfekt sein wird“, betont Richard. | |
„Ich mag das Perfekte nicht. Ich will das Verletzte, Verbrannte. Weil ich | |
es erlebt habe. Ich habe auf dem Boden geschlafen. Ich habe harte Sachen | |
gesehen. Also muss ich es glaubwürdig vermitteln. Aber ich erkenne auch | |
Schönheit und wie Menschen zusammen Neues erschaffen können. Also sieht man | |
im postapokalyptischen New Orleans zwischen den Trümmern und Betonruinen | |
Bäume und Pflanzen wachsen – und damit neue Schönheit, die aus dem Kaputten | |
entsteht.“ | |
„Second Line“ ist auch in diesem Sinn mehr als nur ein Albumtitel. Seine | |
Botschaft lautet: Wir machen weiter. Als „Feier des Lebens“ bezeichnet Dawn | |
Richard eine „Second Line“. Die tanzenden Menschen können als Widerstand | |
gegen einen lähmenden Tod gesehen werden, als Widerstand gegen bedrängende | |
Lebensumstände. „Wenn Leute dieses Album hören, können wir eine Second Line | |
um die ganze Welt bilden“, sagt sie. „Alle können Teil dieser Bewegung | |
werden und sich gesehen fühlen.“ | |
14 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Weichenrieder | |
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