# taz.de -- Neues Album von Dave Longstreth: Vibrierende Produktivität | |
> Die Gitarren sind zurück, in all ihren Facetten. Nach dem überragenden | |
> Dirty-Projectors-Album veröffentlicht Longstreth jetzt „Lamp Lit Prose“. | |
Bild: Meister des musikalischen Hakenschlagens: Dirty Projectors | |
Aus einem tiefen Graben schallten die Töne des letzten, vor etwas mehr als | |
einem Jahr erschienenen Albums der Dirty Projectors heraus. Es hieß wie die | |
Band selbst, die zu dem Zeitpunkt keine funktionierende Band mehr war. | |
Songs wie die bitterböse, entmenschlichte Ballade „Keep Your Name“ | |
zersägten die Beziehung des Bandgründers David Longstreth mit seiner | |
Ex-Freundin Amber Coffman. | |
Getrennt hatte er sich nicht nur von seiner Geliebten, sondern auch von | |
einem langjährigen Bandmitglied. Coffman war fast zehn Jahre Teil von Dirty | |
Projectors gewesen, ebenso Bassistin Angel Deradoorian. Mit ihrem | |
Harmoniegesang hatten sie den Sound der Band maßgeblich geprägt. | |
Longstreths letztjähriges Album, das mit dem Verlust seiner Sängerinnen | |
auch den Verlust der stimmlichen Interaktion wettmachen musste, war auf | |
raffinierte Weise stimmgetrieben: durch Modulation seiner eigenen. | |
Erstmals habe er bei den Aufnahmen die Stimme so richtig als Instrument | |
eingesetzt, sagte er vor einem Jahr der taz. | |
Auf dem neuen Album „Lamp Lit Prose“ dauert es genau 45 Sekunden, bis | |
Longstreth seine Stimme das erste Mal in unmenschliche Gefilde bringt. | |
Seine elektronisch verfremdete und die glasklare der Sängerin Syd wechseln | |
sich in „Right Now“ ab. „Das Schichten von Stimmen folgt genau dem Schema | |
wie zuletzt, doch ist es dieses Mal kollektiver“, erklärt Longstreth. „Ich | |
singe zusammen mit Freunden, mit neuen Kollaborateurinnen. Ich nutze das | |
Duett, um verschiedene Möglichkeiten der Stimme auszuprobieren.“ | |
## Die Feature-Gäste tragen keine Strophen bei | |
Auffällig ist, dass seine ausgesuchten Feature-Gäste oft nur im Refrain | |
oder der Bridge zur Geltung kommen: Syd, sonst beim Hip-Hop-Konglomerat Odd | |
Future zugange und bei The Internet, Fleet-Foxes-Mastermind Robin Pecknold | |
und die R&B-Avantgardistin Empress Of. Sie alle tragen keine Strophen bei | |
oder kommen selbst als KomponistInnen zur Geltung. | |
Dennoch sei ihr Beitrag essenziell, meint Longstreth. Amber Mark etwa sei | |
eine seiner Lieblingssängerinnen. „Sie zu einer Dirty-Projectors-Session | |
einzuladen eröffnet eine ganz neue Welt! Wie sie die Hook in ‚I Feel | |
Energy‘, nach oben bringt, ist einmalig: ‚Eeeenergy‘. So hat sie es | |
interpretiert, meine Stimme hat das nicht gemacht.“ | |
David Longstreth kommt von der US-Ostküste. Aufgewachsen auf dem | |
Selbstversorger-Hof seiner Eltern in New England (sein Job war die Aufzucht | |
der Hühner), hat er auch jetzt die Hand auf allem, was sein Studio | |
verlässt. Der 37-Jährige studierte Musik in Yale, brachte 2002 sein im | |
Schlafzimmer produziertes Debütalbum heraus. Darauf folgten acht Werke mit | |
Dirty Projectors, er schrieb mit Björk ein Konzeptalbum über Wale, | |
produzierte für US-Rapstar Kanye West und die R&B-Künstlerin Solange | |
Knowles. | |
Bis zum umjubelten letzten Album waren fünf Jahre vergangen, nun hat es | |
gerade mal eineinhalb Jahre gedauert, bis er neues Material zusammenhatte. | |
Die Wende, die Longstreth, der mittlerweile in L. A. lebt, vollzieht, | |
scheint auf den ersten Blick riesig: Von einem elektronischen, fokussiert | |
im Studio produzierten Album zu einer offenen, bunten und lichten Platte. | |
## Hochschraubende Dirty-Projectors-Chöre | |
Die Gitarren sind zurück, in all ihren Facetten: akustisch bezaubernd, | |
heulend elektronisch. Man erkennt die sich hochschraubenden, von weiblichen | |
Stimmen gesungenen Dirty-Projectors-Chöre wieder (etwa in „Zombie | |
Conqueror“). Damit erinnert „Lamp Lit Prose“ ganz entfernt an Alben wie | |
„Swing Lo Magellan“ (2012). Allerdings legt Longstreth noch einmal eine | |
Schippe voll mit Effekten und Instrumenten drauf. | |
Diese Vorgehensweise des kalkulierten Overloads deutete sich zuletzt schon | |
an. Etwa in „Cool Your Heart“ oder mit den Remixen, die er zu „Dirty | |
Projectors“ in Auftrag geben ließ. „Work Together“ hieß damals ein Song. | |
Das hat sich Longstreth nun zum Credo gemacht: Denn das neue Album soll | |
eine „Party“ sein, ein Zusammenspiel aus vielen Ideen von vielen Menschen. | |
Und darum gibt es jetzt auch wieder eine Band, in der nicht zufällig wieder | |
besondere Vokalistinnen versammelt sind. | |
Unter den neuen Mitgliedern sind nicht nur altbekannte Mitmusiker wie Nat | |
Baldwin (Bass) und Mike Johnson (Schlagzeug), sondern etwa auch die | |
Jazz-Sängerin Kristin Slipp, die bei den ersten Shows der „neuen“ Dirty | |
Projectors sowohl die unterschiedlichen Gesangsparts der neuen Platte | |
übernahm als auch diejenigen von Amber Coffman, die sie in den | |
unvergesslichen Songs etwa von „Swing Lo Magellan“ intoniert hatte. | |
Anders an „Lamp Lit Prose“ im Vergleich zum Vorgänger ist vor allem, dass | |
die Instrumente nicht am Computer produziert, sondern live im Studio | |
eingespielt wurden. „Ich habe mich dieses Mal wirklich auf das Arrangement | |
konzentriert, nicht wie zuletzt auf die Produktion“, sagt Longstreth. | |
## Die Kunst des musikalischen Hakenschlagens | |
Die „physischen Instrumente“ geben „Lamp Lit Prose“ seine Farbigkeit. | |
„Farbe“ ist ein Wort, das der Produzent und Musiker selbst immer wieder | |
benutzt, wenn er seine Musik beschreibt: „Es ist nicht so, dass ich | |
wortwörtlich Farben sehe, wenn ich komponiere, aber ich fühle mich mit der | |
Vorstellung eines Spektrums sehr verbunden. Es gibt warme, kalte, tonale | |
Farben. Sie liegen in den Akkorden und Klangfolgen.“ | |
Longstreth ist bekannt für Songs, die die unterschiedlichsten Wendungen | |
nehmen. Auf „Lamp Lit Prose“ perfektioniert er die Kunst des musikalischen | |
Hakenschlagens: Da folgen auf beschnipste Betten aus Akustikgitarren | |
energetische Bläserarrangements und hymnische E-Gitarren-Soli, dann | |
dominieren wieder betörende Retro-Synthesizer wie das Fender Rhodes E-Piano | |
und die Wurlitzer-Orgel. | |
Drums spielen eine größere Rolle, fehlen in manchen Songs aber auch ganz. | |
In einem Dirty-Projectors-Song stecken meist so viele Ideen, dass andere | |
Künstler daraus vier Songs komponieren würden. Genau so sei das Album auch | |
entstanden, er habe die Stücke aufgenommen, während sie sich entwickelten: | |
„Es war ein Moment von vibrierender Produktivität“, bekennt der Künstler. | |
All das manifestiert seinen Neuanfang: „Something sweet, something new“, | |
singt Longstreth in „Blue Bird“. Es könnte da auch eine neue Person in | |
seinem Leben geben, sagt er über die auffallende Positivität des Albums. | |
„What Is the Time“, „You’re the One“ und „Blue Bird“ sind perfekte | |
Liebeslieder. Aber nicht nur das sei entscheidend gewesen: „Die Musik | |
scheint vor Energie zu zerbersten. Es gibt zwar einen persönlichen Grund | |
dafür, aber es geht auch um die größeren Strömungen, die wir auf der Erde | |
wahrnehmen können. Wir müssen unseren Optimismus wiederfinden.“ | |
## Abgespacter Sound für College-Boys | |
„Lamp Lit Prose“ übrigens, der Albumtitel, ist nur halb so sinnig wie die | |
assoziativen Songtexte des Albums: Das sei ein Bezug zu Ovids | |
„Metamorphosen“, behauptet Longstreth erst, lacht dann: Nein, alles | |
Quatsch. „Lamp“, weil die Lampe hell sei, wie eben die Musik des Albums | |
auch. „Lit“, weil das Album eine Party sei (nur auf der wörtlichen Ebene | |
bedeutet das Wort „erhaben“ oder „erleuchtet“, „lit“ ist zugleich U… | |
für angeschickert). Und Prosa sei letztendlich einfach nur ein cooles Wort, | |
Literatur (für die „lit“ theoretisch auch stehen kann) sei immer gut. | |
David Longstreth nimmt sich also auch selbst auf den Arm. Er kennt den | |
Vorwurf, seine Musik sei elitär-abgespacter Sound für College-Boys mit | |
großer Aufmerksamkeitsspanne. Und er weiß auch, dass der Ansatz, mit einem | |
Album in bombastischen, fast anstrengenden Arrangements ungeschmälerte | |
Freude auszudrücken, Fans des letzten Albums vergraulen könnte. Aber so | |
optimistisch, wie es auf „Lamp Lit Prose“ klingt, ist ihm das auch egal, | |
schließlich ist das Album keine I-Message. | |
Und: Mit dem Finale des Albums „(I Wanna) Feel It All“ schafft er am Ende | |
sogar noch einen Song für die, die ihn wieder croonen hören wollen und | |
zähmt die ihn sonst umfliegenden Instrumente: Saxophone, Hörner und | |
Trompeten, Fender Rhodes und Wurlitzer sowie softe Percussion-Elemente | |
fügen sich jazzig und warm um seinen schlichten Gesang. | |
„Change is the only constant law“, singt Longstreth in „You’re the One�… | |
Eine Wahrheit, die er selbst bewiesen hat. | |
18 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Diviam Hoffmann | |
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