Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schriftstellerin Friederike Mayröcker: Disziplin und Ekstase
> Erst in der Striktheit der Formen greift Friederike Mayröcker ihren
> Lesern ans Herz. Die 96-jährige Autorin hat ihr Ohr an allem, was sie
> umgibt.
Bild: Friedericke Mayröcker beim Literataturfestival „O-Töne“ im Wiener M…
Worum geht es bei Friederike Mayröcker? Es geht um das Alter und die
Jugend, um Mann und Frau, es geht um Beziehungen, erste und letzte
Liebesgeschichten. Es geht um Befindlichkeiten und Empfindungen,
Wahrnehmungen und Erinnerungen.
Vor allem aber geht es darum, dass die heute [1][96-jährige Wiener Autorin]
in ihren bislang weit mehr als 100 Büchern ein unglaublich breites Spektrum
von je einzigartigen Sprachkörpern geschaffen hat. Gerade die letzten Bände
zeichnen aus unmittelbarer Gegenwart gleichsam eine jede Regung und einen
jeden Affekt der Schreibenden nach.
Entscheidend ist, dass diese Geflechte aus psychodynamischen Strömen nach
außen hin keinerlei Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie nach
ästhetischen Kriterien geformt sind. Das schiebt den Unsäglichkeiten
traditioneller Befindlichkeitsdiskurse hier von vornherein einen Riegel
vor. Die vielen Bücher der Autorin sind keine Haufen lose hingeworfener
Assoziationen. Ganz im Gegenteil: Erst in der Striktheit, mit der hier
Formprinzipien eingelöst werden, greift Mayröcker ihrer Leserschaft ans
Herz.
## Vorstellung von ästhetischer Autonomie
Auch die Offenheit dieser Texte und die Wandlungsfähigkeit der Formen von
Buch zu Buch sind keine Resultate von Beliebigkeit. Offenheit ergibt sich
bei Mayröcker immer vor dem Hintergrund einer überaus klaren und
vorausgängigen Vorstellung von ästhetischer Autonomie. Ohne diese Autonomie
wären die Texte nichts, ohne Disziplin gibt es keine Ekstase.
Woher kommt das? Ein Restbestand avantgardistischer Vorstellungswelten hat
sich hier erhalten. Nämlich die Erkenntnis, dass das Schreiben selbst
nichts anderes als eine Handhabung von sprachlichem Material ist.
In der jahrzehntelangen Praxis ihres Schreibens hat die Autorin die
Erfahrung gemacht, dass dieses Material nun aber (und anders als manche
Theoretiker der Avantgarde sich das vorgestellt hatten) kein klinisch
isolierter oder etwa auch frei manipulierbarer Gegenstand ist. Nein: Das
Sprachmaterial selbst besitzt für Mayröcker im Schreiben eine Art von
körperlicher Lebhaftigkeit.
## Psychocollagen und Psychomontagen
Verfahren der Avantgarde wurden adaptiert: Aus Collage und Montage sind
Psychocollagen und Psychomontagen geworden. Auch an den vielen Worten,
Wendungen und Sätzen, die Mayröcker, indem sie permanent exzerpiert und
sammelt, in einer textuellen Fremde findet, hängt bei ihr immer etwas
Eigenes dran. Mit ihren Quellen treibt Mayröcker ein Spiel: Manchmal
verbirgt sie sie, oft zitiert sie exakt, insgesamt aber sind das alles nur
Absprungrampen der eigenen Fantasie.
Vom Prozess des Schreibens berichtet Mayröcker in ihren Büchern
allerkleinste Einzelheiten: Sprachfetzen fangen zu bluten an; beschriftete
Zettelchen verkleben Wunden, die die Autorin sich im Schreiben schlägt.
Zwei Haare, die ausgefallen und am Waschbecken gelandet sind, zeichnen in
sich als eine Art Hoffnungsschimmer das stenografische Kürzel für „doch
noch“ nach. Der im Entstehen befindliche Text ist wie ein Teig, der
verderben kann, wenn man ihn zu lange stehen oder gehen lässt. Auf die
Eigendynamik des Sprachkörpers ist im Schreiben jederzeit Bedacht zu
nehmen.
Auch der neueste Prosaband „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“
hat seinen selbstverständlichen Ausgangspunkt in der poetischen
Gesamtexistenz der Autorin: „Man fragt mich was ist der Inhalt nämlich
Schlepptau des neuen Buches“, ist darin zu lesen.
## Prosa und Poesie
Alte Fragen, neue Antworten: Schon der Titel dieses Buches entschlägt sich
einer jeden Begrenzung, fliegt über grammatikalische Satzgrenzen hinweg und
setzt den Punkt dorthin, wo er will. Auch kreuzt dieser Titel gleich von
vornherein Prosa und Poesie, ganz so, als ob er sagen möchte: Jetzt
akzeptiert die Mayröcker keinerlei Einschränkungen mehr.
Es ist auch das poetische Programm von Ernst Jandl, ihrem im Jahr 2000
verstorbenen Lebensgefährten, dem Mayröcker damit folgt. Jandl hatte die
Arbeit an der Dichtung einst als eine sukzessive Ausbreitung von Freiheit
definiert. Befreit von allen Lasten, die der Literatur von Rezeption und
Leserschaft auferlegt sein mögen, klärt Mayröcker die Inhaltsfrage: „Ich
sage ‚verzage nicht!‘ und sehe aufs Wintermeer hinaus, es geht um NICHTS
und es geht um ALLES, vielleicht polyphon, es geht um Sensationen = ich
meine Empfindungen.“
Eine These: Wahrscheinlich könnte man sich ein Buch wie das jüngste Werk
gar nicht vorstellen, wenn es die Literatur von Mayröcker nicht gäbe. Die
sprachlichen Möglichkeiten, die dieses Buch realisiert, und die Freiheit,
die es sich selbst verschafft, sind Produkte jahrzehntelangen Schreibens.
Nur im Schreiben kann man auf diese Formen gekommen sein.
## „Phantasien Tagträume“
Und letztlich sagt das Buch auch selbst am besten, worum es in ihm geht: um
„das böse Blut“, „das blaue Blut oder Herzblut“, um den „Knall der
Verliebtheiten, Vergeblichkeiten“, um „Phantasien Tagträume“, ein „ers…
Tränenvergießen“ am Morgen und vor allem geht es darum: mit „tausend Armen
die Sprache locken heranlocken etwa, Schulter an Schulter“.
Seit mehr als sieben Jahrzehnten lockt Mayröcker die Sprache. Sie ist bei
ihr eingefallen, die ganze Wohnung quillt von Sprachmaterial über. Im neuen
Buch ebnen sich Lyrik und Prosa vollkommen ein. Als „Proeme“ bezeichnet die
Autorin die fließende Form zwischen den Gattungen. „da ich morgens und
moosgrün. Ans Fenster trete“ ist ein einziges Proem, aber es gibt noch
Gliederung. Die einzelnen Einträge, meist ein bis drei Seiten lang, tragen
manchmal eine Titelzeile und zeigen auffällige Schriftbilder.
Übrigens macht es einen großen Unterschied, ob man diese Texte selbst liest
oder – im besten Fall – von der Autorin vorgelesen bekommt. Wenn Mayröcker
liest, wird alles zu einer unmittelbar wirkenden Stimme des Körpers. Bei
Lesungen kann man nachvollziehen, wie sehr die Autorin damit ihr Publikum
in den Bann schlägt.
Beim Selberlesen treten am Text die Marotten der Schreibung in den
Vordergrund: vom wohlbekannten „sz“ über die Kursivierung und
Großschreibung einzelner Worte bis hin zum spezifischen Gebrauch der
Satzzeichen. Hinter die einzelnen Texteinträge setzt Mayröcker jeweils ein
Datum, im neuen Buch reicht der Zeitraum von September 2017 bis November
2019.
## Wie ein überlaufendes Fass
Neu ist, dass der Text jetzt in vielen Fällen auch noch hinter diesen
Datierungen weiterläuft. Kleine Bemerkungen und Nachträge werden hinter die
Ziffern gesetzt. Der Text lässt sich durch nichts mehr begrenzen, er läuft
über, so wie ein Fass überläuft. Den Punkt als Endpunkt des Satzes hat
Mayröcker (außer im Titel) abgeschafft, Beistriche stehen am Ende der
Sequenzen und auch dabei doch immer mitten im Satz.
Das Wachstum des Textes ist potentiell ohne Ende, die Fantasie überbordend.
Animiert von Durs Grünbein imaginiert die Autorin eine Lesung auf dem Mond.
Beim Namen „Purkersdorf“ denkt sie an „Hirschkäfer“. Seltsame Wörter
durchziehen den Text: „Syringen“, das „Modewort nature-writing“, „PEN…
„Päonie“ aber auch „Vollholler“.
Mayröcker hat ihr Ohr an allem, was sie umgibt. Ist in ihrem Schreiben
stets gegenwärtig. Schnappt Wörter und Phrasen auf, verhört und verliest
sich. Hat im Schreiben kaum Zeit, manche Wörter auszuschreiben, setzt jg.
für jung, lg. für lang, kl. für klein, gr. für groß und frz. für
französisch.
## Gedanken schneller als Schreiben
Der Text gibt sich als eine Mitschrift von Gedanken, die schneller sind als
das eigene Schreiben. Aber noch vor dem Gedanken steht bei Mayröcker der
Satz, der ihn trägt. Mit lautlichen Anklängen wird das Heterogene geglättet
und mit poetischen Sirenentönen das Gesetzte verjagt.
Der Text heult auf, gibt sich jugendlich-ungestüm. Kommt er in einer
Wendung zur Ruhe, folgt sogleich der nächste sprachliche Sturm, das nächste
Capriccio, die nächste hochfliegende Wendung. Ein Changier-Bild entsteht:
das Porträt einer Dichterin, die an sich selbst alles preisgibt und die
Sprache, inmitten derer sie lebt, doch noch einmal auf ungeahnte
Himmelsbahnen katapultiert.
Wie kann in einem Text so viel Leben sein? Wie schafft es die Autorin, aus
der äußeren Ereignislosigkeit eines Lebens so viel zu machen? Die
Stofflosigkeit des Schreibens wird in diesem Buch zur eigentlichen
poetischen Sensation. Vielleicht könnte man sagen: Darum geht es.
28 May 2021
## LINKS
[1] /Nominierungen-fuer-Leipziger-Buchpreis/!5765017
## AUTOREN
Klaus Kastberger
## TAGS
Gedichte
Literatur
Buchpreis
Poesie
Shortlist
Suhrkamp Verlag
Deutscher Buchpreis
Literatur
Literatur
deutsche Literatur
Lyrik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Friederike Mayröcker ist tot: In Engelszungen schreiben
Für ihr aktuelles Buch wurde Friederike Mayröcker noch gefeiert. Nun ist
die Wiener Schriftstellerin im Alter von 96 Jahren gestorben.
Nominierungen für Leipziger Buchpreis: Jury macht Schotten dicht
Gute Bücher, aber eine fragwürdige Auswahl jenseits aktueller Debatten: die
Nominierten für den Leipziger Buchpreis wurden bekannt gegeben.
Neuer Gedichtband von Marcel Beyer: Kinderherz der Finsternis
Im Gedichtband „Dämonenräumdienst“ geht Marcel Beyer auf Geisterjagd. Dab…
erkundet das lyrische Ich die eigene Vergangenheit und begegnet Untoten.
Büchnerpreis 2020 für Elke Erb: Gniggerndes Lachen
Der Büchnerpreis geht an eine Poetin. Und jetzt lesen Sie bitte weiter,
auch wenn Sie Elke Erb noch nicht kennen. Es könnte sich lohnen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.