# taz.de -- Neuer Gedichtband von Marcel Beyer: Kinderherz der Finsternis | |
> Im Gedichtband „Dämonenräumdienst“ geht Marcel Beyer auf Geisterjagd. | |
> Dabei erkundet das lyrische Ich die eigene Vergangenheit und begegnet | |
> Untoten. | |
Bild: Marcel Beyer sucht die Abgründe: die seelischen und die sprachlichen | |
Marcel Beyer hat seine Literatur mal als „unablässiges Wechselspiel“ | |
bezeichnet, in dem der Autor den Abstand zwischen sich und der Welt immer | |
neu vermisst. Beyers literarische Arbeiten, sowohl Lyrik als auch Prosa, | |
sind daher auch keine auf Hochglanz polierten Textblöcke, sondern eher | |
fragile Gebilde, die Löcher aufweisen, Untiefen beschreiben, Räume öffnen. | |
Mehrstimmigkeit ist hier das zentrale Stilmittel, ein „Gegengift“, wie es | |
in seinem letzten Gedichtband „Graphit“ hieß, „gegen den ganzen | |
monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen | |
Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber“. | |
So heikel es ist, Literatur auf biografische Erfahrungen zurückzuführen, | |
für das Werk Beyers können sie aber auch ein Lektüreschlüssel sein. So | |
spielen die Wohn- und Schaffensräume Beyers eine wichtige Rolle: Oft ist er | |
umgezogen, hat im Ausland gelebt und gelehrt, und vielleicht haben die | |
vielen Eindrücke an den unterschiedlichsten Orten auch dazu beigetragen, | |
dass die literarische Offenheit zu seinem literarischen Programm wurde. | |
Geboren wurde Marcel Beyer 1965 in Tailfingen, einer 700-Seelen-Gemeinde im | |
Zollernalbkreis in Baden-Württemberg; aufgewachsen aber ist er in Kiel und | |
Neuss. Er studierte in Siegen, wohnte unter anderem in London, in Berlin | |
und seit 1996 im Dresdner Stadtteil Strehlen. Neben den Bezügen zu diesen | |
Orten ist auch die geistige Landschaft, in der sich Beyer verortet, wichtig | |
für das Verständnis seiner Texte, die von den Arbeiten Friederike | |
Mayröckers und vom französischen Nouveau Roman geprägt sind. | |
## „Reh im Innendienst“ | |
Collage, Zitat, Vielstimmigkeit sind wesentliche Merkmale, die beim | |
[1][Büchner-Preisträger des Jahres 2016] immer auch einen Echoraum für | |
deutsche Geschichte, aber auch für die Popkultur bilden. Der Witz bei all | |
dieser Ambition ist: Marcel Beyer gelingen trotzdem federleichte | |
Formulierungen, so auch im neuen Gedichtband mit dem schönen Titel | |
„Dämonenräumdienst“, der sich nicht nur mit merkwürdigen Untoten aus der | |
Unterhaltungsindustrie, sondern auch mit schlimmen Ungeheuern der Kindheit | |
beschäftigt. | |
Schon in den ersten Gedichten des Bandes geht es in das Kinderherz der | |
Finsternis. Bambi tritt auf, und der Dichter fühlt sich „als Reh im | |
Innendienst“. Das lyrische Ich erkundet die eigene Vergangenheit und damit | |
auch die Welt des Vaters, über den es heißt: „In meines Vaters Haus sind | |
viele / Wohnungen. Ich möchte keine / einzige von innen sehn. Parterre / | |
Steht man knöcheltief in Marzipan.“ | |
Es ist eine zähe und klebrige Masse der Erinnerung, durch die hier gewatet | |
wird. Vom Knabenchor geht es zum Dentallabor, und daheim, im „ersten Stock | |
/ greift einem etwas in den Schritt“. Marcel Beyer macht nicht den Fehler, | |
die Zumutungen, Ungeheuerlichkeiten und Übergriffe in der Kindheit | |
auszubuchstabieren. Mit wenigen Zeilen ist alles gesagt. „Geister sind das, | |
hier in deiner / Bude, deren letzte Winkel /die Tchibo-Taschenlampe nicht / | |
erfaßt.“ | |
Das dunkle Kinderzimmer wird „Blutbude“ genannt, etwas Freiheit und | |
begrenztes Glück gibt es nur außerhalb. Das Gefühl aber, dass an jeder Ecke | |
seltsame Figuren lauern, wird diese Dichterstimme, die an so vielen Orten | |
unterwegs ist, ein Leben lang nicht mehr los. | |
## In diesen Versen ist das Leben dem Tode nah | |
Der merkwürdige und schon zu [2][Lebzeiten ziemlich untote Modeschöpfer | |
Moshammer] („Ein Wort wie Baggerblut.“) trägt bei Beyer immer noch sein | |
Hündchen Daisy durch München, in „Köln, einer Stadt der Knochen / und | |
Kutten, mit Kopfsteinpflaster / zum Schädelknacken“ riecht und mieft es | |
auf mal betörende und dann wieder ekelhafte Weise. In diesen Versen scheint | |
das ganze Leben, wo auch immer es stattfindet, dem Tod nah zu sein: „Die | |
Tage gibt es, an denen man / als Zombie durch die Szene / wanken muß, über | |
den Wertstoffhof / am Rand der Stadt, bei zwei / Grad Außentemperatur, mit | |
Dunst / im Blick und kaltem Staub.“ | |
Genau vierzig Zeilen ist jedes Gedicht lang, in übersichtlichen | |
Viererpäckchen zusammengeschnürt. Der strenge Rahmen der fünf Zyklen im | |
„Dämonenräumdienst“ erinnert auf formaler Ebene an das Haus des Vaters, d… | |
es zu entkommen gilt. Nicht nur das ständige Umherziehen, sondern auch das | |
Schreiben, das „unterkühlt und lichterloh“ sein möchte, wird zur | |
Fluchtbewegung, die doch immer wieder von der Kindheit eingeholt wird: „[…] | |
ich schreibe diese Gedichte / wie ein Kind, das heimlich / tut und einfach | |
froh ist, wenn / niemand mit ihm schimpft.“ | |
Was Beyers sprachliche Such- und Fluchtbewegungen auszeichnet, ist die | |
schonungslose Offenlegung der lyrischen Perspektive, die keineswegs naiv | |
ist, in den besten Momenten aber eine kreativ-kindliche Lust am Sprachspiel | |
zeigt. Die Dämonen haben diesem Dichter den Schalk jedenfalls nicht | |
austreiben können: „Irgendwer sollte endlich einmal / HAAR auf GEFAHR | |
reimen, / oder GEFAHR auf ein keimiges / Rattansofa, und sei es / auch nur | |
um den Klang in den / Abgrund gleiten zu lassen.“ | |
## Poesie-Pirouetten in die Düsternis | |
Marcel Beyer sucht die Abgründe, die seelischen und sprachlichen. Zuweilen | |
ist es mühsam, dem Dichter auf allen Poesie-Pirouetten in die Düsternis zu | |
folgen. Einige Wortneuschöpfungen, manche Metaphern wirken auf eher | |
routinierte Weise verspielt. Insgesamt geht er ein hohes literarisches | |
Risiko ein, wenn er beispielsweise mit „Ginster“ Paul Celans Todesfuge | |
reformuliert. Der Tod ist hier kein „Meister aus Deutschland“, sondern ein | |
„Arschloch aus Strehlen“, der „mit seiner schwarzen Zunge / die Blüten d… | |
Ginsters berührt“. | |
Die Pflanze ist bekanntlich giftig. Wenn Beyer sie nun in den Vorgärten des | |
Dresdner Vorortes Strehlen üppig wachsen lässt und die Bildwelt der | |
Todesfuge paraphrasiert, dann ist das auch als politischer Fingerzeig zu | |
lesen, hat der Autor in zahlreichen Interviews doch oft auf den wachsenden | |
Alltagsrassismus in seiner Wahlheimat hingewiesen. | |
Im Titelgedicht, das in der Mitte des Bandes platziert ist, lässt Marcel | |
Beyer endlich den „Dämonenräumdienst“ kommen, der auch nötig ist, um die | |
vielen Untoten zu stellen, die in diesen Versen herumspuken. In gewisser | |
Weise ist Marcel Beyer so etwas wie ein Geisterjäger der deutschsprachigen | |
Lyrik, der weiß, dass die Ghostbusters der Poesie letzten Endes nicht | |
erfolgreich sein können. Denn kaum ist ein Zombie erkannt, vielleicht sogar | |
niedergestreckt, irren sensible Helden schon wieder „in einem anderen | |
Wald“. | |
27 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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